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Seelsorge mit Gleisanschluss

Passagere Seelsorge und Pastoral in den Bahnhofsmissionen

Mit ihren am Menschen orientierten, absichtslosen Angeboten kommt der Bahnhofsmission eine hohe gesellschaftliche Anerkennung zu. Trotz ihres passageren Charakters ist sie zugleich ein Ort, der im gegenseitigen Lernen existentielle Fragen nach Sinn und Grund des Lebens anregen kann. Wahrge­nommen als Ausdruck praktizierter christlicher Gastfreundschaft sieht Gisela Sauter-Ackermann in ihr große Chancen für einen „Gleisanschluss“ zwischen Kirche und säkularer Welt.


Mittwoch 15:30 Uhr: Eine ca. 50-jährige Frau betritt die Bahnhofsmission. Sie setzt sich wortlos an einen Tisch, sinkt in sich zusammen. Nach einigen Minuten spricht eine Mitarbeiterin sie an. „Kann ich Ihnen was zu trinken bringen?“ Die Frau blickt auf. Die Augen werden glasig. „Ich glaube, ich habe alles falsch gemacht.“

Freitag 17:30 Uhr: Für den ICE aus Hamburg ist eine Umsteigehilfe angemel­det. Der Zug hat Verspätung. Der Ehrenamtliche der Bahnhofsmission holt einen ca. 75‑jährigen Mann vom Zug ab. Er hat den Anschlusszug verpasst. Deshalb lädt ihn der Mitarbeiter ein, die Wartezeit in den Räumen der Bahn­hofsmission zu überbrücken. Der Ehrenamtliche bietet ihm eine Tasse Kaffee an und setzt sich zu ihm. Noch hat der Mann nicht viel geredet. Als sie schließ­lich am Gleis stehen und auf den Regionalzug warten, fängt er an zu sprechen. Er ist auf dem Weg zur Beerdigung seiner Tochter.

1. Standort Bahnhof

An über 100 Bahnhöfen in Deutschland nutzen katholische und evange­li­sche Träger die von der Deutschen Bahn kostenlos zur Verfügung ge­stell­ten Räumlichkeiten, um Menschen in Not mit ihren Angeboten zu erreichen. Sie empfangen Nutzer und Nutzerinnen ihrer Angebote als Gäste in ihren Räumen im oder am Bahnhof und sind mit ihren Bahn­steigdiensten und mit ihrer aufsuchenden Arbeit in der Bahnhofshalle und im Bahnhofsviertel präsent, ansprechbar und bereit zur Hilfe­leistung.

Die Arbeit der Bahnhofsmissionen ist stark durch ihren Standort bestimmt. Was aber macht den Bahnhof aus?

  • Bahnhöfe sind Knotenpunkte des Verkehrssystems: Orte der Mobili­tät, der Technik und Schnittstellen unterschiedlicher Beförderungs­systeme.
  • Sie sind öffentlicher Raum und zugleich unternehmerisch genutztes Privateigentum.
  • Sie bilden spezifische Funktionsräume in der (Innen-)Stadt.
  • Bahnhöfe sind Konsumorte und Treffpunkte für Menschen mit Event­charakter.
  • Sie bilden Projektionsfläche für Sehnsüchte aller Art mit hoher emo­tionaler Aufladung.

In Bahnhöfen stoßen Gegensätze unmittelbar aufeinander: Hektik und Warten, Willkommen und Abschied, Inklusion und Exklusion, Konsum und Armut. Der Bahnhof ist ein durch und durch säkularer Ort – oftmals gestaltet als „Kathedrale der Neuzeit“.

