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Die Wirklichkeit der Kirche ist nicht mit einem einzigen Bild zu beschreiben

Der emeritierte Erfurter Dogmatiker Josef Freitag schaut mit uns auf die Kirchenbilder in den Konzilstexten, speziell in Sacrosanctum concilium und Lumen gentium. Dabei wird deutlich: Das Konzil zeichnet ein differenziertes Bild von Kirche, das nicht in einem einzigen Bild zu fassen ist.

Gegenseitige Ergänzung und Korrektur von Kirchenbildern

Das Kirchenbild gibt es nicht, vielmehr hat jeder/​jede ein oder sein/​ihr vorrangiges oder leitendes Kirchenbild im (Hinter‑)​Kopf.

a) Das eine Kirchenbild kann es nicht geben, weil Kirche am Mysterium Gottes in Jesus Christus und im Hl. Geist teilhat, das immer größer ist als jedes Bild davon. Zugleich können wir ohne Bilder uns nichts vor­stellen, nicht denken, auch nicht handeln. Christus selbst hat in ver­schiedensten Gleichnissen und Bildern vom anbrechenden Reich Gottes gesprochen.

b) Bilder treffen immer wichtige Aspekte, aber zeigen die Wirklichkeit des Reiches Gottes oder der Kirche nie vollständig. Das Reich Gottes und auch die Kirche bleiben daher immer größer, vielfältiger und wirklicher als jedes Bild von ihnen, das nur eine Ansicht bietet. Es gibt also Bilder, sogar Leit-Bilder, aber nur in gegenseitig verschränkter, aufeinander an­gewiesener und untereinander verweisender Verschiedenheit. Jedes Bild braucht Ergänzungen und Korrekturen, Gegenstücke; jedes hat seine Schwächen und Stärken. Der Alleinanspruch eines Bildes, einer Sicht, lässt seine Grenzen und seine innere Facetten-, Deutungs- und Aussagevielfalt leicht übersehen oder gar unterschlagen. Das gleiche Bild kann verschiedenen Betrachtern in verschiedenen Situationen und zu verschiedenen Zeiten etwas Verschiedenes sagen und Verschiedenes bedeuten. Die verschiedenen Gleichnisse/​Bilder der Schrift stehen nebeneinander und sind gerade so aufeinander bezogen. Sie erläutern sich gegenseitig.

c) Bilder, noch mehr Gleichnisse oder Vergleiche (Metaphern) beziehen den Hörer und Betrachter mit ein, nehmen ihn in ihre Wirklichkeit hin­ein und lassen sie durch sein Verstehen mitgestaltet werden. Gleich­nisse sind und bleiben offen für ihre Adressaten und nehmen diese zugleich mit. Die Hörer und „Seher“ bleiben nicht unbeteiligte Beob­achter; umso weniger, je mehr sie sich auf das in den Gleichnissen und Bildern Erzählte einlassen. Die Bilder, Gleichnisse und Erzählungen „arbeiten“ in ihnen und an ihnen.

Darstellung von Kirche in der Feier der Eucharistie

Das erste und auf eigene Weise genaueste und umfassendste „Bild“ von Kirche zeichnet und nennt das Konzil in seinem ersten Text (Liturgie­konstitution) ganz zu Anfang, sofort nach der allgemeinen Vorrede, nämlich die Feier der Eucharistie:

In der Liturgie, besonders im heiligen Opfer der Eucharistie, ‚vollzieht sich‘ ‚das Werk unserer Erlösung‘, und so trägt sie in höchstem Maße dazu bei, daß das Leben der Gläubigen Ausdruck und Offenbarung des Mysteriums Christi und des eigentlichen Wesens der wahren Kirche wird, der es eigen ist,
zugleich göttlich und menschlich zu sein,
sichtbar und mit unsichtbaren Gütern ausgestattet,
voll Eifer der Tätigkeit hingegeben und doch frei für die Beschauung,
in der Welt zugegen und doch unterwegs;
und zwar so, daß dabei das Menschliche auf das Göttliche hingeordnet und ihm untergeordnet ist,
das Sichtbare auf das Unsichtbare,
die Tätigkeit auf die Beschauung,
das Gegenwärtige auf die künftige Stadt, die wir suchen.
Dabei baut die Liturgie täglich die, welche drinnen sind, zum heiligen Tempel im Herrn auf, zur Wohnung Gottes im Geist bis zum Maße des Vollalters Christi.
Zugleich stärkt sie wunderbar deren Kräfte, daß sie Christus verkünden.
So stellt sie denen, die draußen sind, die Kirche vor Augen als Zeichen, das aufgerichtet ist unter den Völkern. Unter diesem sollen sich die zerstreuten Söhne Gottes zur Einheit sammeln, bis eine Herde und ein Hirt wird.
(Sacrosanctum concilium 2; Hervorhebungen in Zitaten: J. F.)

