Inhalt

„Kirchliche Orte“

Ein Zukunftsmodell der Kirche angesichts der aktuellen Herausforderungen

Auch in der evangelischen Kirche stellt sich die Frage, wie kirchliches Leben gestaltet werden kann, wenn die klassische Territorialgemeinde nur noch für wenige Relevanz hat. Uta Pohl-Patalong betrachtet die territoriale Parochie sowie alternative, nichtterritoriale Organisationsformen und entwirft ein Modell, das die Stärken beider Formen vereinen kann.

Unsere Bilder von „Kirche“ sind stark von den Organisationsformen geprägt, die wir kennen. Dies sind wesentlich die Ortsgemeinde oder Parochie und einige alternative Formen. Lässt sich Kirche aber auch anders denken? Lassen sich neue Formen entwickeln, die an den Be­dürfnissen von Menschen heute ausgerichtet sind? Dafür ist es wichtig, zunächst zu verstehen, wie sich die heutigen Formen entwickelt haben, um sie dann hinterfragen zu können und neue Modelle zu entwerfen.

Die Parochie als Bezirk – ein Erbe des Mittelalters

Die dominante Organisationsform der Kirche ist territorial orientiert: Menschen gehören zu einer Ortsgemeinde oder Parochie aufgrund ihres Wohnortes. Dies ist weder biblisch begründet noch theologisch zwin­gend. Diese Organisationslogik hat sich im Laufe des Mittelalters all­mählich entwickelt, seitdem im 4. Jh. das Christentum zur „Reichskir­che“ geworden war (vgl. Pohl-Patalong 2003, 64 ff.). Die Kirche lehnte sich damals an die Verwaltungsbezirke des Römischen Reiches an und machte damit auch symbolisch ihren Anspruch auf die vollständige Durchsetzung des Christentums deutlich. Wichtig waren dann der Pfarrzwang ab dem 9. Jh. und die Pflicht, den Zehnten an die Kirche abzuliefern. Dies führte in diesem Zeitraum auf dem Land zur endgülti­gen Durchsetzung des Parochialprinzips, während sich in den Städten die parochiale Gliederung erst in den folgenden Jahrhunderten langsam durchsetzte: Hier lebten die Priester in Gemeinschaft zusammen und waren für unterschiedliche Kirchen zuständig, betrachteten diese aber nicht als ihre Gemeinden.

Die Parochie als christliche Gemeinschaft – ein Erbe der Frühmoderne

Das 19. Jh. veränderte den Charakter der Ortsgemeinde völlig. Mit der Industrialisierung und dem massenhaften Zuzug in die großen Städte gingen die soziale Kontrolle und der Einfluss von Sitte und Brauchtum zurück. Menschen verloren den Kontakt zur Kirche und gleichzeitig zu ihren sozialen und moralischen Wurzeln. Die Parochialgrenzen evange­lischer Gemeinden umfassten jetzt beispielsweise in Hamburg bis zu 70.000 Gemeindeglieder.

