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Kirchenaustritt – oder nicht?

Studie zu Kirchenaustritt und Kirchenverbleib des Bistums Essen

Die hohe Zahl der Kirchenaustritte beschäftigt alle deutschen Bistümer und Landeskirchen seit Langem. Entsprechend gut besucht von kirchli­chen Verantwortlichen aus ganz Deutschland war die Tagung „Should I Stay… or Should I Go?“ in Mülheim/​Ruhr (28.2./​1.3.2018) anlässlich des Erscheinens der hier zu besprechenden Studie.

Unter dem Titel „Kirchenaustritt – oder nicht?“ verbergen sich eigent­lich gleich drei Studien. Erstellt wurden sie im Auftrag des Bistums Essen. Dieses junge Bistum ist in besonderem Maße von Kirchensteuer­einnahmen abhängig – und gibt offen zu, dass eben auch finanzielle Interessen dahinterstehen, wenn im Rahmen des Bistumsprozesses die Hintergründe von Kirchenaustritten, aber auch von Kirchenbindung in den Blick genommen werden. Zudem spüre man aber auch früher als in anderen Bistümern gesellschaftliche Entwicklungen. Insofern nehmen die vorliegenden Untersuchungen eine gewisse Vorreiterrolle ein. Das Bistum Essen zeigt sich sehr dialogorientiert – und will gerade auch mit Ausgetretenen und Kirchenfernen ins Gespräch kommen: „Gottes Geist wirkt auch durch sie und spricht in unsere Kirche hinein“ (10), wie Generalvikar Klaus Pfeffer im Vorwort schreibt.

Zwar wird an manchen Stellen der Blick auf das Bistum Essen fokus­siert, doch beziehen sich die Analysen weitgehend auf Deutschland bzw. den deutschsprachigen Raum. Bistumsbezogen ist vor allem das erste Kapitel (vor den eigentlichen Studien): „Warum sich das Bistum Essen um die (fast) Ausgetretenen bemüht“. Es zeichnet den Prozess der Kirchenentwicklung im Bistum in den letzten Jahren nach, in dessen Zentrum das „Zukunftsbild“ von 2013 steht. Damit dieses Zukunftsbild praktische Wirkung zeigt, wurden neben einem Pfarreienentwicklungs­prozess und einem Gesprächsprozess der pastoralen Dienste auch 20 Pro­jekte angestoßen: zu neuen Gottesdienstformen, zur Willkom­menskultur in Kirchengemeinden, zum Dialog mit der Kommunalpoli­tik, zu Zentren für Tod und Trauer etc. Eines dieser Projekte ist eine Initiative für den Verbleib in der Kirche: „Dieses Projekt fragt, warum Katholik(inn)en ihre Kirche verlassen – und warum ihr andererseits auch viele Menschen die Treue halten. Es entwickelt Ideen, wie Men­schen künftig in der Kirche gehalten und vielleicht auch neue Mitglieder hinzugewonnen werden können. Aus diesem Projekt ist die vorliegende Studie entstanden“ (32).

Ebenfalls in diesem Kapitel finden sich einige grundsätzliche Einsichten zum Thema Kirchenaustritt – mit Blick speziell auf die Situation im Bistum Essen, die aber vermutlich nicht ganz unähnlich zur Situation in anderen Bistümern ist. So sollte man nicht nur auf die absoluten Zahlen der Ausgetretenen schauen, sondern auch auf die Zahl der Ausgetrete­nen im Verhältnis zur Gesamtzahl der Kirchenmitglieder (die ja im Lau­fe der Jahrzehnte deutlich zurückgegangen ist); dann stellt man näm­lich gegenüber den absoluten Zahlen eine deutlich größere Steigerung fest: Betrug der Anteil der Ausgetretenen gemessen an der Gesamtmit­gliederzahl in den 1970er Jahren für das Bistum Essen nur etwa 0,3 % pro Jahr, so waren es in den 2010er Jahren über 0,4 % pro Jahr (mit einer Spitze von 0,92 % im Jahr 2014; vgl. Abb. 5 auf S. 42). Weiterhin treten die meisten im frühen Erwachsenenalter aus (z. B., wenn zum ersten Mal auf dem Lohnzettel der Kirchensteuerabzug erscheint) – was für die „Karriere“ als Kirchensteuerzahler natürlich besonders folgen­reich ist (vgl. Abb. 6 auf S. 51).