Bild als Darstellung, als Ausdruck und als Geschehen

Die Feier der Eucharistie als Bild der Kirche nimmt nicht nur die eucha­ristische Ekklesiologie vorweg, sondern bietet deren Grundlegung, er­öffnet sie von der Wurzel her. Das Konzil sagt ausdrücklich, „dass die Gläubigen durch ihr Leben das Geheimnis Christi und die eigentliche Natur der wahren Kirche zum Ausdruck bringen und anderen offenbar machen“. Deutlicher und theologisch zentraler kann das in der Liturgie­konstitution später ausgeführte Anliegen der participatio actuosa, der tätigen Teilnahme der Gläubigen an der Liturgie und in der Sache am dreifachen Amt Christi (vgl. Lumen gentium 10.11–13), also am erlösen­den Mysterium Christi selbst, nicht ausgesprochen werden. Zugleich wird die Zentralität des Paschamysteriums hervorgehoben: Es ist Voll­zug des soteriologischen Kerns des Christusereignisses und der erlösen­den Hineinnahme der Gläubigen in dieses Mysterium in Taufe und Eucharistie.

Es wird das Fundierungsverhältnis von Christus- und Kirchengeheimnis nicht nur gewahrt, sondern fruchtbar und nachvollziehbar gemacht. Kirche wird in ihrem Eigenen (proprium) als verbindende, lebendige Spannung und Geschehen deutlich und annehmbar wie „mitmachbar“. Kirche wird Ereignis und Geschichte, ja, gestaltet Geschichte in ihrer Tiefendimension, nicht nur auf der Ereignisebene. Das Bild (der Feier der Eucharistie) ist nicht statisch, fixiert nicht, sondern geschieht(„happening“), nicht als Event, sondern als Grund- und Gründungs­geschehen.

Auch die innere Zuordnung des untereinander Verbundenen wird aus­gesprochen (Menschliches → Göttliches …); Unterordnung wird so als Hinordnung annehmbar: keine herrschaftliche, sondern demokratische, erschließende „Hierarchie“, nämlich Teilgabe und Teilhabe, Verbun­denwerden in Gegenseitigkeit, ohne die Eigenarten aufzuheben (inkar­natorisches Grundgesetz). Die Spannungen werden nicht aufgehoben, sondern bleiben erhalten. Aber sie bleiben nicht Gegensätze, werden nicht Konkurrenz, sondern füreinander und miteinander fruchtbar (für das Leben und dessen Entwicklung), gerade in ihrer Spannung. Das Drinnen und Draußen, das für jede Gruppe unaufhebbar ist, wird fruchtbar, wird zum eschatologischen Zeichen: bis sich die zerstreuten Kinder Gottes (vgl. Gen 11,1–9) zur Einheit sammeln. Das geschieht schon seit Pfingsten kraft der Gabe des Hl. Geistes und ist nicht einfach organisatorisch, institutionell oder gesellschaftlich, sondern personal zu verstehen: durch den einen Hirten Jesus Christus zu einer Herde (vgl. Joh 10,1–18, insb. V. 16).

Die Vielschichtigkeit und die vielfältige wie kombinierende Kraft von Bildern wird im Bild der Eucharistiefeier, die nicht nur Feier, sondern Leben und Lebensvollzug der Gläubigen ist, (ab‑)​lesbar und (mit‑)​leb­bar, darstellbar und annehmbar, Zeugnis und Verwandlung.