Nachdem erst christliche Vereine auf die Notlagen reagiert hatten, wur­de in beiden großen Kirchen deutlich, dass die neue Zeit neue Formen von Kirche und von Gemeinde brauchte, um Menschen zu erreichen (vgl. Pohl-Patalong 2003, 97 ff.). Emil Sulze auf evangelischer (Sulze 1912) und Heinrich Swoboda (Swoboda 1909) auf katholischer Seite setzten sich für gegliederte, „überschaubare“ Gemeinden ein, die in der Anonymität der modernen Welt einen „Hort der Liebe“ darstellen und soziale Gemeinschaft unter christlichem Vorzeichen herstellen sollten. Dabei blieb die Aufgabe der sakramentalen und sonstigen religiösen Versorgung der gesamten der Gemeinde zugewiesenen katholischen oder evangelischen Mitglieder bestehen. Gleichzeitig sollte die Parochie aber die Möglichkeit zu christlicher Gemeinschaftsbildung und aktivem Engagement bilden. Jedes Mitglied sollte erfasst, gekannt und betreut werden. Zu diesem Zweck führte Emil Sulze die Idee einer gemeinsam verbrachten Freizeit in der Gemeinde in Form von geselligen Abenden ein, die er von Ehrenamtlichen gestalten ließ. Dieses Gemeindebild ist von der Struktur der freien Vereine geprägt, für die persönliches Enga­gement, Geselligkeit und Hilfe in Notlagen grundlegend sind. Architek­tonisch entstand in dieser Zeit zunächst auf evangelischer, dann auch auf katholischer Seite das Gemeindehaus, das den Vereinshäusern nach­gebildet wurde. Damit wurde die aktive Beteiligung an diesen vereins­ähnlichen Aktivitäten zum Maßstab für wahre kirchliche Mitglied­schaft. Die heutige „Kerngemeinde“ entstand. Im Grunde sollte damit unter christlichem Vorzeichen die verloren gegangene vormoderne Dorfgemeinschaft in der Großstadt rekonstruiert werden.

Die Parochie sucht neue Wege – die Gegenwart

Natürlich konnte schon damals die Parochie nicht alle katholischen oder evangelischen Kirchenmitglieder als Teil der christlichen Gemeinschaft erreichen. Die Mehrheit verstand die Parochie weiterhin in der Logik religiöser Zuständigkeit und nutzte sie bei Bedarf – wenn das Kind ge­tauft werden sollte oder die Eltern bestattet, wenn Weihnachten war, die Kinder konfirmiert werden sollten oder man Seelsorge suchte. Dies hat sich bis heute so fortgesetzt, wie alle empirischen Untersuchungen belegen.

Zudem erweist sich heute das Territorialprinzip als schwierig. Die Ver­zahnung von Kirche und Sozialraum hat zu einer engen, auch emotiona­len Verbindung von Kirche und (Wohn‑)‌Ort geführt. Dies hatte und hat noch Stärken, in der Einseitigkeit jedoch auch markante Schwächen: Bevölkerungsgruppen und Biografien, die sich nicht auf Dauer mit einem bestimmten Ort verbinden, werden von dieser Organisations­form kaum erreicht und bekommen rasch den Eindruck, dass Kirche für sie nicht attraktiv ist. Der Wohnort wird gegenwärtig häufiger gewech­selt. Zudem sind in der heutigen Spätmoderne Wohnen, Arbeit und Freizeit für viele Menschen deutlich weiter auseinandergetreten.

Wie wichtig der Wohnort ist, ist u. a. auch eine Frage des jeweiligen Mi­lieus. Dies hat zur Konsequenz, dass die klassische Ortsgemeinde vor allem diejenigen Milieus gut erreicht, die eng mit ihrem Wohnort ver­bunden sind, wie die vom Sinus-Institut durchgeführte und andere Milieustudien zu den katholischen und den evangelischen Milieus bestätigt haben. Ohne dies zu wollen, trifft die Kirche daher mit ihren Organisationsformen faktisch Vorentscheidungen darüber, mit welcher Wahrscheinlichkeit welche Menschen erreicht werden. Die Form der Ortsgemeinde passt wesentlich besser zu den älteren Milieus mit einer mittleren oder höheren Bildungsnähe – beispielsweise in der ästheti­schen Gestaltung der Gemeindehäuser, in der Weise, wie Gemeinschaft gefördert wird, in der Orientierung am Wohnortbereich, in der Orientie­rung an Familien etc. Eine dominant ortsgemeindlich ausgerichtete Kirche erreicht also bestimmte Menschen und Bevölkerungsgruppen mit deutlich geringerer Wahrscheinlichkeit als andere. Diese wieder prägen den Charakter von Gemeinden, so dass sich andere Milieus häu­fig fremd fühlen – dies dürfte ein Grund sein, warum sozial schwächere Menschen trotz ihrer geringeren Mobilität wenig in Ortsgemeinden anzutreffen sind.

