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Kirchliche Handlungsoptionen in heutiger Zeit – Profilierung, Anpassung und/oder Stellvertretung?

Kirchenbilder hängen eng mit Vorstellungen zusammen, wie Kirche sich in der Welt und der Gesellschaft verhalten sollte. Häufig werden dabei die kirch­lichen Handlungsoptionen „Profilierung“ und „Anpassung“ in einen kon­trastiven Gegensatz gebracht. Brigitte Benz bringt als drittes Modell das der „Stellvertretung“ ein und beleuchtet die Chancen und Gefahren, aber auch die gegenseitige Ergänzung dieser Handlungsoptionen.

Schaut man auf die gegenwärtige Situation der Kirche in Deutschland, so stellt sich die Frage, ob sie den gegenwärtigen gesellschaftlichen Rah­menbedingungen in ihrer aktuellen Verfasstheit gewachsen ist. Wie kann sie dem (scheinbaren) Relevanzverlust der Religion, wie er gerade in Europa zu beobachten ist, und den innerkirchlichen Problemen (Skan­­dale, Kirchenaustritte, Priestermangel, aber auch Glaubensver­lust) begegnen? Eine erste, fast reflexartige Antwort ist heute der Ruf nach einer stärkeren Profilierung. Fast ebenso schnell erklingt die For­derung nach einer Anpassung der Kirche an die heutige Zeit, welche gern mit Gaudium et spes 4 begründet wird, da dort die Bedeutung der „Zeichen der Zeit“ ausgesagt wird. Den Gedanken der Stellvertretung findet man eher selten, obwohl auch er mit dem II. Vatikanischen Konzil begründet werden kann (z. B. GS 1) und sogar biblisch grundgelegt ist (so z. B. in Gen 18,20–33 und 1 Kor 7,12–16). Im Folgenden wird zu­nächst kurz die aktuelle Situation umrissen und dann nacheinander auf die genannten drei Antwortmöglichkeiten eingegangen und das Pro und Contra abgewogen.

Die aktuelle Situation der christlichen Kirchen in Deutschland

Für das Jahr 2015 gibt die EKD für Deutschland einen Anteil von 58,9 % Christen in der Gesamtbevölkerung an. Das heißt zugleich, dass 41,1 % keiner oder einer anderen Religionsgemeinschaft angehören. Diese Zah­len scheinen noch recht positiv, allerdings sind hierbei weder die Alters­pyramide noch der Unterschied zwischen Stadt und Land oder die Ver­teilung Ost – West berücksichtigt. Schaut man allein auf die neuen Bun­desländer, so ist hier nur noch ein Anteil der Christen an der Gesamtbe­völkerung zwischen 20 und 30 % zu verzeichnen, und die meisten der übrigen 70 bis 80 % gehören keiner Religionsgemeinschaft an. Und auch wenn für westdeutsche Städte die Zahlen der Nichtchristen noch nicht ganz so hoch sind, so geht die Tendenz doch deutlich in diese Richtung (vgl. u. a. Evangelische Kirche in Deutschland 2017; Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2016; Weyen 2016, 118–138). Diese zu­nehmenden Zahlen an Konfessionslosen, Areligiösen oder religiös In­differenten (eine exakte Bezeichnung ist nicht möglich, da diese Gruppe in sich sehr heterogen ist) prägen die Gesellschaft in ihrem Verhältnis zu Religion und stellen die größte Herausforderung für die Kirche dar. Hier muss sie sich zunächst darüber klar werden, mit welchem Gegenüber sie es zu tun hat, ob und was dieses von Kirche erwartet und was sie selbst an Botschaft transportieren möchte, aber auch, was sie vom Ge­genüber lernen kann. Zu diesem Thema sei hier nur auf die verschiede­nen Schriften von Eberhard Tiefensee verwiesen (z. B. Tiefensee 2000; Tiefensee 2015).

Doch vor einem Wirken in der Öffentlichkeit steht die Entscheidung, nicht nur im Kreis der Gemeinde/​Kirche aktiv zu werden. Wenn alle mit der Einstellung auftreten: Wir kümmern uns um die Leute, die schon da sind, damit haben wir genug zu tun, hat die Kirche angesichts der Al­ters­­pyramide in den Gemeinden für die Zukunft nur noch eine unbe­deu­tende Rolle in Deutschland zu spielen. Dies soll nicht heißen, dass das Ziel kirchlichen Handelns einfach in einer Vergrößerung der Mit­gliederzahlen liegen kann und soll! Nicht die Zahl der Gläubigen, son­dern ihr Handeln in und an der Gesellschaft ist ausschlaggebend für die Relevanz und Akzeptanz der Kirche.