Gegenseitige Ergänzung und Korrektur von Bildern, z. B. Braut und Leib Christi

In der Tat gesellt sich Christus in diesem großen Werk, in dem Gott vollkommen verherrlicht und die Menschen geheiligt werden, immer wieder die Kirche zu, seine geliebte Braut. Sie ruft ihren Herrn an, und durch ihn huldigt sie dem ewigen Vater.
Mit Recht gilt also die Liturgie als Vollzug des Priesteramtes Jesu Christi; durch sinnenfällige Zeichen wird in ihr die Heiligung des Menschen bezeichnet und in je eigener Weise bewirkt und vom mystischen Leib Jesu Christi, d. h. dem Haupt und den Gliedern, der gesamte öffentliche Kult vollzogen.
Infolgedessen ist jede liturgische Feier als Werk Christi, des Priesters, und seines Leibes, der die Kirche ist, in vorzüglichem Sinn heilige Handlung, deren Wirksamkeit kein anderes Tun der Kirche an Rang und Maß erreicht.
(SC 7)

Um die Liturgie zu feiern und zu verstehen, braucht es für die Kirche die Rolle der Braut (Mitvollzug des Werkes Christi durch die Kirche) und die Rolle des Leibes Christi (als mystischer Leib: Haupt und Glieder, nie ohne Glieder; das Haupt wirkt nicht ohne seinen Leib, die Kirche). Das Bild von Braut und Leib braucht es in ihrer jeweiligen Bedeutung wie in ihrer gegenseitigen, sich ergänzend-korrigierenden Kombination, um die Sache, das Mysterium Christi, der Kirche und der Christen in der Liturgie zu verdeutlichen. Es reicht nicht die Kirche allein, nicht der Priester allein, nicht einmal Christus allein. Auch so wird deutlich, dass Kirche nie nur in einem Bild deutlich werden kann.

Die Menschwerdung des Logos und sein Wirken in der Welt legen sich nie in nur einem Vollzug oder einer Wirkgestalt aus, sondern immer in mehreren (Wort und Sakrament; Taufe und Eucharistie; drei synopti­sche Evangelien und Johannes). Die Pluralität ist konstitutiv: Sie spie­gelt und vermittelt die je größere Größe des Mysteriums gegenüber jeder es vermittelnden und jeder vermittelten Gestalt. Die Vielfalt (des Ausdrucks) ist nicht Schwäche, sondern Stärke. Sie gehört zur Sache des Mysteriums selbst, dessen Übergröße – auch die seiner Kraft – in der Zerbrechlichkeit oder dem Ungenügen eines (jeden) einzelnen Gefäßes (und sei es Petrus oder Paulus) auf dramatische und paradoxe Weise erfahrbar wird.

Bild ist mehr als Abbild

Dieses innere Aufsprengen eines Denkens vom Bild als bloßem Abbild oder bloßer Darstellung findet sich auch in der Kirchenkonstitution Lumen gentium. Als Licht der Völker wird Christus vorgestellt (nicht die Kirche), aber dieses Licht, das nicht einfach ein Strahlen ist, sondern Seine Herrlichkeit, die auf dem Antlitz der Kirche widerscheint (wie das Licht der Sonne auf dem Mond), ist umgekehrt ohne diesen Widerschein nicht als Licht Christi zu erkennen. Es braucht die Kirche, um das Licht Christi als das Licht zu erkennen, das es ist. Außerdem spiegelt es sich nicht nur auf dem Antlitz der Kirche, sondern wirkt durch die Kirche: Kirche wird durch Christus, konkret durch die Widerspiegelung seines Lichtes gleichsam zum Sakrament, d. h. zum „Zeichenund Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Mensch­heit“ (LG 1). Das Licht der Völker wirkt durch die Kirche und erwirkt so Kirche, bis hin zu ihrer Vollendung.