Entsprechend wählen Menschen heute ihre religiösen Bezüge faktisch selbstbestimmter, als dies die Ortsgemeinde vorsieht – man geht zum Konzert in die Citykirche, sucht für die Kinder eine Gemeinde mit lebendiger Jugendarbeit und engagiert sich bei der Caritas für Geflüch­tete. Das Zuweisungsprinzip der Ortsgemeinde führt jedoch manchmal dazu, dass die Menschen, die im Gemeindebezirk wohnen, als die „eige­nen“ Gemeindeglieder angesehen werden, die doch eigentlich dort ihre kirchliche Heimat finden sollten. Es kommt dann zu Konkurrenzen zwischen Gemeinden und zu Spannungen zwischen der Kirche und ihren Mitgliedern, was dem Selbstverständnis, der inhaltlichen Arbeit und dem Bild der Kirche schadet.

Als Reaktion auf diese Schwierigkeiten haben besonders in der Stadt mittlerweile viele Parochien Schwerpunkte gesetzt und Profile entwi­ckelt. Regionalisierungen und Fusionen ermöglichen es, dass nicht jede Gemeinde alles machen muss und möchte, sondern es werden Abspra­chen getroffen, welche Gemeinde in welchen Arbeitsfeldern vorrangig tätig ist. Bestimmte Handlungsfelder, z. B. Kirchenmusik, Jugendarbeit oder Gemeinwesenarbeit, werden dann stellvertretend für andere Ge­meinden in einer Region wahrgenommen. Diese Entwicklung geschieht innerhalb der Gestalt der Ortsgemeinde, entspricht aber nicht mehr ih­rer klassischen territorialen Orientierung und sprengt vor allem das Zu­weisungsprinzip. Sie kombiniert sozusagen das Territorialprinzip mit anderen Prinzipien kirchlicher Organisation – die es auch schon immer gab.

Kirche biografisch oder funktional organisiert

Die Dominanz der Parochie lässt manchmal vergessen, dass das Territo­rialprinzip nie der einzige Weg war, auf dem sich die Kirche sozial orga­nisiert hat. Das Mönchtum beispielsweise bildete eine alternative Form neben der Ortsgemeinde und stand auch nicht selten in Konkurrenz zu ihr – beispielsweise in Gestalt der Bettelorden im 12. und 13. Jh., die quasi eigene Gemeinden um sich bildeten. Das Gleiche galt für die Per­sonalgemeinden der frühen Neuzeit, in denen berühmte Prediger Men­schen anzogen. Seit den 1960er Jahren sind einerseits die Formen „bio­grafischer“ Gemeinden sehr gewachsen, die aufgrund bestimmter Le­benssituationen entstehen, in denen die Ortsgemeinde nicht aufgesucht werden kann oder nicht attraktiv ist: während eines Krankenhaus- oder Gefängnisaufenthalts, in Kur oder Urlaub, beim Militär, im Studium oder beim Unterwegssein als Schausteller*innen. Andererseits gibt es verstärkt Formen von Kirche, die dem „funktionalen“ Prinzip folgen: Hier kommen die Teilnehmenden aufgrund eines bestimmten inhalt­lichen Angebots zusammen. In der Regel bedeutet dies eine Gemeinde­bildung auf Zeit, die einige Jahre umfassen kann, aber auch nur ein Wochenende. Dies gilt z. B. für Akademien, Frauenwerke, den Kirchli­chen Dienst in der Arbeitswelt oder die überregionale Jugendarbeit, ebenso für die Citypastoral bzw. die „Passantenkirchen“.

Zudem haben sich in den letzten Jahren zielgruppenorientierte neue Formen von Gemeinde entwickelt, die nur teilweise zentral kirchlich gewollt und geplant sind und nicht selten von Initiativen „von unten“ ausgehen. Dies können Jugendkirchen sein, diakonische Gemeinden, Café-Gemeinden, „Kirchen der Stille“ oder ganz andere Formen. Sie sind unterschiedlich ausgerichtet und wenden sich an unterschiedliche Zielgruppen.

