Verkirchlichung und Entkirchlichung – ein soziologischer Blick in die jüngere Geschichte
1. Einleitung
Verkirchlichung und Entkirchlichung gehören zu den soziologischen Prozessbegriffen, vor denen Hans Joas nicht ohne Grund warnt (vgl. Joas 2014). Sie leisten nicht selten unangemessenen Verallgemeinerungen und Vorstellungen von zwangsläufigen Entwicklungen Vorschub. Es kommt noch ein zweites Problem hinzu. Die Verwendung der beiden Begriffe krankt häufig daran, dass die Bezugsgröße, auf die sich die Prozessvorstellungen von Ver- und Entkirchlichung beziehen, im Unklaren bleibt. Um zu einem klaren begrifflichen Verständnis zu kommen, müssen drei mögliche Bezugsgrößen unterschieden werden. Die Begriffe von Ver- und Entkirchlichung können sich einmal auf die Gesellschaft als ganze beziehen. In diesem begrifflichen Verständnis geht es um die Verkirchlichung bzw. Entkirchlichung der Gesellschaft. In einem zweiten, für die neuere Religionssoziologie wichtigen Verständnis bezieht sich die Verkirchlichung nicht auf die Gesellschaft, sondern auf das Christentum. Hier geht es um Phänomene der Verkirchlichung des Christentums einerseits und des Rückzugs christlicher Sinnelemente aus Teilen der Gesellschaft andererseits. In der Christentumssoziologie Franz-Xaver Kaufmanns spielt die Konzeption der „Verkirchlichung des Christentums“ eine prominente Rolle (vgl. Kaufmann 1979, 100–104). Weniger in der Soziologie als in der zeitgeschichtlichen Forschung zum Katholizismus findet der Begriff der Verkirchlichung noch in einem dritten Verständnis Verwendung. Hier verweist der Rückgriff auf die Kategorie der Verkirchlichung auf Veränderungen in der Struktur des modernen Katholizismus in Richtung einer stärkeren amtskirchlichen Kontrolle der selbstorganisierten Formen des Engagements von Katholiken (vgl. Hürten 1986, 243–257). Im Folgenden möchte ich die Begriffe der Verkirchlichung und Entkirchlichung mit Blick auf alle drei Bezugsgrößen heranziehen und prüfen, welche Erkenntnisse und Einsichten sie jeweils angesichts der jüngeren Geschichte eröffnen. Dabei soll – der Kritik Joas’ folgend – die Vorstellung vermieden werden, es handele sich um zwangsläufige Prozesse, die ohne handelnde Akteure abliefen.
2. Verkirchlichung und Entkirchlichung der Gesellschaft
In der katholischen Kirche reicht die Vorstellung und Zielsetzung einer Verkirchlichung der Gesellschaft bis weit zurück in ihre Geschichte. Wie schon Ernst Troeltsch in den „Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ erkannte, legte die ekklesiologische Vorstellung der Verkörperung des Heils im Rahmen einer heilsnotwendigen Gnadenanstalt eine möglichst vollständige Durchdringung der Gesellschaft durch die Kirche nahe (vgl. Troeltsch 1923, 362–370). Im westlichen Christentum wurde eine radikale Konzeption der Verkirchlichung der Gesellschaft durch das gregorianische Reformpapsttum des 11. bis zum 13. Jahrhundert historisch wirkmächtig. Es löste gleichzeitig durch seine Intransigenz historische Gegenbewegungen aus, die am Ursprung gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse standen, wie sie nur das westliche Christentum hervorgebracht hat. In der Geschichte des westlichen Christentums sind die Prozesse der Verkirchlichung und Entkirchlichung der Gesellschaft auf historisch einmalige Weise dialektisch miteinander verbunden. Es lassen sich offensive und defensive Phasen des Verkirchlichungsdrangs unterscheiden. Die in der gregorianischen Reform gründende offensive Bewegung der Verkirchlichung der Gesellschaft schlug mit dem Verlust des kirchlichen Monopols in der Reformation und schließlich in der Sattelzeit der Moderne zwischen 1750 und 1850 in eine defensive Haltung gegenüber der modernen Welt um. Der theologische Integralismus der katholischen Kirche lässt sich als Erbe der Verkirchlichungsidee betrachten, der in Strömungen des Katholizismus trotz der gegenteiligen Positionierung des II. Vatikanums virulent geblieben ist. Bis in die Gegenwart hinein speist die offene oder latente Zielsetzung einer Verkirchlichung der Gesellschaft den Säkularismus als kämpferische Gegenposition einer radikalen Entkirchlichung der Gesellschaft. David Martin hat in seiner „Theorie der Säkularisierung“ (Martin 1978) darauf hingewiesen, dass in den Ländern mit einem kämpferisch aufrechterhaltenen katholischen Monopol die Aufklärung und die bürgerlichen Revolutionen eine antikirchliche und antiklerikale bzw. säkularistische Stoßrichtung annahmen. Dies lässt sich für Frankreich, aber auch für Italien und Spanien mit Ausstrahlung nach Lateinamerika nachweisen.