Bild und Werkzeug

Die Kirche ist eben nicht nur Bild oder Zeichen. Als Zeichen, an dem jemand teilhaben kann, gewinnt sie Werkzeugcharakter und wird Ver­einigungswirklichkeit. Sie wirkt, genauer: Durch sie und als Kirche wirkt das Licht der Völker, wirkt der verherrlichte Christus kraft seines Geistes. Wirksam wird Kirche nicht nur als Bild und Vorstellung, nicht nur in ihrem Vorbild- oder Abbildcharakter oder in Verähnlichung, son­dern durch die Kraft und Wirksamkeit, die von Gott her in dieses Bild, in die Eigenart seiner Darstellung und Vergegenwärtigung hineingegeben ist. Kirche wird durch die sakramentale Teilhabe an Christi Wirken als Zeichen auch Werkzeug.

Kirche wirkt, indem sie an ihrer eigenen Wirklichkeit teilgibt und teil­haben lässt (vgl. 1 Joh 1,1–3). Kirchenbilder sind wichtig und span­nend – aber auch umstritten –, weil sie wirksam werden, weil sie Anteil geben an der Wirklichkeit der – vielschichtigen und komplexen – Kir­che, ja, an Christus und Gott selbst in seiner dreieinen Wirksamkeit und Wirklichkeit teilgeben. Kirchenbilder haben nicht, wie ein Logo oder Markenzeichen, vor allem Wiedererkennungs- oder Signalfunktion, sind keine bloßen Bilder, sondern zeigen und beteiligen an einem Geschehen, einer Geschichte. Sie wirken und lassen sich nutzen. Gerade deswegen sind sie umstritten.

Kein Garten kann nur mit einem Werkzeug bearbeitet und gepflegt wie entwickelt werden. Kein Gartengerät macht andere Gartengeräte über­flüssig. So hat jedes Bild Dienstfunktion und hat sein Recht in dem Maß, als es seinen Dienst erfüllt und sich im Zusammenhang des Ganzen in Dienst nehmen und einordnen lässt. Jede Verabsolutierung, ja, schon Wucherung auf Kosten anderer Bilder wird und wirkt dysfunktional.

Vom Geschehen zum Bild bzw. zu Bildern

Die Kirchenkonstitution Lumen gentium spricht nicht in Bildern und „erklärt“ sie dann, sondern erzählt die Geschichte, das Wirken und die Rolle von Vater, Sohn und Geist im Prozess der Entstehung der Kirche (LG 2–4) und fasst diese Geschichte und das Erzählte dann zusammen: „So erscheint die ganze Kirche als ‚das von der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes her geeinte Volk‘“ (LG 4). Dann folgt der Satz: „Das Geheimnis der heiligen Kirche wird in ihrer Grün­dung offenbar“ (LG 5). Kirche wird in den Anbruch und die Erwartung der Vollendung des Reiches Gottes hineingestellt, das in und mit der Person Christi selbst offenbar wird, seitdem wächst und zur Vollendung kommt.

Auf dieser Basis kommen dann ganz verschiedene, vielseitige und im Laufe der Zeit aus der Erfahrung des Volkes Gottes erwachsene und geprägte Bilder des Volkes Gottes und insofern von Kirche zur Sprache: Schafstall, Ackerfeld, Ölbaum, Weinberg, Bauwerk, Haus Gottes, Fami­lie, Wohnung, Zelt und Stadt Gottes, Tempel, neues Jerusalem (also sogar ein Name), Braut des Lammes (LG 6) – ohne erschöpfend sein zu wollen oder zu können. Alle diese Bilder bleiben im Konzilstext in ihren jeweiligen, manchmal sogar sich verändernden biblischen Kontext rück­­gebunden und entfalten gerade in dieser Rückbindung ihre Frucht­barkeit für neue Situationen, für das Volk Gottes, das unterwegs ist nicht nur auf den Straßen dieser Welt und durch die Zeit, sondern auch auf dem Weg zu seiner eigenen Vollendung.

Erst danach entfaltet LG 7 das Bild des Leibes Christi für die Kirche in viele unterschiedene Aspekte differenziert, die untereinander ver­schränkt sind und so in ihrer Komplexität zur Entfaltung kommen. Das komplexeste Bild der Kirche zeichnet dann der Artikel 8, der die Kirche im Rahmen der einen Mittlerschaft Christi in einem höchst kunstvollen Mosaik oder Textgewebe darstellt, besser: vorstellt oder schildert als „eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und gött­lichem Element zusammenwächst“.