Meta-Studie zu Dimensionen der Kirchenbindung

„Es gibt zwar […] eine Reihe von Studien zur Zufriedenheit der Gläubi­gen. Allerdings existiert weder eine veröffentlichte Synopse noch eine Meta-Studie, die Schlüsse aus den Studienergebnissen zieht und Hand­lungsstrategien gegen den vermehrten Austritt aus der Kirche ermög­licht“ (52). Vor diesem Hintergrund ist am Zentrum für angewandte Pastoralforschung (ZAP) an der Uni Bochum die Untersuchung von Björn Szymanowski in Zusammenarbeit mit Benedikt Jürgens und Matthias Sellmann entstanden – die erste der drei Studien, die in die­sem Buch zusammengestellt sind und die verschiedenen Forschungs­desideraten begegnen sollen.

Für die Meta-Studie wurden einige Dutzend (quantitative und qualita­tive) Studien und Publikationen ausgewertet. Grundsätzlich ist festzu­stellen: „Die Entscheidung zum Kirchenaustritt wird nur in den selten­sten Fällen spontan getroffen. In der Regel geht ihr ein langjähriger Pro­zess der Entfremdung voraus“ (73). Eine Rolle spielen Lebenslaufeffekte (z. B. Berufseinstieg), aber auch Periodeneffekte (das Auf und Ab der Austrittszahlen verläuft bei Katholiken und Protestanten weitgehend parallel!). Insgesamt wird aber auch bei hoher Entfremdung die Ent­scheidung für einen Austritt nicht leicht getroffen. Dagegen kommt für Konfessionslose bzw. Ausgetretene ein (Wieder‑)​Eintritt kaum in Frage.

Für die nähere zusammenfassende Auswertung der in den evaluierten Studien behandelten Faktoren der Kirchenbindung orientierte sich die Meta-Studie „an dem Modell der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring“ (59), wobei auf induktivem Wege Katego­rien gebildet werden. So wurden die vielfältigen Befunde schließlich in sieben Kategorien der Kirchenbindung mit diversen Unterkategorien eingeordnet.

  • Die individuelle Dimension geht darauf ein, was für das Individuum in affektiver und spiritueller Hinsicht bedeutsam ist für die Kirchen­bindung. So sind z. B. für „viele Christinnen und Christen […] ihr Glau­be und ihre Religiosität […] ein bedeutender Grund, in der Kir­che zu verbleiben“ (79). „Der Glaubensverlust ist für die Mehrheit der Ausgetretenen aber kein Austrittsgrund“ (ebd.). „Kirche als Heimat“ ist vor allem für bestimmte Milieus relevant, auch die Sinngebungs­funktion von Kirche ist nur für eine Minderheit bedeutsam.
  • Die interaktive Dimension erfasst, welche Bedeutung die Interaktion von Individuen für die Kirchenbindung haben kann. Das Gemein­schaftsgefühl in der Kirche wird z. B. als ein „Nice-to-have“ (83), also als sekundär eingestuft. Wesentlich ist dagegen die religiöse Soziali­sation, ebenso die Beziehung zur Kirche im sozialen Umfeld (Eltern, Partner, Kinder, Freunde). Ehrenamtliche Tätigkeit fällt dagegen als Mitgliedschaftsgrund weitgehend aus.
  • Die gesellschaftliche Dimension blickt auf das kirchliche Auftreten in der Gesellschaft: Wie wirken sich Lehre, karitatives und kulturelles Engagement sowie gesellschaftspolitische Positionierungen auf die Kirchenbindung aus? Auch wenn christliche Werteorientierung nach wie vor geschätzt ist, gehören die „kirchlichen Normen zu Familie, Sexualmoral und Frauen“ (92) zu den gewichtigsten Austrittsgrün­den. Dagegen ist das karitative Tun nicht unbedeutend für den Kir­chenverbleib und auch für Kircheneintrittsüberlegungen. Ähnlich ist der politische Einsatz für eine humanere Welt bindungsfördernd. „Die Beteiligung an politischen Grundsatzfragen hat hingegen ein stark bindungsirritierendes Potential“ (97). Unbedeutend für Kir­chen­bindung sind dagegen kulturelle Angebote.
  • Bei der liturgischen Dimension zeigt sich, dass der Sonntagsgottes­dienst für Kirchenbindung nicht ausschlaggebend ist – dagegen sehr wohl Hochfeste wie Weihnachten sowie Kasualien.
  • Die strukturelle Dimension behandelt die kirchliche Organisation und Arbeit vom Vatikan bis hin zu den Gemeinden. Die hierarchi­schen Strukturen erscheinen durchaus als Austrittsgrund. Dagegen ist die lokale Ebene ambivalent: Positiven Erfahrungen mit einzelnen Seelsorgern stehen Enttäuschungen gegenüber. Freilich: „Konkrete Begegnungen mit kirchlichem Personal sind meist kein Austritts­grund“ (106).
  • Unter der finanziellen Dimension erscheint natürlich die Kirchen­steuer als „einer der am häufigsten genannten Austrittsgründe“ (109), die allerdings meist nicht die Ursache, sondern der Auslöser für einen Austritt ist. Inwieweit der Umgang der Kirche mit ihren Finan­zen und ihr „Reichtum“ sich auf die Bindung auswirken, ist noch nicht ausreichend erforscht.
  • Die kommunikative Dimension umfasst zwar auch die kirchlichen Medien. Aber es ist die als mangelhaft empfundene Modernität der Kirche, darüber hinaus das Gesamt-Image der Kirche (beschädigt insbesondere auch durch den Missbrauchsskandal), die die Kirchen­bindung erheblich stören.