In der deutschen Nachkriegsgeschichte spielten Zielsetzungen einer Verkirchlichung der Gesellschaft erneut eine gewisse Rolle. Die Kriegsniederlage und der Zusammenbruch des Nationalsozialismus schufen für beide großen Kirchen in Deutschland eine historisch einmalige Konstellation. Moralisch stellten sie im Selbstbild wie auch in den Augen der Siegermächte die noch am wenigsten durch den Nationalsozialismus kompromittierten Institutionen dar. Außerdem waren ihre Organisationsstrukturen weitgehend intakt geblieben. In beiden Kirchen fanden Vorstellungen Nahrung, der Nationalsozialismus könne und müsse als Höhe- und Endpunkt des europäischen Abfalls von Gott gedeutet werden. Auf diesem Hintergrund erhielt die Perspektive einer verkirchlichten Gesellschaft als entschiedene Abkehr vom Nationalsozialismus eine gewisse Anziehungskraft (vgl. Löhr 1990, 27–41). Nach wenigen Jahren und einer gewissen Konsolidierung der westdeutschen Gesellschaft wurden die Hoffnungen auf eine grundlegende Erneuerung in Richtung einer kirchlichen Durchdringung der Gesellschaft enttäuscht. Eine die Kirchen von jeder Mitschuld am Aufstieg des Nationalsozialismus entlastende Deutung als großer Abfall von Gott brach erst im Umbruch der 1960er Jahre zusammen. Gleichzeitig schnellten die Austrittszahlen aus beiden Kirchen nach oben, der regelmäßige Gottesdienstbesuch ging um ein Drittel zurück und der kirchliche Einfluss auf das Schulwesen wurde zurückgedrängt. Insofern lässt sich die im westeuropäischen Vergleich in Westdeutschland besonders radikal einsetzende Entkirchlichung der Gesellschaft in den Jahren 1965 bis 1975 als dialektische Gegenbewegung zu den Tendenzen der Verkirchlichung der Gesellschaft in der Nachkriegszeit deuten.
3. Die Verkirchlichung des Christentums und die Entkirchlichung der Gesellschaft als Teil funktionaler Differenzierung
Die Diagnose einer Verkirchlichung des Christentums in der modernen Gesellschaft hat die soziologische Gesellschaftstheorie zum Hintergrund und verweist auf die spezifische gesellschaftliche Lage, in der sich das Christentum in der westlichen Moderne befindet. In den Hauptströmungen der soziologischen Gesellschaftstheorie spielt die Konzeption der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft eine zentrale Rolle. Sie geht von der schon bei den soziologischen Klassikern wie Herbert Spencer, Émile Durkheim und Max Weber an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in unterschiedlicher Form grundgelegten Vorstellung aus, die moderne Gesellschaft sei anders oder mehr als ihre Vorgängerinnen durch eine Differenzierung hauptsächlich nach spezifischen Funktionen ihrer Teilsysteme geprägt. Auf dem Weg zur Moderne habe sich zunächst die politische Herrschaft von der Identität mit bzw. von der engen Bindung an die Religion gelöst, mit Hilfe des Rechts Vorstellungen über ein eigenständiges Feld des Handelns entwickelt und in Grenzkämpfen Ansprüche relativer Autonomie durchgesetzt. Wo Geldwirtschaft und der Austausch von Waren auf Märkten in größerem Umfang Fuß fassten, hätten wirtschaftliche Akteure begonnen, sich dem Durchregieren der religiösen wie der politischen Eliten in wirtschaftlichen Fragen zu entziehen. Mit den Universitäten als besonderen Orten und Gemeinschaften der Wahrheitssuche habe der wissenschaftliche Diskurs eine gewisse Eigenständigkeit errungen. Die sogenannte Sattelzeit zwischen 1750 und 1850 gilt als endgültiger Durchbruch zu einer Gesellschaftsform, in der die gesellschaftlichen Teilsysteme von Religion, Politik, Wirtschaft, Recht und Wissenschaft relativ autonome Sinngrundlagen entwickeln und alle anderen Differenzierungen der Gesellschaft überlagern. Seit Max Weber gilt es als ausgemacht, dass der mit besonderer Härte und Konsequenz geführte Kampf des Reformpapsttums des 11. Jahrhunderts gegen die kaiserlichen Herrschaftsansprüche als Nukleus für die weiteren gesellschaftlichen Differenzierungsprozesse und