Drei mögliche Wege

1. Profilierung

Peter Böhlemann schreibt: „Eine Kirche mit Zukunft wird Profil zeigen müssen“ (Böhlemann 2009, 90). Dabei meint er nicht, dass alle Gemein­den ein identisches Profil brauchen, sondern dass dieses auf „die Adres­saten und deren Situation“ (92) abgestimmt ist. So könnten Profilge­meinden entstehen, welche sich verschiedenen Interessensgruppen zuwenden und dadurch vielleicht Menschen in den verschiedensten Milieus erreichen und eben nicht nur aus Konservativen, Traditiona­listen und bürgerlicher Mitte bestehen. Auch wenn, wie Weyen betont, ein Profil etwas ist, was nur von außen erkennbar ist, so kann man sicherlich davon ausgehen, dass derjenige, der ein Profil zeigen will, etwas dazu tun muss. Für die Kirche hieße dies, dass erkennbar sein muss, welche Botschaft sie vertritt, aber auch, an wen sie sich wendet. Wie kann dies geschehen? Die katholische Kirche hatte schon immer eine Vielfalt in ihren Ritualen und liturgischen Feiern. Dies gilt es wieder verstärkt zu nutzen, auch, neue Formen zu entwickeln. Dabei muss immer bedacht werden, dass wir es „Nicht-Christen auch nicht leichter [machen], wenn wir unser christliches Profil hinter einer zur Schau getragenen Offenheit für fast alles verbergen“. Christus als per­sönliches Gegenüber zu vermitteln und klar zu machen, dass „der Heili­ge Geist […] nichts mit Homöopathie zu tun“ hat, wie Böhlemann poin­tiert formuliert (81), ist bleibende Aufgabe bei jeder Profilierung.

 

2. Anpassung

Von der Profilierung ist es nicht weit zu einer eher negativen Form von Anpassung, wenn man eine Adressatenorientierung lediglich dann als möglich erachtet, wenn man sich ganz nach diesen richtet, ohne die eigene Botschaft oder das eigene Selbstverständnis noch deutlich zu machen. Anpassung im positiven Sinne wäre z. B. die Gestaltung litur­gischer Feiern mit aktueller Musik auch mit den und durch die Adressa­ten. Anpassung an heutige Bedürfnisse und Verstehenszugänge ist si­cher notwendig, aber nicht jeder Strömung darf dabei gefolgt werden. Ein Beispiel: Der sonntägliche Gottesdienst stellt ein wesentliches Ele­ment christlichen Lebens dar, denn hier wird am ersten Tag der Woche, dem Tag der Auferstehung, Tod und Auferstehung Jesu Christi verge­genwärtigt und dem Auftrag zum gemeinsamen Mahlhalten gefolgt. Kann man diesen Gottesdienst einfach auf einen anderen Tag der Woche legen, weil ein Großteil der Menschen den Sonntag für Ausflüge, Kurz­urlaube u. Ä. nutzt und nicht mehr zum Gottesdienst kommt? Das hie­ße über das Ziel hinausschießen. Sinnvoll ist es dagegen, andere kirch­liche Angebote auch zeitlich auf die Möglichkeiten und Bedürfnisse der Menschen abzustimmen (siehe hierzu Weyen 2016, 156 f.).