Diese Entwicklungen reagieren auf die genannten Schwierigkeiten der Ortsgemeinde und beinhalten die Chance, mehr und andere Menschen anzusprechen als bisher. Sind sie aber auch theologisch legitim?

Welche Formen von „Gemeinde“ sind theologisch gerechtfertigt?

Es ist deutlich geworden: Die derzeitigen Formen von Gemeinde sind historisch gewachsen. Sie können auch deshalb keinen theologischen Vorrang haben, weil die Formen, in denen Christ*innen sich gemein­schaftlich organisieren, nicht göttlich gegeben, sondern menschliche Gestaltungsaufgabe sind (vgl. Pohl-Patalong/​Hauschildt 2016, 103­ ff.). Theologisch ist wichtig: Eine christliche Gemeinde wird nicht durch räumliche Grenzen definiert, sondern durch das, was in ihr geschieht. Dass die Ortsgemeinde territorial abgegrenzt ist, ist insofern keine theologische Frage, sondern eine kirchenrechtliche. Auch in der Bibel gibt es kein einheitliches Bild von „Gemeinde“, an dem wir uns heute orientieren könnten, sondern ganz verschiedene Formen: die Nachfolge­gemeinschaft um Jesus und Anhänger*innen in den Dörfern in Galiläa, die Jerusalemer Urgemeinde nach der Apostelgeschichte und die pauli­nischen Hausgemeinden.

Allerdings bedeutet das nicht, dass die kirchlichen Organisationsformen theologisch betrachtet beliebig sind. Sie müssen sich daran messen las­sen, ob sie dem grundlegenden theologischen Auftrag der Kirche ent­sprechen: der Kommunikation des Evangeliums. Diese grundlegende Aufgabe der Kirche ist nach Mt 28 auf „alle Welt“ ausgerichtet und damit nicht auf die Kerngemeinde, ein bestimmtes Milieu oder eine bestimmte Ausrichtung. Daher muss sich jede Organisationsform der Kirche daran messen lassen, wie gut sie diesem Auftrag dient. Alle anderen Ziele sind gegenüber dem theologischen Auftrag der Kirche sekundär, beispielsweise also die Bindung an eine bestimmte Gemeinde oder die Verwurzelung der Kirche in den sozialen Strukturen – dies kann sinnvoll sein im Blick auf die Kommunikation des Evangeliums, ist aber kein Selbstzweck.

Damit scheint Handlungsbedarf zu bestehen im Blick auf die Formen, in denen sich die Kirche im 21. Jh. organisiert.

Das Modell der „Kirchlichen Orte“

Wie aber könnte eine Alternative zu den bisherigen kirchlichen Organi­sationsformen aussehen? Im Zuge meiner Forschungen zum Gegenüber von parochialen und nichtparochialen Organisationsformen habe ich ein Modell entwickelt, das versucht, die Stärken der Parochie und der nicht-parochialen Formen gleichermaßen aufzunehmen und beide in einem „dritten Weg“ zu verbinden (vgl. Pohl-Patalong 2003, 212 ff.).

Grundlegend in diesem Modell sind die kirchlichen Orte. Dies knüpft an die vormoderne Tradition kirchlicher Ortsbezogenheit an, möchte diese aber spätmodern in einer offenen Weise begreifen, die unterschiedli­chen Gruppen Zugänge zur Kirche eröffnet. Kirchliche Orte sind alle Orte, an denen kirchliche Arbeit stattfindet, also Kirchen und Gemein­dehäuser, aber auch Diakonische Werke, Akademien, Frauenwerke etc. zählen dazu.

An jedem kirchlichen Ort gibt es nach diesem Modell zwei Bereiche: einerseits ein vereinsähnliches kirchliches Leben, andererseits inhalt­liche Arbeitsbereiche.

