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Die „verbeulte Kirche“

Ekklesiologie bei Papst Franziskus

Der Blick von Papst Franziskus auf die Kirche ist nach Paul Michael Zulehner geprägt durch sein biblisch gegründetes Gottesbild. Wenn Gottes Handeln in Erbarmen an den Menschen die Messlatte für kirchliches Handeln und für kirchliche Strukturen ist, dann fordert es Akzentverschiebungen hin zu einer veränderten pastoralen Kultur des Heilens und Begleitens.

Ist der Papst konservativ oder progressiv, rechts oder links? Antonio Spadaro, Papstvertrauter und wie dieser Jesuit, hält in einem Gespräch mit dem Stimmen-der-Zeit-Herausgeber Andreas Batlogg SJ diese Frage für untauglich. Papst Franziskus passe in dieses übliche Schema nicht hinein. Viel angemessener sei für ihn die Alternative, ob er ein Ideologe oder ein Hirte sei. Ideologen verteidigen das Gesetz und wenden dieses auf Menschen an: beurteilend, verurteilend. Ein Hirte hingegen hat einen gänzlich anderen Zugang. Er kümmert sich um das Wohlergehen der Herde und sorgt sich darum, dass niemand zurückbleibt. Besonde­res Augenmerk legt er auf die kranken und schwachen Schafe. Solche alten biblischen Bilder leiten Papst Franziskus. Sie prägen sein Bild von der Kirche, der er dienend vorsteht:

„Ich träume von einer Kirche als Mutter und als Hirtin. Die Diener der Kirche müssen barmherzig sein, sich der Menschen annehmen, sie be­gleiten – wie der gute Samariter, der seinen Nächsten wäscht, reinigt, aufhebt. Das ist pures Evangelium. Gott ist größer als die Sünde. Die organisatorischen und strukturellen Reformen sind sekundär, sie kom­men danach. Die erste Reform muss die der Einstellung sein. Die Diener des Evangeliums müssen in der Lage sein, die Herzen der Menschen zu erwärmen, in der Nacht mit ihnen zu gehen. Sie müssen ein Gespräch führen und in die Nacht hinabsteigen können, in ihr Dunkel, ohne sich zu verlieren. Das Volk Gottes will Hirten und nicht Funktionäre oder Staatskleriker. Die Bischöfe speziell müssen Men­schen sein, die geduldig die Schritte Gottes mit seinem Volk unter­stützen können, so dass niemand zurückbleibt. Sie müssen die Herde auch begleiten können, die weiß, wie man neue Wege geht.“
(Spadaro 2013, 48)

Dass dies kein folgenloser Kirchentraum des Papstes ist, zeigt sein pasto­rales Handeln unübersehbar. Er realisiert seinen Traum von einer Kirche als Mutter und Hirtin vor den Augen der Welt. Bei der Vertiefung und Weiterentwicklung der Ehe- und Familienpastoral zeitigt sein Kirchen­traum konkrete Auswirkungen. Die Reaktionen darauf fielen höchst unterschiedlich aus. Sie reichen vom Aufatmen bei vielen betrof­fenen Kirchenmitgliedern bis hin zu kämpferischer Gegnerschaft bei unbetroffenen Anwälten von Lehre und Gesetz. Die Gegner schrieben „Gerechtigkeit“ auf ihren Kampfschild, Papst Franziskus trat ihnen wehrlos mit „Erbarmen“ und „Barmherzigkeit“ entgegen. Die Gegner warfen dem Papst vor, er opfere theologische Positionen seiner pasto­ralen Milde, ja Schwäche.

Der theologisch unterschätzte Papst

Genau aber in dieser Hinsicht unterschätzten die Gegner den Papst theo­logisch. Denn die Inspiration für seine Pastoral bezieht er nicht aus einer Art „Gutmenschentum“, sondern aus der Tiefe Gottes, in die er sich anhand des Evangeliums und seiner langen Auslegungsgeschichte in der Kirche unentwegt hineinmeditiert. Freilich meint er das Evange­lium ohne Zusätze und Überlagerungen, eben wie sein Namensgeber Franz aus Assisi: „vangelo senza glossa“.