Die gegenwärtige Zeit wird auch als liquid time bezeichnet und es er­klingt sowohl der Ruf nach als auch die Warnung vor einer liquid church (vgl. z. B. Pastoraltheologische Informationen 2014). Eines der hervor­stechendsten Merkmale der liquid time scheint der weitgehende Verlust von Sicherheiten zu sein. Man muss jederzeit zu allem bereit sein und sich den Bedürfnissen der Gesellschaft, des Arbeitsmarktes usw. anpas­sen. Diese „Verflüssigung“ sollte die Kirche nicht mitmachen. Stabilität ist ein hohes Gut, welches viele Menschen gerade bei der Kirche suchen. Dies bedeutet aber zugleich nicht, dass alles unveränderlich bleiben soll. Kirche muss durchaus eine liquid church oder, anders gesagt, eine bewegliche Kirche sein, die immer wieder danach fragt, wie in der jeweils aktuellen Zeit die Botschaft Jesu zu vermitteln ist. Dabei sollte es nicht darum gehen, möglichst viele Menschen in die Kirche „zu lo­cken“ und schließlich zu taufen, sondern darum, „Freude und Hoff­nung, Trau­er und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art“ wahrzunehmen und sich ihrer anzunehmen, denn sie „sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi“ (GS 1). Anpassung im Sinne von Vergegenwärtigung und Inkul­turation ja – Anpassung um jeden Preis, auch den der eigenen Identität, nein.

 

3. Stellvertretung

Wenn wir Christen uns wirklich als „Salz der Erde“ (Mt 5,13) verstehen, dann kann dies die Situation deutlich entspannen. Denn beim Salz geht es nicht um Quantität, sondern um Qualität – in wohldosierter Menge macht es ein Essen schmackhaft, zu viel davon verdirbt das Essen. Doch kann es ein Zuviel an Christen geben? Ich denke ja – nämlich dann, wenn sie nicht als Christen leben, gewissermaßen nur Taufscheinchris­ten sind. Doch wie kann Stellvertretung funktionieren? Hier scheint mir das Konzept einer vicarious religion der englischen Religionssoziologin Grace Davie als Anregung geeignet (Davie 2000). Dieses umfasst bei ihr vier Punkte: Rituale im Namen anderer durchführen; im Namen anderer glauben; in der Lebensweise moralische Vorschriften und Normen ver­körpern; Raum für die Diskussion der ungelösten Aufgaben/​Fragestel­lungen in der modernen Gesellschaft zur Verfügung stellen. Dabei kom­men durchaus auch Aspekte von Profilierung und Anpassung ins Spiel.

Die Durchführung von Ritualen gerade auch in der Öffentlichkeit stellt eine Möglichkeit kirchlichen Handelns dar, bei dem eine Begegnung mit verschiedensten Bevölkerungsgruppen möglich ist. Dabei ist nicht nur an besonders herausgehobene gesellschaftliche Ereignisse, sondern vor allem an Gelegenheiten im alltäglichen Leben zu denken, für die die Kir­chen Rituale anbieten können. Zu diesen zählen Lebenswendefeiern, Segnungen von Neugeborenen und ihren Familien, das Monatliche Toten­gedenken in der Erfurter Allerheiligenkirche oder der Ökumeni­sche Segnungsgottesdienst am Valentinstag. Alle diese Angebote wen­den sich ausdrücklich nicht nur an Christen. Da sie die Menschen auf eine persönliche Lebenssituation hin ansprechen (wie die Geburt eines Kindes, den Übergang zum Erwachsenenalter, die Liebe eines Paares zueinander oder den Verlust eines nahestehenden Menschen), bieten sie außerdem eher die Möglichkeit wirklich lebendigen Kontaktes. Der Einzelne kann sich hier anders wahrgenommen fühlen als z. B. in der eher anonymen Masse eines Kirchentages oder bei einer Gedenkfeier nach einer Katastrophe. Anpassung ist hier notwendig, um verschie­densten Menschen einen Zugang zur christlichen Botschaft zu ermög­lichen. So ist z. B. das unterschiedliche Sprachverständnis in den Blick zu nehmen, welches durchaus eine Barriere darstellen kann. Profilie­rung ist wichtig, damit bei solchen Feiern zu besonderen Lebenssitua­tionen die Kirchen nicht einfach als Dienstleistungsanbieter agieren, sondern der christliche Kontext, in welchem die Feiern stehen, erhalten und erkennbar bleibt. Gebet und Fürbitte als eine Form der stellvertre­tenden Ritualausübung bilden einen überaus wichtigen Aspekt für die Gemeinden und den einzelnen Gläubigen, welcher auch biblisch gut begründbar ist. Sie haben hier die Möglichkeit, auch die religiös Indif­ferenten in die Gottesbeziehung mit hineinzunehmen und dort, wo ein Gespräch mit dem Anderen über Gott nicht möglich ist, wenigstens mit Gott über den Anderen zu reden. Was die Bedeutung des stellvertreten­den Glaubens für die Auseinandersetzung mit den Areligiösen betrifft, so kann man auf 1 Kor 7,12–16 verweisen, wo es ja heißt, dass der Un­gläubige durch den Gläubigen mitgeheiligt ist. Dies kann man vielleicht so deuten, dass durch den stellvertretenden Glauben die religiös Indiffe­renten in eine Beziehung mit Gott hineingenommen werden, auch wenn sie selbst eine solche nicht wahrnehmen. Dennoch ist dieser Punkt, aufgrund der Unschärfe im Begriff des stellvertretenden Glau­bens, wohl als strittig zu betrachten. Es wäre sicher eine lohnende Auf­gabe, genauer zu untersuchen, was stellvertretender Glaube bedeuten könnte und wie er verwirklicht werden kann. Das Bewusstsein, dass in Fürbittgebet und stellvertretendem Glauben auch der Areligiöse mit in die Gottesbeziehung hineingenommen ist, kann dabei eine Ermutigung für die Gemeinden und den einzelnen Gläubigen darstellen. Der letzte Punkt, die Bereitstellung von Raum für die Diskussion von Fragen, wel­che die ganze Gesellschaft bewegen, ist wohl der, an dem am schnells­ten eine Begegnung zwischen Glaubenden und religiös In­differenten möglich ist. Es scheint nicht schwierig, z. B. in Bezug auf den Umwelt­schutz, die Gerechtigkeit in der Welt oder ähnliche Fragen gemeinsame Anliegen zu finden und miteinander zu arbeiten. Dabei besteht durch­aus die Chance, dass Christen ganz bewusst als solche auftreten, ohne den anderen in irgendeiner Weise herabzusetzen. Sie können dann auch ihre Beweggründe für den persönlichen Einsatz darlegen, die aus dem Glauben erwachsen. Allerdings besteht immer die Gefahr, dass man zwar gemeinsam auf ein Ziel hinarbeitet, sich jedoch nicht gegenseitig Rechenschaft darüber gibt, warum man dies tut (weitgehend übernom­men aus Benz 2012, 62–64).