Der Durchgang durch die verschiedenen Dimensionen stellt vielfältige Ergebnisse aus verschiedenen Studien zusammen, die allerdings nur schwer miteinander zu vergleichen sind. Nur teilweise werden Faktoren als bedeutsam oder als vernachlässigenswert gekennzeichnet, häufig bleibt die Bewertung schwammig. Eine Grafik (wie auf der Tagung prä­sentiert), die die wichtigsten Elemente der Kirchenbindung zusammen­stellt, wäre wünschenswert gewesen. Allerdings hebt eine fünfseitige Konklusion einige Schlaglichter hervor und gibt – auch mit Blick auf verschiedene Milieus – wichtige Hinweise für „eine Kirche, die zum Verbleib einlädt“ (117).

Explorative Untersuchung zu Austrittsmotiven

Die Studie von Ulrich Riegel, Thomas Kröck und Tobias Faix beginnt ebenfalls mit einer – freilich knappen – Auswertung bereits bestehen­der Studien, hier jetzt jedoch mit speziellem Blick auf Austrittsmotive. Das Ergebnis liegt auf einer Linie mit der vorher behandelten Studie von Szymanowski/​Jürgens/​Sellmann, wenn es „eine relativ stabile Liste an Austrittsmotiven“ konstatiert, „deren Kern die Entfremdung gegenüber der Kirche, der Ärger über Positionen der Kirche in politischen und ethi­schen Fragen, das negative Erscheinungsbild der Kirche, die Kirchen­steuer und persönlich enttäuschende Erlebnisse mit der Kirche oder ihren Vertreterinnen und Vertretern darstellen“ (131). Die jetzt erstellte Untersuchung will jedoch mehr in die Tiefe gehen, indem sie nicht nur die Vielfalt an Austrittsmotiven und die Verknüpfung einzelner Motive bei den Befragten, sondern auch die biographische Verankerung dieser Motive erforscht. Dabei bemühte man sich, v. a. Studienteilnehmer aus dem Gebiet des Bistums Essen zu rekrutieren.