Die Wirklichkeit und Wirksamkeit des einen Mittlers Jesus Christus (soteriologisches Vorzeichen und Orientierung des ganzen Artikels) entfaltet sich in und als Kirche. So ist sie und wirkt sie als Zeichen für das Zusammenwachsen von Göttlichem und Menschlichem, das durch Christus und den Geist in ihr und durch sie gezeigt und auch bewirkt wird.

Nur der Sohn ist Mensch geworden, hat so die Wege und Weisen von Gottes Dasein und Wirken unter, an und in den Menschen bis ins Tiefste, ins Innerste und Äußerste, selbst erwirkt und erlitten. Es wird in ihm sichtbar (bis ins geöffnete Herz) und wirksam (in Blut und Was­ser des Herzens für Taufe und Eucharistie). Auf diesen Wegen des Soh­nes kann der Geist Gottes seitdem potentiell in jedem Menschen wir­ken; er verbindet die Menschen mit dem Sohn und so auf Seine Weise mit dem Vater und allen anderen Menschen. In dieser Anteilgabe wer­den sie zugleich Glieder des Leibes Christi und seine Braut, weil sie Eigenart und Eigenständigkeit als Personen in der Teilhabe als Glieder nicht verlieren, sondern aus der Beziehung zu Christus bestimmt wer­den und ihr Ja sagen, mit ihm mitzuwirken.

Leib Christi und Volk Gottes

Die beiden wichtigsten Bilder für die Kirche sind im Vaticanum II wohl Leib Christi und Volk Gottes, trinitarisch vervollständigt durch Tempel des Hl. Geistes (je nachdem als Bild für die Kirche, für den einzelnen Chris­ten und für den Leib des Getauften). Leib Christi und Volk Gottes bilden keinen Gegensatz, sondern brauchen und fordern einander. Ohne das je andere Bild verengen sie die Wirklichkeit und Wahrnehmung der Kir­che. Denn das Volk Gottes soll Leib Christi werden; und den Leib Christi, in seiner historischen Menschwerdung, in seiner Kirchwerdung und seiner Eucharistiewerdung, in seiner historischen, kirchlichen und sakramentalen Gestalt/​Erscheinung und Vergegenwärtigung, „gibt es“ nur um des Volkes Gottes willen, damit alle Menschen nach und nach mehr und mehr Volk Gottes werden und als solches Leib Christi.

Zum Volk Gottes gehören auch solche, die nicht zum Leib Christi ge­hören, z. B. sicher die Juden, aber eben im Blick auf Christus, auf Gottes Wirken an seinem Volk. Zum Volk Gottes gehö­ren nach LG 9 auch die­jenigen, die ihn fürchten und Gerechtigkeit üben (vgl. Apg 10,35), auch wenn sie noch nicht getauft sind. Volk Gottes ist der weitere Begriff gegenüber dem Leib Christi.

Volk Gottes hat in LG mehrere Sinndimensionen zugleich, die aber nicht einfach nebeneinander stehen, sondern in einer Dynamik zueinander.

Volk Gottes und seine verschiedenen Bedeutungen

Volk Gottes ist zuerst Israel, das Gott zu seinem Volk, zum Volk Gottes gemacht hat, zu seinem Eigenvolk, das durch den Bundesschluss am Sinai Volk geworden ist als Gottes Volk. Dieses Volk lernt, dass es Volk für die Völker ist. Je klarer wird, dass es außer dem Gott Israels keinen anderen Gott gibt, desto klarer wird Israel Volk Gottes vor allen Völkern und für alle Völker. Paradoxerweise wird das in der Schwäche Israels im Exil von Jesaja klarer erkannt und benannt, als Israel seine staatliche Existenz verloren hat.