Teilsystembildungen gelten kann. Für das Christentum liegen die Konsequenzen des Umbaus der Gesellschaft in Richtung funktionaler Differenzierung auf der Hand. Sie lassen sich als Doppelbewegung von Verkirchlichung und Entkirchlichung charakterisieren (vgl. Kaufmann 2012, 239–243). Die zuvor im Prinzip über die gesamte Gesellschaft verteilten Sinngehalte des Christentums erhalten eine neuartige Konzentration und Begrenzung auf ein besonderes Sinn- und Handlungsfeld, für das sich die Semantik von Kirche durchsetzt. Bei dem, was wir heute als Kirche bezeichnen, handelt es sich also um ein spezifisches Phänomen moderner, funktional differenzierter Gesellschaften. Die Entkirchlichung der übrigen gesellschaftlichen Funktionsbereiche im Sinne einer Entleerung von christlichen Sinngehalten bildet die Kehrseite der Verkirchlichung des Christentums. Niklas Luhmann als einer der führenden Vertreter der Theorie funktionaler Differenzierung hat den Säkularisierungsbegriff eng auf diese Konstellation bezogen (vgl. Luhmann 1977, 271). Mit der Hilfe des Säkularisierungsbegriffs deuten – so Luhmann – die Akteure des religiös-kirchlichen Felds das, was außerhalb ihres Funktionsbereichs geschieht.
Heute machen sich die ambivalenten Folgen einer weit getriebenen Verkirchlichung des Christentums bemerkbar. Die Konzentration der Sinngehalte des Christentums in einem spezifischen gesellschaftlichen Funktionsbereich zeigt die Tendenz, diesem mittel- und langfristig den gesellschaftlichen Boden zu entziehen. Jedenfalls besitzt das Christentum in der westlichen Welt am ehesten dort Virulenz, wo es sich mit Ideen und Gefühlen der Nation verbindet, wo es Tendenzen der De-Privatisierung bzw. Politisierung aufweist und wo es an soziale und ökologische Bewegungen anknüpft (vgl. Pollack/Rosta 2015, 458–485). Eine entschieden und konsequent verfolgte „Entweltlichung“ droht dem Christentum den notwendigen Stoff zu rauben, an dem seine Sinngehalte sich entzünden könnten.
4. Verkirchlichung und Entkirchlichung des Katholizismus
Der moderne Katholizismus in Deutschland hat seine Wurzeln in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im Kern ging es um eine Bewegung der Selbstorganisation der Katholiken zur Wahrung der Interessen des katholischen Glaubens und der Kirche in einer Gesellschaft, in der die feudale Verbindung von Thron und Alter überwunden wurde und starke antiklerikale Kräfte die Existenz von Glaube und Kirche in Frage stellten. Die Initiative ging weniger von Akteuren der kirchlichen Hierarchie als von einer Bewegung unter den Katholiken aus, die Promotoren insbesondere im niederen Klerus fand (vgl. Mooser 1996). Den Anfang machten ab Mitte des 19. Jahrhunderts Vereine mit der Zielsetzung der Revitalisierung des religiösen Lebens. Es folgte eine Gründungswelle von karitativen Vereinen von locker organisierten Caritaskreisen bis zu den Vinzenz- und Elisabethenvereinen mit einer festen Struktur. Es schlossen sich zeitlich die zahlreichen katholischen Berufs- und Arbeitervereine an. Gegen Ende des Jahrhunderts kam es zu einer Überformung des Vereinswesens durch deutschlandweit agierende Verbände. Die karitativen Vereine erhielten in den 1890er Jahren mit dem „Charitasverband für das katholische Deutschland“ einen um bessere Koordination und Organisation bemühten Dachverband. Als Massenorganisation aller sozialpolitisch aktiven Vereine erlangte der „Volksverein für das katholische Deutschland“ die größte Bedeutung im deutschen Sozialkatholizismus. Ein breites Schrifttum wandte sich an die in der Blütezeit des Verbands mehr als 800.000 Mitglieder. Lange Zeit bildete das Zentrum lediglich den politischen Arm des katholischen Vereins- und Verbandswesens. Von Historikern wie Thomas Nipperdey ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass das katholische Vereinswesen als frühe Schule einer demokratischen Praxis unter den Katholiken gelten kann (vgl. Nipperdey 1988, 9–66).