Daraus ergibt sich ein zweigeteiltes Studiendesign (das – wie auch sonst das methodische Vorgehen – ausführlich und auch für Laien nachvoll­ziehbar dargestellt wird):

  • Zum einen sollte ein Online-Fragebogen „ein möglichst differenzier­tes Spektrum an Austrittsmotiven […] erstellen“ (134). Das zentrale Item lautet: „Ich bin aus der Kirche ausgetreten, weil …“. Von 421 Fragebögen enthielten 306 Angaben zum Austrittsgrund und flossen in diese quantitative, nicht repräsentative Untersuchung ein.
  • Zum anderen wurden mit acht Ausgetretenen Leitfadeninterviews mit narrativem Einstieg geführt: Aus Bildern und Zetteln mit einzel­nen Wörtern (z. B. Freiheit, Spaß, Ich, Wissenschaft, Wahrheit) konn­ten die Befragten eine Collage zu ihrer Lebens- und Glaubensge­schichte erstellen (diese Collagen sind im Buch abgebildet). Die drei Frauen und fünf Männer, die interviewt wurden, sind überdurch­schnittlich alt (51 Jahre) bei einem überdurchschnittlich hohen Bildungsniveau. „Bis auf eine Ausnahme wohnen alle Befragten in einem städtischen Umfeld“ (142).

Der Fragebogen erbrachte zwölf Kategorien von Austrittsmotiven (mit etlichen Unterkategorien: „Kirchensteuer“, „Entfremdung/​fehlende Bindung“, „rückständige Haltung der Kirche“, „Erscheinungsbild der Kirche“, „Glaubenszweifel“, „persönlich enttäuschendes Erlebnis“, „Skandale“, „Diskrepanz zu ethischen Positionen der Kirche“, „Frauen­bild der Kirche“, „Kirche verfehlt ihren Sendungsauftrag“, „man braucht die Kirche nicht, um an Gott zu glauben“ sowie „Zölibat“. Die Autoren der Studie machen „drei große thematische Linien“ (161) aus: „Entfremdung bzw. fehlende Bindung“, „aus der Zeit gefallen“ sowie „Unglaubwürdig und machtbewusst“ (162, im Original kursiv). Auch bezüglich der Einschätzung der Kirchensteuer zeigt sich keine Diskre­panz zur Meta-Studie, wenn diese mehr als Anlass für den Austritt denn als Grund eingestuft wird.

Die Ergebnisse der acht Interviews korrelieren in vielem mit der Frage­bogenuntersuchung, so dass sich ein „idealtypisches Modell des Kir­chen­austritts“ erstellen lässt (vgl. Abb. 9 auf S. 188): Ausgangspunkt ist die Mitgliedschaft durch Kindertaufe sowie eine unterschiedlich starke religiöse Sozialisation; verschiedene Motive (Glaubenszweifel, Diskre­panz zu kirchlichen Positionen und Haltungen) führen zu einem be­stimmenden Austrittsmotiv: Entfremdung bzw. von Anfang an fehlen­de Bindung; der Kirchenaustritt erfolgt dann nach einem Anlass (Kir­chensteuer, persönliches enttäuschendes Erlebnis mit der Kirche).

Die Autoren geben selbst zu, dass die von ihnen gefundenen Austritts­motive weitgehend mit früheren Studien übereinstimmen. Sie stellen aber auch einige Motive heraus, die in jüngerer Zeit an Bedeutung ge­wonnen haben: kirchliche Skandale sowie die Überzeugung, „dass man für den eigenen Glauben die Kirche nicht brauche“ (192); und schließ­lich gibt es auch noch eine Gruppe von Menschen, „die aus der Kirche austreten, weil Letztere nicht mehr fromm und spirituell genug ist und somit ihren göttlichen Auftrag verfehlt“ (193). Bestätigen können die Forscher auch die These, dass der Kirchenaustritt ein längerer Prozess ist. Weiterhin finden sie Indizien für vier unterschiedliche Theorien des Kirchenaustritts: Austritt als Reaktion auf institutionelle Ereignisse, als Reaktion auf einen Traditionsabbruch, als Folge eines Kosten-Nutzen-Kalküls sowie zur Sicherung des eigenen Autonomiebedürfnisses gegen die Kirche.

Abschließend wird thesenartig eine Reihe von Handlungsempfehlungen entwickelt: etwa eine offizielle Beschwerdestelle einzurichten, um ne­ga­tive Erfahrungen aufzufangen; in die Ausbildung von Hauptamtli­chen ein Modul einzubauen, wie man Kirchenferne erkennt und an­spricht; ein sensibler Umgang mit „Sollbruchstellen“, die zum Austritt führen können (z. B. Homosexualität, Wiederheirat von Geschiedenen); oder die Kirche könnte eine „symbolische Führungsrolle“ bei einem „gesellschaftlich relevanten Ereignis“ einnehmen und damit ihr Er­scheinungsbild aufbessern (204).