In Bezug auf den dritten Punkt, die Verkörperung moralischer Normen und Werte, muss sich die Kirche selbst kritisch anfragen, ob und wie weit sie dies noch erfüllt. Dabei ist nicht nur an große Skandale wie in Limburg zu denken, sondern jeder Gläubige ist hier angefragt. Inwie­weit es gelingt, hier überzeugend zu leben und zu handeln, wird die Wahrnehmung – und Akzeptanz – der Kirche in der Öffentlichkeit wesentlich mitbestimmen.

Fazit

Die Handlungsmöglichkeiten der Kirche kann man nicht im Sinne eines Entweder-oder sehen, sondern es sollte idealerweise eine Mischung der genannten Formen geben. Keine ist ohne die anderen wirklich effektiv. Am Beispiel der Stellvertretung sei dies verdeutlicht. Stellvertretung ohne Anpassung z. B. in der Sprache, aber auch in der Musik und bezüg­lich möglicher Symbole kann an den Menschen innerhalb und außer­halb der Kirche vorbeigehen, weil die Verstehenszugänge nicht beachtet werden. Eine übermäßige Anpassung z. B. durch völligen Verzicht auf christliche Sprachmuster kann dagegen die „Marke Kirche“ unerkenn­bar machen. Hier greift die Profilierung. Es muss erkennbar bleiben, wer in wessen Namen für wen auf- und eintritt. Gelingt dies nicht, so wird die Frage „Wozu brauchen wir eine Kirche?“ Berechtigung erlangen. Wenn sich die Kirche (und der einzelne Gläubige) dagegen auf einen solchen Gedanken der Stellvertretung einlassen, so bietet sich ihnen dadurch nicht nur eine Möglichkeit, in der Öffentlichkeit wahrgenom­men und wirksam zu werden, sondern sie werden auf diesem Weg auch dazu herausgefordert, den eigenen Glauben mehr zu reflektieren. Aus einem solch reflektierten Glauben heraus kann dann die Kirche dem Auftrag Jesu, seine Botschaft zu allen Menschen zu bringen, in über­zeugender Weise gerecht werden.