Die Pastoralkultur von Papst Franziskus ist zutiefst von seinem Gottes­bild geprägt. Vermutlich versetzt genau das seine Gegner in unheilige Rage. Für sie ist Gott der strenge Richter, der Hüter von Ordnung und Gesetz. Um diesen Gott zeigen sie sich besorgt, dessen unerbittliche Gerechtigkeit in Mitleid verkomme. Sie zeigen diesbezüglich sogar Verständnis für Friedrich Nietzsche, den Propheten der Moderne, der den Tod eines solchen mitleidigen Gottes und mit ihm das Ende der Kirche wie des Papsttums verkündet hatte. In einem Vortrag auf Ein­ladung des Linzer Priesterkreises dozierte schon im Jahr 1992 der Augs­burger Systematiker Anton Ziegenaus vor Hunderten von Priestern, aber auch einer Reihe von Bischöfen:

Überlegenswert ist hier auch Nietzsches Bemerkung im vierten Teil von „Also sprach Zarathustra“: „Der letzte Papst ist außer Dienst, weil Gott gestorben ist. Gestorben ist er aber weich und mürbe und mitlei­dig, einem Großvater ähnlicher als einem Vater in seinem allzu großen Mitleid“, so Nietzsche. Er konnte nicht mehr Richter sein, denn der Liebende lebt jenseits von Lohn und Vergeltung.

Auch wenn hinter diesen Worten Nietzsches furchtbare Lehren vom Übermenschen und vom Hass auf das Mitleid mit dem Schwachen zum Vorschein kommen, ist doch zu fragen, ob nicht ein Gott, der immer nur lieben und vergeben darf, noch attraktiv genug erscheint, um als Ziel menschlichen Lebens erstrebenswert zu sein. Manchmal verliert ein solcher Gott jede männliche Persönlichkeitsstruktur.“
(Anton Ziegenaus auf der Linzer Sommerakademie, September 1992, Tonbandabschrift)

Was veranlasst gebildete Theologen zu solcher Gottesrede? Zudem: Was wird hier beiläufig über Männer ausgesagt? Verehren sie einen anderen Gott denn der Papst? Findet der Streit um Gott, der Jesus das Leben gekostet hat, eine Neuauflage? Warum beruft sich der Papst bei der Begründung seiner Pastoralkultur wiederholt auf jenes Gleichnis vom Erbarmen des Vaters mit seinen beiden verlorenen Söhnen, das Jesus den Gesetzeshütern in Israel erzählte, weil sie nicht verstehen wollten, dass Gottes innerstes Wesen, sein Mutterschoß, eben sein Erbarmen ist (vgl. Amoris laetitia 21; Misericordiae vultus 9; vgl. weiterhin Papst Franziskus’ Rede nach der Familiensynode)?

In den Gleichnissen, die von der Barmherzigkeit handeln, offenbart Jesus die Natur Gottes als die eines Vaters, der nie aufgibt, bevor er nicht mit Mitleid und Barmherzigkeit die Sünde vergeben und die Ablehnung überwunden hat. Wir kennen von diesen Bildreden drei ganz besonders: die Gleichnisse vom verlorenen Schaf und von der wiedergefundenen Drachme und das vom Vater und seinen beiden Söhnen (vgl. Lk 15,1–32). In diesen Gleichnissen wird besonders die Freude des Vaters im Moment der Vergebung betont. Darin finden wir den Kern des Evangeliums und unseres Glaubens, denn die Barmher­zigkeit wird als die Kraft vorgestellt, die alles besiegt, die die Herzen mit Liebe erfüllt und die tröstet durch Vergebung.
(MV 9)

Für Papst Franziskus ist Barmherzigkeit das „pulsierende Herz des Evangeliums“ (MV 12, AL 309). „Barmherzigkeit [ist] in der Heiligen Schrift das Schlüsselwort, um Gottes Handeln uns gegenüber zu be­schreiben. Er beschränkt sich nicht darauf seine Liebe zu beteuern, sondern er macht sie sichtbar und greifbar“ (MV 9).