Die jahrzehntelang wirkende Tendenz zur Verkirchlichung des selbstorganisierten katholischen Vereins- und Verbandswesens setzte schon nach dem 1. Weltkrieg ein (vgl. Hürten 1986, 183–257). Mit Verkirchlichung ist in diesem Zusammenhang die Integration in und die Kontrolle durch kirchenamtliche Strukturen gemeint. 1922 entwarf Pius XI. in seiner Antrittsenzyklika Ubi arcano Dei ein kirchliches Reformprogramm, in dem die Aktivierung der Katholiken zu einer Bewegung des Laienapostolats unter der Leitung der Bischöfe eine zentrale Rolle spielte. In den 1920er Jahren verlor der Vereins- und Verbandskatholizismus an Anziehungskraft unter den Katholiken. Die katholische Jugendbewegung wie auch die von der liturgischen Bewegung erfassten Katholiken hielten Distanz zur Vereinstätigkeit der organisierten Katholiken. Das 1933 abgeschlossene Reichskonkordat bot zwar den kirchenamtlichen Strukturen einen gewissen Schutz, nicht aber dem selbstorganisierten Vereins- und Verbandskatholizismus. So wurde der von Krisen und Finanzproblemen geschüttelte „Volksverein für das katholische Deutschland“ schon 1933 von den Nationalsozialisten verboten. Die Zurückdrängung aller katholischer Aktivitäten auf Sakristei und Kircheninnenraum war das Ziel der repressiv durchgesetzten Kirchenpolitik der Nationalsozialisten zwischen 1933 und 1945. In der Nachkriegszeit wurde offenbar, dass viele Bischöfe die „Flurbereinigung“ des Vereins- und Verbandskatholizismus durch die Nationalsozialisten als Chance für einen Neuanfang in Richtung kirchenhierarchisch geleiteter Laieninitiativen sahen. Was vom Vereins- und Verbandskatholizismus nach 1945 auch gegen bischöfliche Widerstände wieder entstand, war eine stärker verkirchlichte Version des organisierten Katholizismus. Durch die Neuorganisation des Kirchensteuersystems in Richtung diözesaner Zentralisierung begünstigt, fehlte der Selbstorganisation der Katholiken nach dem 2. Weltkrieg eine eigenständige finanzielle Basis. Wie an der gegenwärtigen Zusammensetzung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) ablesbar ist, entwickelte sich im deutschen Katholizismus ein Kompromiss zwischen selbstorganisierten katholischen Vereinen und Verbänden und kirchenamtlichen Laienorganisationen. Sie bilden heute die beiden großen Gruppen unter der Mitgliedschaft des ZdK. Auch immer wiederkehrende, mehr oder weniger offen ausgetragene Konflikte zwischen Zentralkomitee und Deutscher Bischofskonferenz bedeuten keine grundsätzliche Abkehr vom Trend der Verkirchlichung. Dies gilt selbst für die Entscheidung führender Mitglieder des Zentralkomitees, mit „donum vitae“ als einer eigenen Vereinsinitiative im deutschen System der Schwangerenkonfliktberatung zu verbleiben und sich damit anders als die Deutsche Bischofskonferenz und der Deutsche Caritasverband dem Ausstiegsgebot aus Rom zu entziehen. Seit einigen Jahren ist der Trend erkennbar, dass sich der Verband der Diözesen Deutschlands als Finanzträger der Deutschen Bischofskonferenz wie auch die einzelnen Diözesen stärker aus der finanziellen Unterstützung des katholischen Vereins- und Verbandswesens zurückziehen. Bisher lassen sich keine Anzeichen dafür erkennen, dass es im Zuge dieser Entwicklung zu einer Revitalisierung der Kräfte der Selbstorganisation der Katholiken käme. Die starke Überalterung der Mitgliedschaft der Verbände lässt auch nichts anderes erwarten. Wo, wie im Fall der Schließung der bundesweit bekannten Sportschule der Deutschen Jugendkraft (DJK) in Münster im Jahr 2018, Vertreter der Diözese in den Gremien der Einrichtung sich aktiv am Ende der Institution beteiligen und das verbleibende Vermögen in die Hände der Diözese fällt, nimmt das Ende einer verbandskatholischen Einrichtung einen verstörenden Charakter an.