Vereinskirchliches Leben

Der „vereinskirchliche“ Bereich ist von Gemeinschaft und Geselligkeit geprägt. Inhaltlich entsprechen diesem Bereich beispielsweise Seniorin­nenkreise, Eltern-Kind-Gruppen, Gemeindefeste, Gemeindereisen oder Basare, aber auch Gruppen, die sich über religiöse Themen austauschen, oder Bibelkreise, die die Bibel in Gemeinschaft lesen und ihre Erkennt­nisse einander mitteilen. Ebenso gehört die wohnortnahe und auf per­sönlichen Beziehungen beruhende Diakonie bzw. Karitas zu diesem Bereich, also Betreuung, nachbarschaftliche Hilfe und Besuche bei Men­schen. Diesen Bereich nenne ich „vereinsähnlich“ oder „vereinskirch­lich“, weil er in seiner Entstehung in der Gemeindebewegung angelehnt an die Struktur freier Vereine entwickelt wurde und auch heute Paralle­len zu säkularen Vereinen aufweist. Dieses vereinsähnliche kirchliche Leben kommt Menschen entgegen, die sich an der Kirche im Nahbereich orientieren und dort Gemeinschaft suchen. Hier kann sich ein kirchli­ches Heimatgefühl entwickeln. Insofern bleibt die lokale Orientierung und die Verbindung von Kirche und gesellschaftlichem Sozialgefüge bestehen – für diejenigen, denen sie wichtig ist und die die Kommuni­kation des Evangeliums gerade auf diesen Wegen erfahren.

Wie das vereinskirchliche Leben an einem kirchlichen Ort konkret aus­sieht, hängt ab von den konkreten Verhältnissen vor Ort und vor allem von dem, was Menschen dort wollen und brauchen. Dieser Bereich wird nämlich von den Beteiligten selbst organisiert und gestaltet. Dies ent­spricht den Wurzeln dieses Bereiches kirchlicher Arbeit in der Gemein­debewegung, vor allem aber sprechen sowohl theologische als auch soziologische Gründe dafür. Theologisch wird damit (evangelischer­seits) das „Priestertum aller Gläubigen“ und (katholischerseits) der „Volk-Gottes-Gedanke“ ernst genommen, die allen Christ*innen verant­wortungsvolle kirchliche Arbeit zutrauen. Gleichzeitig zeigen soziologi­sche Studien, dass das ehrenamtliche Engagement noch nie so groß war wie heute. Allerdings geht die Zahl der „klassischen“ kirchlichen Ehren­amtlichen, die den „Herrn Pastor“ unterstützen, den Kirchenkaffee ko­chen und den Gemeindebrief austragen, deutlich zurück, so dass seit einigen Jahren verstärkt nach dem „neuen Ehrenamt“ gefragt wird. Das macht deutlich, dass neu überlegt werden muss, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit Menschen sich ehrenamtlich engagieren. Statt Ehrenamtliche für eine bestimmte Aufgabe zu suchen, ist es sinn­voll zu fragen: Wie sieht eine Kirche aus, in der Menschen das finden und sich dafür engagieren, was sie suchen und brauchen? Die Aufgabe ist, deutlich zu machen, welchen Schatz es bedeuten kann, im Kontakt mit der christlichen Botschaft zu leben sowie dieses Leben eigenständig im Kontakt mit anderen zu gestalten, und inwiefern die Kirche dazu hilfreich ist.