Jesus hatte im Gleichnis vom verlorenen Sohn offengelassen, ob der Ältere, der „Sitzengebliebene“, der stets Gesetzestreue und moralisch Perfekte zum Festmahl ins Haus ging. Der Vater aber, sein Vater, konnte nicht anders. Denn diesem liegt nicht daran, dass der Sünder um­kommt, sondern dass Auferstehung passiert: „Dein Bruder war tot und ist auferstanden“ (anéste: Lk 15,24), erklärt der Vater dem Gesetzes­treuen. Das ist Gottes „Logik“, Menschen aus den vielen Toden zu erret­ten und sie zu nähren in ihrem Hunger nach Leben (vgl. Ps 33). Gott trägt das Antlitz des Erbarmens. Gott ist Erbarmen. Und diese ist iden­tisch mit seiner Gerechtigkeit. Im Babylonischen Talmud kommt dieses innerste Wesen Gottes erzählerisch in berührender Weise zum Vorschein:

Zwölf Stunden hat der Tag; in den ersten drei Stunden sitzt der Heili­ge, gebenedeiet sei er, und befasst sich mit der Gesetzeslehre, in den anderen sitzt er und richtet die ganze Welt, und sobald er sieht, dass die Welt die Vernichtung verdient, erhebt er sich vom Stuhl des Rechts und setzt sich auf den Stuhl der Barmherzigkeit; in den dritten sitzt er und ernährt die ganze Welt, von den gehörnten Büffeln bis zu den Nissen der Läuse; in den vierten sitzt der Heilige, gebenedeiet sei er, und scherzt mit dem Levjathan, denn es heißt: „Der Levjathan, den du geschaffen hast, um mit ihm zu spielen!“
(Babylonischer Talmud, Traktat Avoda zara [Vom Götzendienst] 3b, 801)

Wie der Vater werden

Wer also verstehen will, für welche Kirche Papst Franziskus steht, muss sich zuallererst in sein Gottesbild eingraben. Alles Weitere folgt von selbst. Denn wenn die Kirche sich den Ehrentitel „Volk Gottes“ zueig­net, dann ist das Handeln Gottes, wie es in Jesus enthüllt worden ist, maßgeblich. Es gibt den Maßstab vor. Und wenn Gott ein Gott des Erbar­mens ist, kann eben auch die Kirche nicht anders, als ein Ort des Erbarmens zu sein. Ihre einzige Aufgabe ist es, dieses Erbarmen Gottes sinnenhaft erfahrbar zu machen. Die Kirche steht damit vor keiner ge­ringeren, schier unerfüllbaren Herausforderung, in all ihrem pastoralen Tun „zärtlich“ „wie der Vater zu werden“.

Gott selbst ist also der Schlüssel zur Ekklesiologie des Papstes Franzis­kus. Kein Kirchenbild ohne Gottesbild! Und wen seine Ekklesiologie und sein pastorales Erbarmen irritieren, sollte sich weniger auf Dogmen und Normen und schon gar nicht auf Friedrich Nietzsche berufen, sondern sich auf das abgrundtiefe Erbarmen Gottes einlassen. Und wenn es je­manden stört, dass Franziskus’ Kirchenbild und Pastoralkultur das Leben und Wirken der Kirche „revolutioniere“, dann hat dies damit zu tun, dass sich die Kirche und ihr Tun im Lauf der Zeit zu weit von diesem revolutionären Grund des Evangeliums entfernt haben. Dabei war nicht alles verkehrt an der traditionellen Pastoralkultur. Aber Franziskus verschiebt offenkundig einige gewichtige Akzente, um zu erreichen, dass die Kirche in ihrem Tun wieder entschiedener an ihrem Gott selbst Maß nimmt. Einige dieser Akzentverschiebungen sollen skizziert werden. Sie konkretisieren das Kirchenbild des Papstes und prägen die Pastoralkultur.

Von der Sünde zur Wunde

Natürlich weiß der Papst aus Lateinamerika um den „Schrei der Ar­men“. Ihm gehen „Sünden“ nahe, die „zum Himmel schreien“. Solche Sünden werden im Kontext des Reichtums leicht vergessen. Nicht so der Papst, der sich als Anwalt der Armgemachten versteht. Sehr wohl klagt er soziale Sünden an, verwendet den Begriff der strukturellen Sünde, fordert deren Überwindung durch eine Politik zu Gunsten von mehr Ge­rechtigkeit. Er kennt auch ökologische Sünden, die er aber immer mit sozialen im dämonischen Zusammenspiel sieht.

Sünde aber ist für ihn weniger die Verletzung von Gesetzen und Obrig­keiten. Vielmehr werden die Natur, andere Menschen, Gesellschaften durch „Sünden“ verwundet. Er spricht daher – vor allem mit Blick auf den einzelnen Menschen – vornehmlich von Wunden, die aus einem unentflechtbaren Gemenge von Schuld und Tragik geschlagen werden. Die größte Wunde des Menschen aber, so seine Anleihe bei den grie­chischen Kirchenvätern, ist die Wunde des Todes.