2. Angebote der Bahnhofsmission

Kontakt, Hilfe, Begegnung und Berührung „im Vorübergehen“

Begegnungen und Kontakte in der Bahnhofsmission sind meist punktu­ell, weil situativ, unverbindlich, einmalig und passager. Die Bahnhofs­missionen laden alle Menschen als Gäste in ihre Räume ein, die – in wel­cher Form auch immer – Hilfe und Schutz suchen oder einfach nur da sein wollen. Sie orientieren sich in der Gestaltung ihrer Hilfeangebote an dem, was Menschen am Bahnhof und auf Reisen erfahrungsgemäß brauchen:

  • Schutz und Sicherheit
  • Rückzug und Entspannung
  • Akuthilfe in Notsituationen
  • Befriedigung primärer Bedürfnisse wie Wärme, Nahrung, Kleidung
  • Geselligkeit, Abwechslung und Begegnung
  • Information und Orientierung
  • praktische Unterstützung
  • Zugänge zu weiterführenden Hilfen

Bahnhofsmissionen nehmen für sich in Anspruch, die Menschen ganz­heitlich – mit Leib und Seele – in den Blick zu nehmen. Auf diese Weise ist jedes Gespräch, jede Reisehilfe „offen für mehr“. Sie haben Platz und nehmen sich Zeit für Gefühle und Fragen, die über die jeweilige Situa­tion hinausweisen.

Dabei geschieht es immer wieder, dass Menschen sich berühren lassen. Dieses Berührtwerden ist keine Einbahnstraße; die mit ihm verbundene Erschütterung bisheriger Überzeugungen, Vorurteile und Erfahrungs­wer­te trifft sowohl Helfende als auch Hilfesuchende. So lässt sich etwa die Mitarbeiterin vom Schicksal der Flüchtlingsfamilie berühren, die auf dem Weg aus dem Kriegsgebiet in ein neues Leben in einer deutschen Bahnhofsmission Zwischenstation macht. Und der Wohnungslose wird berührt von der selbstlosen Zuwendung, die er erfährt, wenn ihm Hoff­nung und Liebe in einer Sprache begegnen, die er verstehen kann. Be­rüh­rung bewegt. Und Bewegung kann verändern. Im Idealfall gehen Helfende und Hilfesuchende beide verändert aus der berührenden Begegnung hervor.

Dort, wo Bahnhofsmissionen missionarisch Zeugnis ablegen von der Liebe Gottes zu allen Menschen, tun sie das absichtslos. Seelsorge und Pastoral der Bahnhofsmission finden in den allermeisten Fällen im Zusammenhang mit den Unterstützungsangeboten „en passant“ statt. Sie sind oft ungeplant, ereignen sich für beide Seiten überraschend und bestehen manchmal mehr in Gesten und Haltungen als in expliziten Botschaften.

Das passgenaue Hilfeangebot, die Präsenz am Bahnhof und die offene Tür der Bahnhofsmissionen bieten auf diese Weise den Einstieg, den Anlass und die Chance zur Pastoral.


Explizit religiöse Angebote: Von der Raumgestaltung bis zum Gottesdienst

Darüber hinaus machen Bahnhofsmissionen auch ausdrücklich religiöse Angebote, beispielsweise:

  • Gottesdienste und Andachten im oder am Bahnhof
  • Räume der Stille
  • religiöse Impulse in den Räumen der Bahnhofsmissionen
  • religiöse Symbole und Akzente in der Raumgestaltung
  • religiös-existentielle Gespräche
  • Kontakte und Vermittlungen zu Kirchengemeinden und pastoralen Mitarbeitenden der Kirchen
  • religiös-spirituelle Angebote für Mitarbeitende und Ehrenamtliche

Trotz ihres Namens werden Bahnhofsmissionen – im Unterschied etwa zur Kirchengemeinde und ihren Mitarbeitenden – von den meisten Men­­schen nicht in erster Linie als religiös oder kirchlich wahrgenom­men. Dort, wo Bahnhofsmissionen explizit religiöse Formen der Kom­mu­ni­kation und Interaktion wählen, stehen sie oft im Kontrast zum säkularen Kontext. So werden Kreuzzeichen im Logo der Bahnhofsmis­sion, der Begriff „Mission“ in ihrem Namen oder Krippendarstellungen und Gottesdienste in der Bahnhofshalle auch in ihrer Spannung zur Um­gebung wahrgenommen. Das hat zur Folge, dass die Bahnhofsmission auffällt, wenn sie explizit religiös wird: Sie weckt Widerspruch und irritiert, gleichzeitig spricht sie Menschen an und fordert sie heraus.