Die Aufgabe der Hauptamtlichen in dem vereinskirchlichen Bereich ist es, die ehrenamtliche Arbeit professionell zu unterstützen. Dies ist vor allem ein sinnvolles Aufgabenfeld für die gemeindepädagogischen Berufe. Sie leisten Hilfe beim Aufbau einer Gruppe oder eines Kreises und vermitteln die Kompetenzen für die Leitung einer Gruppe oder eine Betreuungsaufgabe. Sie begleiten die Ehrenamtlichen aber auch auf Dauer und fördern sie, zum Beispiel in Form von Besuchsdienstkreisen oder Gruppen zum Austausch von Gruppenleiterinnen und ‑leitern. Ferner gehört es zu ihren Aufgaben, notwendige soziale Aufgaben im Umfeld des jeweiligen Ortes im Blick zu haben, gegebenenfalls Men­schen zur Übernahme von Betreuungsfunktionen zu motivieren und diese zu organisieren. Vor allem aber sind sie dafür da, gemeinsam mit den Ehrenamtlichen überhaupt erst herauszufinden, was diese brau­chen. So könnte beispielsweise einer Hauptamtlichen deutlich werden, dass um einen kirchlichen Ort herum viele Menschen mit Trauerarbeit beschäftigt sind. Ihre Aufgabe wäre es dann nicht, ein fertiges Angebot für die Menschen zu konzipieren, sondern mit ihnen zusammen heraus­zufinden, welche Form von Angebot sie benötigen (eine feste Gruppe, eine Gottesdienstreihe, eine Reise, ein Trauercafé?) und wer Lust hätte, dies zu leiten und sich entsprechend dafür fortzubilden.

Schwerpunktbereiche an jedem kirchlichen Ort

Daneben gibt es an jedem kirchlichen Ort einen zweiten Bereich kirchli­cher Arbeit, der bestimmte, klar definierte Schwerpunkte erfüllt. An­ders als der vereinskirchliche Bereich kommt er nicht aufgrund der Initiative Ehrenamtlicher zustande, sondern aufgrund der kirchlichen Überzeugung, dass diese Arbeit ein sinnvoller Bestandteil der Kommu­ni­kation des Evangeliums an diesem Ort ist. Er hat zudem einen größe­ren Horizont und erfüllt bestimmte Aufgaben stellvertretend für eine Region. Dies bedeutet ein arbeitsteiliges Verständnis von Gemeinde, die nicht alles in sich abbildet, was Kirche ausmacht, sondern sich als Teil der Kirche Jesu Christi auf bestimmte Wege der Kommu­nikation des Evangeliums konzentriert. Diese Arbeitsbereiche werden – in ähnlicher Weise, wie dies bisher geschieht – von Hauptamtlichen und Ehrenamt­lichen je nach Anforderungen und Möglichkeiten gemeinsam gestaltet.

Zu diesen Arbeitsbereichen gehören zum einen kirchliche Aufgaben, die bisher eher übergemeindlich wahrgenommen wurden wie beispielswei­se Bildungsarbeit, Beratung und spezialisierte Seelsorge oder gesell­schaftspolitische Aufgaben. Es zählen jedoch auch Bereiche dazu, die bislang vor allem in der Ortsgemeinde angeboten werden, jedoch unter einer Überlastung der Hauptamtlichen bei zurückgehenden Mitteln und teilweise auch unter einer kleinen Gemeindegliederzahl leiden wie Kin­der- und Jugendarbeit, Arbeit mit jungen Erwachsenen, Arbeit mit Familien, Single-Arbeit, Frauen- und Männerarbeit. Weitere Bereiche – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – sind Erwachsenenbildung, Kir­chen­musik, Spiritualität, ökumenische Arbeit oder interreligiöser Dialog. Dabei sollte jeder kirchliche Ort immer mehr als einen Aufga­benbereich innehaben, damit sich die Zielgruppen und Arbeitsbereiche nicht gegeneinander abschotten und sich selbst genug sind – also bei­spielsweise Jugendarbeit, Kirchenmusik und diakonische Arbeit oder Frauenarbeit, Singlearbeit, Meditation und interreligiöser Dialog. Damit gibt es an einem kirchlichen Ort nicht alle Aufgabenbereiche, aber das Evangelium wird auf deutlich mehr und breiteren Wegen kommuniziert als im bisherigen parochialen Modell zumeist üblich. Dabei darf und soll sowohl vor Ort als auch im Blick auf die Region entschieden werden, welche Aufga­benbereiche eine Gemeinde erfüllt, also welche Kommunikationswege des Evangeliums hier gebraucht werden: Familien- oder Singlearbeit wird dort angeboten, wo die ent­sprechenden Menschen leben, Kirchenmusik wird vorzugsweise an einer Kirche mit guter Orgel und intensiver Chorarbeit angesiedelt und diakonische Arbeit wird so ausgerichtet, wie Menschen sie brauchen. Der Entscheidungsprozess darüber sollte die Haupt- und Ehrenamtli­chen an den kirchlichen Orten beteiligen, gleichzeitig jedoch Abspra­chen und Koordination der Aufgaben in einer Region einschließen. Wichtig dabei ist die theologische Dimension als Grundlage für die Entscheidung, wie viel Jugendarbeit, diakonische Arbeit, Bildungsarbeit etc. eine Region oder ein Kirchenkreis angesichts der vorhandenen Res­sourcen haben soll – verbunden mit einer inhaltlichen Entscheidung, für welche Arbeitsbereiche die Kirche ihr Geld und ihre Mitarbeitenden eigentlich einsetzt.