Von diesem zentralen Punkt aus verschieben sich viele Akzente. Der Papst führt die Menschen nicht mehr in den Gerichtssaal, sondern in ein Feldlazarett. Er moralisiert nicht, sondern will eine heilende Kirche, eine, die nicht verurteilt und beurteilt und notfalls „hinrichtet“ – mora­lisch, wenn auch nicht mehr physisch –, sondern die aufrichtet. Die ge­samte Dynamik läuft nicht auf Ausschließen hinaus, auf Exkommuni­kation, sondern auf Hereinholen, Integration, Inklusion. Unvergesslich sein Werben um eine solche heilende Kirche:

„Ich sehe ganz klar“ – fährt er fort –, „dass das, was die Kirche heute braucht, die Fähigkeit ist, Wunden zu heilen und die Herzen der Men­schen zu wärmen – Nähe und Verbundenheit. Ich sehe die Kirche wie ein Feldlazarett nach einer Schlacht. Man muss einen Schwerverwun­deten nicht nach Cholesterin oder nach hohem Zucker fragen. Man muss die Wunden heilen. Dann können wir von allem anderen spre­chen. Die Wunden heilen, die Wunden heilen … Man muss ganz unten anfangen.“
(Spadaro 2013, 47)

Vom Gesetz zum Gesicht

„Ganz unten anfangen“ heißt aber konkret auch immer: „beim einzel­nen Menschen“ anfangen. Der Papst versteht sich daher nicht als Ord­nungshüter, sondern weit mehr als Arzt, wie Gott als Arzt (Ex 15,26) gilt und Jesu überkommener Ehrentitel „Heiland“ ist. Der Sabbat ist für den Menschen da und nicht umgekehrt (Mk 2,27) – wobei eben das Sabbat­gebot das heiligste aller Gebote in Israel war. Aber der heilungsbedürf­tige Mensch hat für Jesus Vorrang vor dem noch so heiligen Gesetz. Gesetzeshüter, die den für Gott so kostbaren einzelnen Menschen aus dem Auge verlieren, geißelt Papst Franziskus mit jesuanischer Strenge:

Daher darf ein Hirte sich nicht damit zufriedengeben, gegenüber de­nen, die in „irregulären“ Situationen leben, nur moralische Gesetze anzuwenden, als seien es Felsblöcke, die man auf das Leben von Men­schen wirft. Das ist der Fall der verschlossenen Herzen, die sich sogar hinter der Lehre der Kirche zu verstecken pflegen, „um sich auf den Stuhl des Mose zu setzen und – manchmal von oben herab und mit Oberflächlichkeit – über die schwierigen Fälle und die verletzten Familien zu richten“. Auf derselben Linie äußerte sich die Internatio­nale Theologische Kommission: „Das natürliche Sittengesetz sollte also nicht vorgestellt werden als eine schon bestehende Gesamtheit aus Regeln, die sich a priori dem sittlichen Subjekt auferlegen, son­dern es ist eine objektive Inspirationsquelle für sein höchst personales Vorgehen der Entscheidungsfindung.“ Aufgrund der Bedingtheiten oder mildernder Faktoren ist es möglich, dass man mitten in einer objektiven Situation der Sünde – die nicht subjektiv schuldhaft ist oder es zumindest nicht völlig ist – in der Gnade Gottes leben kann, dass man lieben kann und dass man auch im Leben der Gnade und der Liebe wachsen kann, wenn man dazu die Hilfe der Kirche bekommt. Die Unterscheidung muss dazu verhelfen, die möglichen Wege der Antwort auf Gott und des Wachstums inmitten der Begrenzungen zu finden. In dem Glauben, dass alles weiß oder schwarz ist, versperren wir manchmal den Weg der Gnade und des Wachstums und nehmen den Mut für Wege der Heiligung, die Gott verherrlichen. Erinnern wir uns daran, dass „ein kleiner Schritt inmitten großer menschlicher Begrenzungen […] Gott wohlgefälliger sein [kann] als das äußerlich korrekte Leben dessen, der seine Tage verbringt, ohne auf nennens­werte Schwierigkeiten zu stoßen“. Die konkrete Seelsorge der Amts­träger und der Gemeinden muss diese Wirklichkeit mit einbeziehen.
(AL 305)

Vom Beurteilen zum Begleiten

Ganz auf dieser Linie liegt auch die Akzentverlagerung vom (objektiven) Beurteilen der Menschen und ihrer Lebenslagen hin zum Begleiten der gewissenhaften Menschen bei der Erkenntnis ihrer Lage vor Gott und beim Bemühen, wenn auch noch so kleine Schritte in Richtung eines am Evangelium ausgerichteten Lebens zu machen.

