Unterwegs in der City
Citypastoral ist im Kontext verschiedener pastoraler Ansätze und Felder eine relativ junge Entwicklung. Vor rund 20 Jahren entstanden die ersten Einrichtungen (z. B. das Domforum Köln 1995). Heute sind im Netzwerk Citykirchenprojekte 95 Einrichtungen zusammengeschlossen. Citypastoral versteht sich als Antwort auf kirchliche und gesellschaftliche Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, auf die die traditionelle Gemeindepastoral nicht mehr angemessen reagieren kann.
In den Städten findet der Zuwachs der Weltbevölkerung statt. Im Jahr 2050 werden 75 % der Menschen in Städten wohnen. Am augenfälligsten zeichnet sich diese Entwicklung mit all seinen sozialen Herausforderungen in den Megacitys der südlichen Hemisphäre ab. Hier handelt es sich in der Hauptsache um Armutsmigration: die Stadt als das große Versprechen, sein Glück machen zu können. In Deutschland spricht man seit einigen Jahren von der Reurbanisierung. Es geht nicht mehr „hinaus aufs Land“, vielmehr genießt städtisches Wohnen wieder große Attraktivität. 74 % der Deutschen leben in Städten mit mindestens 2.000 Einwohnern.
In der Geschichte des Christentums wurde der städtische Kontext immer ambivalent erlebt. Einerseits sind in den Städten die ersten Gemeinden entstanden, hat das Christentum hier seine Wurzeln. Anderseits steht die Stadt aber auch für Sündhaftigkeit und Unglaube. In gewisser Weise zeigen sich heute ähnliche Ambivalenzen, die die Schnittlinien markieren, an denen Citypastoral ansetzen muss. So ist heutige Urbanität, die sich in allen Großstädten fast identisch beschreiben lässt, gekennzeichnet durch eine City, in der sich Unterhaltung und Information, Reklame und Selbstdarstellung, Kommunikation und vor allem Warenverkehr gegenseitig überbieten. Als Passant_innen nehmen Menschen, die sich in der City bewegen, die Fülle der Angebote wahr. Aus einem breiten Spektrum von Optionen kann/soll der eigene Stil kreiert werden. Dies wird jedoch nicht nur als Chance empfunden. Vielmehr erleben nicht wenige Menschen die Fülle an Wahlmöglichkeiten, die Angebote verschiedener Lebensstile, den Appell zur Selbstentfaltung auch als Überforderung. So zeigen sich in dem, wie Stadt erlebt wird, auch die sich widersprechenden Einflüsse, denen der/die Einzelne ausgesetzt ist: das Leben wird bunter, aber auch unübersichtlicher; kurzweiliger, aber auch hektischer; offener, aber auch unverbindlicher; individueller, aber auch einsamer. Ebenso verdichten sich in den Innenstädten die sozialen Herausforderungen unserer Gesellschaft: Bettler, Wohnsitzlose, Drogenkonsumenten, Straßenmusikanten, geistig Verwirrte vermitteln einen Eindruck von den aktuellen Problemlagen. Aufgrund der Anonymität und Unübersichtlichkeit der Stadt sind andere Nöte zwar weniger sichtbar, aber deshalb nicht weniger drängend. Orientierungslosigkeit, Einsamkeit und Überforderung sind Erfahrungen, mit denen sich Menschen in einer individualisierten Gesellschaft konfrontiert sehen.
Die Zentren der Großstädte stehen jedoch nicht nur für Konsum, Event und Inszenierung. Orte der Hochkultur (Museen, Theater) und der politischen Instanzen prägen ebenso das Bild der City. Die konfessionelle „Landschaft“ der Großstädte ist heute dadurch gekennzeichnet, dass rund die Hälfte der Stadtbevölkerung zu keiner der beiden großen Kirchen gehört. Sämtliche Weltreligionen und eine wachsende Zahl christlicher Freikirchen erweitern das religiöse Angebot. Gleichzeitig hat sich der Bezug der Gläubigen zu ihrer jeweiligen Kirchengemeinde nachhaltig verändert; Selbstverständlichkeiten haben sich aufgelöst. Der größte Teil der nominellen Gemeindemitglieder lebt in Distanz zu kirchlichen Strukturen und Angeboten. Kontakte beschränken sich auf punktuelle Begegnungen zumeist anlässlich der lebensgeschichtlichen Wendepunkte.
In dem durch diese Stichworte skizzierten Kontext gestaltet Citypastoral kirchliche Präsenz. So unterschiedlich die städtischen Situationen, die sozial-kulturellen Milieus und die pastoralen Möglichkeiten vor Ort sind, so unterschiedlich sind auch die Konzepte, durch Citypastoral in Kontakt zu den Menschen zu treten. Da sind zum einen Kirchengemeinden mit teilweise historisch herausragenden Kirchen, die sich durch ein spezifisches Angebot als Citykirchen definieren. Ob der Schwerpunkt dabei auf dem sozialen Auftrag der Kirche (z. B. Vesperkirchen) liegt oder kulturelle Elemente (Kirchenmusik, Kunst, Bildung) im Mittelpunkt stehen, ergibt sich aus der pastoralen Ausrichtung der jeweiligen Stadt und ihrer Kirchengemeinden. Von Citykirchenprojekten spricht man dann, wenn zusätzlich zu der traditionellen Gemeindestruktur neue Einrichtungen geschaffen wurden, die einen niederschwelligen Zugang zu kirchlichen Angeboten realisieren wollen. Häufig sind diese Einrichtungen in übergemeindlicher Trägerschaft (Dekanat, Gesamtkirchengemeinde …). Von den 95 Einrichtungen, die im Netzwerk Citykirchenprojekte zusammengeschlossen sind, befinden sich 17 in ökumenischer, 30 in evangelischer und 47 in katholischer Trägerschaft; eine Einrichtung wird von der alt-katholischen Kirche betrieben.