Das Modell bringt mit sich, dass Menschen gerade auf dem Land zum Teil längere Wege in Kauf nehmen müssen, um den kirchlichen Ort zu erreichen, der ihren Interessen entspricht. Allerdings musste für geziel­te Angebote wie z. B. Meditationsarbeit, interreligiöse Arbeit oder Ange­bote für Alleinerziehende bislang häufig der noch weitere Weg in die Stadt auf sich genommen werden. Vor allem aber wurde mit der bisher dominanten Parochialstruktur signalisiert, dass die Angebote woanders nicht für die Menschen in einer ländlichen Parochie gedacht waren, weil sie ja nicht in der „eigenen“ Gemeinde angeboten wurden. Hier stößt das Modell einen Prozess des Umdenkens an, der in der Tradition des Pfarrzwanges und der jahrhundertelangen Ausrichtung auf territoriale Gemeindegrenzen sicherlich einige Zeit brauchen wird, aber durchaus möglich und vor allem sinnvoll erscheint. Diejenigen, die dies nicht wollen und die Kirche vor Ort suchen, haben im vereinskirchlichen Bereich die Möglichkeit, sich an der Kirche im Dorf zu orientieren und dort Passendes zu finden, denn der vereinskirchliche Bereich ist ja gerade auf Menschen im Nahbereich ausgerichtet.

Aufgegeben wird also der Anspruch, das gleiche Angebot für alle glei­chermaßen attraktiv zu gestalten, und aufgegeben wird auch das Prin­zip der Allzuständigkeit – sowohl die Allzuständigkeit von Pfarrperso­nen als auch die von Ortsgemeinden. Das bedeutet durchaus auch Verzicht – aber der Verzicht eröffnet die Chance, das Evangelium auf mehr Wegen für mehr Menschen als bisher zu kommunizieren und gezielter zu bedenken, wofür die Ressourcen eingesetzt werden.

Chancen des Modells

Ein Vorteil des Modells liegt darin, dass es eine formale Klarheit mit inhaltlicher Flexibilität verbindet, mit der es sich auf ländliche Räume ebenso beziehen kann wie auf städtische – indem zum Beispiel Arbeits­bereiche anderes gewichtet werden oder der vereinskirchliche Bereich mehr oder weniger Bedeutung erhält. Die Flexibilität gilt aber auch finanziell: Die kirchlichen Strukturen können den Finanzen angepasst werden, indem es mehr oder weniger kirchliche Orte mit mehr oder weniger Arbeitsbereichen gibt, ohne dass ein ganz neues Modell gefunden werden muss.

Vor allem aber bieten diese Überlegungen die Chance, dass Menschen an der Kommunikation des Evangeliums teilhaben können, die in den bisherigen Strukturen nur schwer Kontakt gefunden haben.