In Christus erfüllt sich im Neuen Bund diese Bestimmung für alle Völker und Menschen auf neue Weise. Die Kirche erkennt sich neu als Volk Got­tes (LG II: Das Volk Gottes; LG VII: Der endzeitliche Charakter der pilgern­den Kirche und ihre Einheit mit der himmlischenKirche). Das II. Kapitel thematisiert das gott-menschliche Mysterium der Kirche im Verhältnis seiner Glieder untereinander und in ihrem Verhältnis zu denen, die nicht in voller Einheit mit der katholischen Kirche stehen, aber mit diesem Volk Gottes als dem großen Heilsprojekt Gottes verbunden sind. „Zu aller Zeit und in jedem Volk ruht Gottes Wohlgefallen auf jedem, der ihn fürchtet und gerecht handelt (vgl. Apg 10,35). Gott hat es aber gefallen, die Menschen nicht einzeln, unabhängig von aller wechsel­seitigen Verbindung, zu heiligen und zu retten, sondern sie zu einem Volke zu machen, das ihn in Wahrheit anerkennen und ihm in Heiligkeit dienen soll“ (LG 9). Seinen Ursprung hat das Volk Gottes im Ratschluss Gottes, „die Menschen zur Teilhabe an dem göttlichen Leben zu erhe­ben“ (LG 2), begonnen hat es mit der Berufung Abrahams und des Vol­kes Israel, welche Berufung in Christus auf alle Menschen geöffnet und in der Kirche aus Juden und Heiden zu realisieren begonnen wird. Daher wird das Verhältnis zu den nichtkatholischen Christen als in Christus zum Volk Gottes gehörig neu bestimmt, ebenso das Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen, angefangen mit den Juden, wie auch das Verhältnis zu den Nichtglaubenden (LG 14–16). Vom in Christus neu konstituierten Volk Gottes her werden zudem auch die Beziehungen innerhalb der Kirche, die Rolle der Hierarchie und das Verhältnis von Klerus und Laien neu bestimmt (LG 10–12 sowie Kapitel III [Hierarchie] und IV [Laien]).

Die wechselseitige Verschränktheit und gegenseitige Durchdringung von Volk Gottes und Leib Christi als Bilder der unterscheidbaren, aber einen und gleichzeitigen Wirklichkeit der Kirche ließe sich noch an vielen Einzelstellen zeigen.

Relevantes für heutige Pastoral

Was ist für heutige Pastoral relevant? Das hängt wesentlich von den pastoralen Situationen und Optionen ab, die sehr unterschiedlich sein können.

Allgemein und konkret möchte ich folgende Punkte nennen:

1) Kein Kirchenbild kann ohne Ergänzung, Korrektur oder Ausbalancie­rung durch andere Bilder eine wirklich konstruktive Kraft entfalten, gerade wenn und weil es situativ oder zeitbedingt begründete Priori­täten geben kann und soll.

2) Gerade die gegenseitige Verwiesenheit und Verweisungsfähigkeit der einzelnen Bilder, auch ihre verschiedene, meist weiter entwickelte Ent­faltung oder Ausdeutung in neuen Situationen ist die Stärke der Bilder. Sie sind nicht statisch, sie stehen in einem zeitlichen Spannungsfeld von Kräften. Darin muss immer wieder nachjustiert, aber auch neu er­spürt und gefragt werden, wo die wachsenden Schwierigkeiten und neuen Chancen und Herausforderungen des Evangeliums, des Christ­seins und des Kircheseins liegen. „Kirche in der Welt von heute“ kann nicht anders, als unterwegs und in Entwicklung zu bleiben. Das wird nicht nur von außen erzwungen, sondern folgt und ergibt sich aus der Sendung der Kirche und den ihr geltenden Verheißungen, aus Gottes Zusage und Vollendungshandeln.

3) Alle Kirchenbilder sind nicht schon in sich verständlich (und anwend­bar), sondern erst aus ihrer Beziehung zu ihrem Ursprung, in ihrer Be­zie­hung zu Jesus Christus, zum Hl. Geist und zum Vater, dann auch im Verhältnis zu gegenwärtigen Entwicklungen und Dynamiken.