In ihrer ganzen Vielfalt verbindet die Citykirchenprojekte ein pastoraler Ansatz, der sich am besten mit „präsent sein“ umschreiben lässt. Voraussetzung dafür sind Offenheit und Gastfreundschaft, die einen unkomplizierten Zugang ermöglichen. Citypastoral steht dabei vor der Aufgabe, sich einerseits in die Gesetzmäßigkeiten der City zu integrieren, dabei aber gleichzeitig neue Räume zu erschließen und Perspektiven aufzuzeigen, die Orientierung in der Unübersichtlichkeit geben können. Die für die City typische Haltung des Passanten/der Passantin bedeutet im religiösen Umfeld, dass man sich den durch die Kirchen repräsentierten Sinn- und Wertehorizonten ebenso unverbindlich und wählerisch zuwendet wie dem Warenangebot. Das führt auf der anderen Seite dazu, dass sich Pastoral stärker als Dienstleistung verstehen muss. Dafür ist eine besondere seelsorgerliche Sensibilität erforderlich und die Fähigkeit, dem Moment angemessen Raum und Atmosphäre zu geben. Die spontane Begegnung, das kurze Gespräch, die unverhoffte Offenheit sind der Kairos für eine Seelsorge des Augenblicks.
Die Einrichtungen der Citypastoral versuchen, die besonderen Seelsorgesituationen durch die Präsenz von Ansprechpersonen und entsprechende Gestaltung zu fördern. Viele Einrichtungen arbeiten dabei mit einem Stab von Ehrenamtlichen. Diese bedürfen einer guten Einführung und Begleitung. Dann eröffnet sich hier ein Feld für kirchliches Engagement, in welches kommunikative und soziale Kompetenzen eingebracht werden können. Ein wichtiger Bestandteil der Dienstleistung ist Information, wobei die Übergänge zu einem seelsorgerlichen Gespräch oft fließend sind. Vor allem dort, wo Einrichtungen der Citypastoral die Aufgabe als Wiedereintrittsstellen wahrnehmen, geht es nicht nur um Informationsvermittlung. Angesichts der religiösen Ausdifferenzierung innerhalb der Gesellschaft werden immer mehr auch grundlegende Fragen nach Glaubensinhalten gestellt.
Häufig bieten Citykirchenprojekte Begegnungsmöglichkeiten, z. B. durch Cafés. Diese eröffnen nicht nur die Chance eines niederschwelligen Zugangs, sondern sie verstehen sich auch als Ort, an welchem sich verschiedene gesellschaftliche Milieus mischen können. Inwiefern es dabei gelingt, kirchliche Milieufixierung zu überschreiten, stellt sich in den einzelnen Einrichtungen sehr unterschiedlich dar.
Citykirchenprojekte verstehen sich als offenes Forum für gesellschaftliche und kirchliche Fragestellungen. Sie sind mit ihren kulturellen Angeboten Teil des gesellschaftlichen Lebens der Großstadt. Sie beteiligen sich am politischen Diskurs und gehen dabei auch Kooperationen mit anderen Akteuren in der City ein. Die Beschäftigung mit zeitgenössischer Literatur, darstellender Kunst und Film ist fester Bestandteil im Programm zahlreicher Citykirchenprojekte. Ohne eine nachhaltige Reflexion darüber, mit welcher Sprache und Ästhetik man bei dieser „kulturellen Diakonie“ unterwegs ist, wird der Anschluss an städtische Milieus jedoch nicht gelingen.
Bei den Citykirchenprojekten lassen sich vereinfacht zwei Schwerpunktsetzungen unterscheiden. Für die einen steht der diakonische Auftrag der Kirche im Mittelpunkt: Vesperkirchen, Kleiderkammern, Beratungsstellen, offene Treffpunkte stehen für Menschen in den verschiedensten Notlagen zur Verfügung. Die überwiegende Mehrheit der Citykirchenprojekte hat jedoch diejenigen im Blick, die in der City ihrem Beruf nachgehen oder ihre Freizeit hier verbringen. Aber auch diese Einrichtungen sind offen, um Notleidende an entsprechende Stellen weiterzuvermitteln.
Die spirituellen Angebote in Citykirchenprojekten ergänzen das Spektrum traditioneller Andachts- und Gottesdienstformen und nehmen den Rhythmus der Stadt auf. Charakteristisch sind Tagzeitengebete, Kurzandachten zur Mittagzeit, geistliche Impulse an ungewöhnlichen Orten, Räume der Stille u. Ä. Überkonfessionelle Offenheit versteht sich dabei von selbst; mitunter werden explizit Suchende und Zweifelnde angesprochen.