Theologische Reflexionen zu einer pluralitätsfähigen Kirche

Die dritte Studie hat einen anderen Charakter: Es handelt sich nicht um die Auswertung von empirisch erhobenen Daten, sondern um eine sys­tematisch-theologische Reflexion durch Jan Niklas Collet, Thomas Eggensperger und Ulrich Engel vom Institut M.‑Dominique Chenu in Berlin.

Ausgangspunkt ist die Frage: „wenn die eingespielten kirchlichen Denk- und Handlungsmuster heute immer weniger tragen, wie kann und soll die Kirche ihre Sendung dann auf neuen Wegen erfüllen?“ (209). Dazu zeichnen die Autoren zuerst die Erosion der „Pastoral der Rahmung“ (Philippe Bacq) nach: Vergemeinschaftung und Erfassung der Gläubigen in Territorialgemeinden, verbunden mit entsprechender (amts-)kirch­licher Pastoral- und Biographiemacht. Mittlerweile zeigt sich, „dass die klassischen Formen pastoralen Handelns und kirchlicher Kommunika­tion volle Zustimmung fast nur noch im konservativ-traditionellen Milieu finden“ (217). Angesichts von Säkularisierung und dem religiös selbstermächtigten Subjekt trägt ein Pastoralkonzept nicht mehr, „das auf dauerhafter Zugehörigkeit und institutioneller Kontrolle beruht“ (219). „Damit kommt es insgesamt zu hoch pluralen Formen des Glau­benslebens, die sich nicht mehr in die eingespielte volkskirchliche Nor­malvorstellung einer unmittelbaren Verbindung zwischen Kirchlichkeit und Religiosität einordnen lassen“ (221 f.).

Vor diesem Hintergrund stellen die Autoren eine Interpretation dieser Pluralisierungsprozesse vor, die darin nicht nur einen Niedergang, son­dern auch ein befreiendes Moment entdeckt. Dazu blicken sie auf die Bibel. Schon bei Jesus sind unterschiedliche Formen der Nachfolge zu entdecken: der mitwandernde Jüngerkreis, aber auch UnterstützerIn­nen und SympathisantInnen. Auch weitere biblische Erzählungen (etwa den Turmbau zu Babel, das Gleichnis vom barmherzigen Samariter oder die Begegnung Jesu mit der syro-phönizischen Frau) lesen die Autoren als Zeichen dafür, dass Pluralität von Gott gewollt und „die Kategorie der Zugehörigkeit theologisch zunächst nebensächlich ist“ (230). Dieses Bild übertragen die Autoren auf die heutige Situation der Kirche und werten die „Pluralisierung der Lebensformen als Befreiung von der Kirche“ (228) sowie die „Pluralisierung der Lebensformen als Befreiung der Kirche“ (230) von bestimmten verfestigten Bildern positiv. Freilich hätte diese biblische Reflexion und durchaus gewagte Thesenbildung eine umfassendere Untersuchung – gerade auch im Blick auf mögliche Einwände und Gegenargumente – gebrauchen können.

Die Autoren der Studie plädieren jedenfalls auf dieser biblischen Grund­lage für ein Bild von Kirche als lernender Organisation, die Pluralität wertschätzt, aber freilich „nicht unterschiedslos, sondern zweckgebun­den“ (238), die einen wachen Blick zur Unterscheidung der Geister aufweist und die vor dem Hintergrund der Ambivalenzen der pluralen Gesellschaft auch einmal klar Nein sagen kann.