Beim Plädoyer für das Gewissen entgeht natürlich dem Papst nicht, dass dieses wie jede Erkenntnis durch Macht und Interesse „verschattet“ sein kann, worauf sein Vorgänger, Papst Benedikt, im Anlehnung an Jürgen Habermas verwiesen hatte (vgl. Deus caritas est 28). Aber mehr als seine Vorgänger vertraut der Papst dem Wirken des Heiligen Geistes im Leben eines jeden einzelnen Menschen. Und der Ort dieser Gottesgegenwart ist eben das „Gewissen“. Lakonisch schreibt deshalb Papst Franziskus:

Wir tun uns ebenfalls schwer, dem Gewissen der Gläubigen Raum zu geben, die oftmals inmitten ihrer Begrenzungen, so gut es ihnen möglich ist, dem Evangelium entsprechen und ihr persönliches Unter­­scheidungsvermögen angesichts von Situationen entwickeln, in de­nen alle Schemata auseinanderbrechen. Wir sind berufen, die Gewis­sen zu bilden, nicht aber dazu, den Anspruch zu erheben, sie zu ersetzen.
(AL 37)

Dieser Respekt vor dem Gewissen geht nicht ohne Anerkennung von oftmals höchst fragmentarischen „Erfolgen“ der einzelnen Menschen auf ihrem Weg zu Gott. Mit Hilfe des Gesetzes der Gradualität wirbt Papst Franziskus, auch noch so kleine Fragmente zu würdigen. Und all diese fragmentarischen Versuche, das Evangelium zu leben, sind Teil der pilgernden Kirche. Die Pastoral ermutigt und unterstützt dabei, diese Fragmente durch erfahrene Seelsorgerinnen und Seelsorger zu schützen, weiter zu entfalten – oder manchmal zu verhindern, dass sie sich noch weiter verkleinern. Eine solche Kirche ist im realen Leben angekommen. Sie hat die enthobene Erhabenheit ihrer Lehrbücher und die bittere Unerbittlichkeit ihrer Gesetzbücher verlassen. Sie setzt sich einer drastischen Kenosis (Entäußerung; d. H.) aus, lässt das Erhabene zurück. Papst Franziskus sucht eben nicht die erhabene Kirche der Per­fekten und Reinen, sondern hat sich mit einer verletzten, beschmutzten und verbeulten Kirche angefreundet:

Ich wiederhole hier für die ganze Kirche, was ich viele Male den Pries­tern und Laien von Buenos Aires gesagt habe: Mir ist eine „verbeulte“ Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinaus­gegangen ist, lieber, als eine Kirche, die aufgrund ihrer Ver­schlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicher­heiten zu klam­mern, krank ist. Ich will keine Kirche, die darum be­sorgt ist, der Mittel­punkt zu sein, und schließlich in einer Anhäu­fung von fixen Ideen und Streitigkeiten verstrickt ist. Wenn uns etwas in heilige Sorge versetzen und unser Gewissen beunruhigen soll, dann ist es die Tatsache, dass so viele unserer Brüder und Schwestern ohne die Kraft, das Licht und den Trost der Freundschaft mit Jesus Christus leben, ohne eine Glaubensge­meinschaft, die sie aufnimmt, ohne einen Horizont von Sinn und Leben. Ich hoffe, dass mehr als die Furcht, einen Fehler zu machen, unser Be­weggrund die Furcht sei, uns einzuschließen in die Strukturen, die uns einen falschen Schutz geben, in die Normen, die uns in unnachsichtige Richter verwandeln, in die Gewohnheiten, in denen wir uns ruhig füh­len, während drau­ßen eine hungrige Menschenmenge wartet und Jesus uns pausenlos wiederholt: „Gebt ihr ihnen zu essen“ (Mk 6,37).
(Evangelii gaudium 49)