Unter dem Stichwort einer Entkirchlichung des Katholizismus lassen sich heute neue, bisher nur untergründig erkennbare Entwicklungen ansprechen. Phänomene eines von Glaube und Kirche gelösten Katholizismus haben ihre Ursprünge in Diskursen der 1920er Jahre. Für Carl Schmitt und seine Anhänger bezog sich das Interesse am Katholizismus nicht auf einen biblisch begründeten christlichen Glauben, sondern auf eine bestimmte politische Form der Repräsentation von Autorität (vgl. Schmitt 1923). Wo der Katholizismus in Diskursen am rechten Rand artikuliert wird, spielt der Rückgriff auf das autoritätsbezogene Gedankengut Carl Schmitts bis heute eine gewisse Rolle. Gegenwärtig nimmt eine weitere Version eines entkirchlichten Katholizismus Konturen an. Wo sich Kirchengemeinden an der Haltung gegenüber muslimischen Flüchtlingen spalten und die deutschen Bischöfe wie Papst Franziskus eindeutig zugunsten des Einsatzes für Flüchtlinge Stellung nehmen, ist ein sich auf das christliche Abendland berufender, islamfeindlicher Katholizismus jenseits der katholischen Kirche im Entstehen begriffen. Gegenüber ausländischen Priestern aus Afrika – so im bayerischen Zorneding geschehen – kann die Bewegung auch rassistische Züge annehmen. Heute erscheint offen, ob die intellektuellen Strömungen eines Katholizismus jenseits von Glaube und Kirche, die sich insbesondere an einer Gegnerschaft gegenüber Papst Franziskus formieren, und ein entkirchlichter, islamfeindlicher Volkskatholizismus sich künftig verbünden und beflügeln werden.
5. Fazit
Mit Verkirchlichung und Entkirchlichung sind keine gesellschaftlichen Prozessbegriffe gemeint, die ein zwangsläufiges Geschehen im Blick hätten. Vielmehr lassen sich mit Hilfe der beiden Begriffe Spannungsfelder verdeutlichen, in die die Kirche hineingestellt ist und innerhalb derer sie ihren Weg finden muss. Das erste Spannungsfeld weist die Pole des Drangs der katholischen Kirche zur möglichst vollständigen Verkirchlichung der Gesellschaft auf der einen Seite und des Kampfs säkularistischer Akteure zur radikalen Entkirchlichung der Gesellschaft auf der anderen Seite auf. Sich selbst mit dem eschatologischen Reich Gottes gleichsetzend, hat die katholische Kirche in der Vergangenheit nicht selten die Dialektik von Ver- und Entkirchlichung der Gesellschaft selbst aktiv in Gang gebracht. Wo man heute in der katholischen Kirche hinter das II. Vatikanum zurückwill, ist der Rückfall in einen offenen oder latenten Integralismus nicht weit. Das Spannungsfeld von Verkirchlichung des Christentums einerseits und der Entkirchlichung gesellschaftlicher Funktionsbereiche andererseits ist in der Gegenwartsgesellschaft weitgehend unhintergehbar. Hier geht es auf der einen Seite um eine klare Einsicht in die notwendige Partikularität des Christentums und der Kirche mit einer rückhaltlosen Anerkennung der relativen Autonomie der Funktionsbereiche in der Tradition des II. Vatikanums; auf der anderen Seite ist die Kirche herausgefordert, sich notwendigen Grenzkonflikten zur Autonomiebegrenzung von Wirtschaft, Politik und Wissenschaft zu stellen, um in Kooperation mit anderen Akteuren gesellschaftlich-systemisch verursachtes Unrecht und Leid zu minimieren. Das Spannungsfeld der Verkirchlichung und Entkirchlichung des Katholizismus wiederum zwingt die Katholiken und die katholische Kirche heute dazu, sich von historisch kontingenten Formen der Selbstorganisation zu lösen und Wege der Verschränkung von tradierten und neuen Formen der Selbstaktivierung zu finden. Gleichzeitig muss die Kirche auf der Hut sein, den konservativ-autoritären Kräften, die die Melodie des vorkonziliaren Katholizismus vorzüglich zu spielen wissen, nicht immer wieder auf den Leim zu gehen.