Aber welche soziale Gestalt passt zu einer solchen pluralen, lernenden Kirche? Dazu legen die Autoren das Modell der sozialen Bewegung an die Kirche an. Soziale Bewegungen heben sich von formalen Organisa­tio­nen/​Institutionen ab: durch den Verzicht auf klare Mitgliedschafts­zuschreibungen und auf eine Hierarchie, durch erstpersönliche Motiva­tion, indem eine bestimmte Situation in bestimmter Weise gedeutet und nur so handlungsleitend wird, sowie durch die Einbettung in soziale Netzwerke. Zwar lässt sich Kirche nur in begrenztem Maße als Bewegung beschreiben – allein das Reich Gottes als Zweck der Kirche gehe, so die Autoren, über die sozialen Forderungen, die sonst Bewe­gungen kennzeichnen, hinaus. Doch gerade mit Blick darauf, dass Kirche in der Moderne ihre Sanktionsmacht verloren hat, werde der Kirche „kaum etwas übrig bleiben, als zu verfahren und sich zu ver­stehen wie eine Bewegungsorganisation, die Teil einer die formalen Grenzen der eigenen Organisation in vielfältiger Weise überschreiten­den Sozialen Bewegung ist“ (248). Das vertiefen die Autoren noch ein­mal mit einem Rückgriff auf die Bibel, mit einer Deutung der Jesusbe­wegung als soziale Bewegung und im Blick auf deren Umgang mit De­privationen im Horizont der Reich-Gottes-Botschaft: Wenn die Verkün­digung die Verbindung zu den konkreten Anliegen der Menschen ver­liert, „degenerieren die Worte der befreienden Botschaft“ (259).

Also: „Ein pluralitätsfähiges Kirchenbild negiert […] nicht die institu­tionell verfasste Kirche. Im Mittelpunkt der ekklesiologischen Reflexion mit dem Ziel eines solchen Kirchenbildes steht jedoch eine andere Metapher als die der Institution/​formalen Organisation“ (257). Was bedeutet das konkret? Diese Frage lässt sich nur ansatzhaft beantwor­ten – doch nehmen sich Collet/​Eggensperger/​Engel deutlich mehr Platz für „Ausblick und Handlungsempfehlungen“ als die beiden Studien zuvor, auf die die Autoren ebenso zurückgreifen wie auf beispielhafte Projekte aus dem Zukunftsbildprozess des Bistums Essen; unter „bin­dungsstärkende Faktoren“ gehen sie besonders auf Kasualien und sozial-karitatives Engagement ein, unter „bindungsirritierende Fakto­ren“ auf die Kirchenfinanzierung sowie auf Glaubenszweifel, wobei sie auf eine Verbesserung der Verkündigung setzen, die Verbindung zur Erfahrung der Menschen haben soll.

Schlussfolgerungen aus den Studien

Die drei Studien im Buch werfen verschiedene Schlaglichter, treffen sich aber in vielen Aussagen – auch, was die verschiedenen gegebenen Handlungsempfehlungen betrifft. Ein letzter, kurzer Abschnitt zieht ein erstes Fazit – insbesondere für das Bistum Essen, aber auch für ganz Deutschland.

Vor allem werden drei weiter untergliederte „Entwicklungsfelder“ skizziert:

  • Qualität der Pastoral: z. B. Sakramente und Kasualien, Angebote zur Kontingenzbewältigung, Willkommenskultur
  • Mitglieder-Management: z. B. alternative Modelle der Kirchenfinan­zierung, Mitbestimmung bei Finanzen, differenzierte Formen der Beteiligung und des Engagements, Kommunikation nach Austritt
  • Image und Identität der Kirche: z. B. Modernisierung in heiklen Themen, Innovationsmanagement

Damit sind freilich Herausforderungen für Kirchenentwicklung nur benannt, Konkretisierungen müssen folgen. Interessant sind aber die (knappen) Hinweise, dass nicht nur Hauptberufliche, sondern auch Ehrenamtliche eine besondere Sensibilität für Menschen brauchen, die kaum mit Kirche in Berührung kommen, und dass es sich lohnt, wenn die vielen Träger von Hilfsangeboten, die häufig gar nicht mit Kirche assoziiert werden, gemeinsam als kirchliches Angebot kommuniziert werden.

Etscheid-Stams, Markus/​Laudage-Kleeberg, Regina/​Rünker, Thomas (Hg.), Kirchenaustritt – oder nicht? Wie Kirche sich verändern muss, Freiburg im Breisgau: Herder 2018, ISBN: 978-3-451-38071-6, 308 Seiten, € 25,00.

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