4) Innerhalb einer sich pluralisierenden Welt bedeutet das neben ver­mehrter Kommunikation untereinander auch wachsende Verantwor­tung (und Eigenständigkeit) der einzelnen Bereiche und Regionen der Kirche. Dezentralisierung in diesem positiven Sinne gibt das kommuni­kative und sammelnde Zentrum nicht auf, aber sieht und handelt nicht nur aus der Perspektive des Zentrums, sondern berücksichtigt auch die Perspektiven, Wahrnehmungen und Erfahrungen mit den daraus resul­tierenden Initiativen in Bereichen und Regionen. Es muss nicht nur eine Lösung derselben Frage geben, sie muss nicht unveränderlich bleiben.

5) Angesichts der ungebrochenen Globalisierung bzw. wachsenden In­terdependenz und Gegenseitigkeit der Mächte, Wirtschaften, Gesell­schaften, Kulturen, Religionen und Medien im weltweiten Maßstab (forcierte Glokalisierung) ist wirkliche Katholizität – d. h. dem Ganzen im Konkreten zu entsprechen und das Eigene real im größeren Horizont und Verbund zu betreiben – nicht nur realistisch, sondern auch die be­sondere Chance, Aufgabe und Fähigkeit der sich katholisch verstehen­den und bestimmenden Kirche(n).

6) Das gleiche Grundbild kann verschiedene Akzente und Bedeutungen enthalten, entfalten und zur Wirkung bringen und entsprechend be­nutzt werden. Konkret: Volk Gottes ist von Israel übernommen, wahrt diesen Ursprung aus und die Verbundenheit mit Israel und bewährt diese Verbundenheit kritisch in der weiteren Entwicklung. Volk Gottes erinnert an die Konstitution der Kirche durch Gott selbst und seinen (neuen) Bund, erinnert an das notwendige und fortgesetzte Unterwegs­sein dieses Volkes, das immer neu herausgefordert wird, zu werden, was es schon ist und doch noch werden muss und sein soll. Berufung seit Abraham bleibt unabgeschlossen, bleibt Aufbruch, gerade in jedem Angekommensein. Gottes Verheißungen sind noch nicht alle erfüllt, selbst schon erfüllte haben unabgegoltenes Potential (vgl. LG 13 und 17; Hebr 11).
Volk Gottes kann verdeutlichen, dass alle Völker und Menschen berufen sind zur Gemeinschaft mit Gott und untereinander; dass sie dadurch nichts verlieren, sondern anderen etwas anzubieten haben und selber lernen können, wie bereichert sie werden (können), wenn sie sich auf diese Berufung zu Gott und den anderen einlassen.
Volk Gottes kann erinnern, dass Gegenseitigkeit wie Führung, leadership wie Dienst nötig sind und in ihrer Gegenseitigkeit immer wieder auszu­balancieren sind (vgl. LG 18 sowie Israels Erfahrungen mit seinen Köni­gen, Priestern, Propheten …). Der sensus fidei und der sensus fidelium gehören zum Volk Gottes (LG 12), sind sogar Basis authentischer und verbindlicher Entscheidungen des Lehramtes.

7) So hilfreich Bilder sind: Kirche versteht sich selbst nicht aus Bildern, sondern aus Ereignissen, aus Gottes Handeln, kurz: sakramental, näm­lich als Zeichen und Werkzeug. Alle Bilder, die diesen Geschehens- und Werkzeugcharakter unterschlagen oder vernachlässigen, sind mit Vor­sicht zu genießen: Sie greifen wahrscheinlich zu kurz. Kirche wird nicht (allein) durch Bilder lebendig, sondern durch Christus und den Geist, durch Glaube, Hoffnung und Liebe, im Vertrauen und Wagnis, im Zeug­nis aller Beteiligten.

8) Ein Maßstab für alle Kirchenbilder könnte der oben zitierte Text aus SC 2 sein:
Halten die Bilder seinen Aussagen stand?
Welche Aspekte „transportieren“ sie, welche nicht?
Oder: Wie weit und wie tief sind sie mit LG 8 kompatibel?
Was übergehen, was übersehen sie?
Was entfalten sie und treiben sie voran?
Nach welcher Ergänzung (und Korrektur) rufen sie?