Dass Menschen mit einem ausdrücklich seelsorgerlichen Bedarf in die Bahnhofsmission kommen und diesen direkt äußern, ist eher die Aus­­nahme. Vielen ist ihr Bedürfnis nach spirituell-seelsorgerlicher Zuwen­dung selbst kaum bewusst – es wird erst im Verlauf der Begegnung of­fenbar. Auf diese Weise werden Bahnhofsmissionen zu Seelsorgestellen für Menschen, die sich von expliziten Seelsorgeangeboten eher abschre­cken lassen.

3. Niedrigschwellige Seelsorge und Pastoral

Bahnhofsmissionen sind niedrigschwellige Anlaufstellen am Bahnhof:

  • gut zu erreichen und leicht zu finden, u. a. mit Hilfe des Wegeleitsys­tems der Bahn
  • mit Öffnungszeiten, die meist über das Angebot von Behörden und Beratungsstellen hinausgehen
  • spontan, d. h. ohne Terminvergabe und kostenfrei nutzbar
  •  bedingungslos, für jede/n und ohne „Rechtfertigungsgrund“ zugänglich

Von dieser Niedrigschwelligkeit profitiert auch die Seelsorge und Pasto­ral der Bahnhofsmissionen, weil sie dadurch auch Menschen erreicht, die in Kirchengemeinden und diakonischen Beratungsstellen nicht an­kommen. Zugewandte Gespräche von Mensch zu Mensch, selbstlose Zeitgeschenke und spontane Hilfeangebote erfahren viele Gäste als besondere Seelsorge auf Augenhöhe.

4. Anonymität und Unverbindlichkeit als Bedingung passagerer Pastoral

In der Bahnhofsmission muss niemand seine Identität preisgeben. Es gibt keine Aufnahmeformalitäten und es wird keine Akte angelegt. Nie­mand muss wiederkommen, wenn er/sie nicht will. Es gibt, anders etwa als in der ARGE oder im Jugendamt, keine Vereinbarungen, die einzu­hal­ten sind, und schon gar keine Sanktionen. Viele Kontakte, z. B. bei Reisenden, sind von vornherein auf Einmaligkeit angelegt. Und in jedem Fall ist jeder Kontakt absolut freiwillig, selbstbestimmt und vertraulich.

Diese Anonymität und Unverbindlichkeit schaffen einen Frei- und Schutzraum, der mit Vertrauen und Offenheit gefüllt werden kann.

5. Christliche Praxis der Gastfreundschaft

Die Gäste

Die Gäste und Nutzer*innen der Bahnhofsmission sind Menschen mit und ohne Fahrkarte. Sie kommen aus der Ferne und aus der Nähe. Für viele ist der Kontakt mit der Bahnhofsmis­sion ein singuläres Ereignis, an das sie sich aber manchmal noch nach Jahrzehnten erinnern. Andere sind „alte Bekannte“ und Stammgäste.

Reisende sind per se passager. Für solche „Passagiere“ ist die Bahnhofs­mis­sion eine Zwischenstation auf ihrem Weg. Reisebekanntschaften und -erlebnisse sind flüchtig, punktuell und einmalig ­­­­­­­­­­­­­– dadurch aber auch absolut: Es gibt keine „zweite Folge“, keine Möglichkeit, Nicht­ge­sagtes nachzuholen oder einen Fehler zu korrigieren. Für den Helfenden gibt es nur den einen Moment, sich für eine Antwort, Frage oder Geste zu entscheiden. Ob sie ankommt, bleibt unverfügbar. Manches Wort wirkt nach, auf beiden Seiten. Sowohl die Intensität der unmittelbaren Begegnung als auch das Abschiednehmen und Loslassen können für den Helfenden zur Herausforderung werden.

Manch anderer Gast ist von dieser Art zu Reisen ausgeschlossen – etwa weil ihm das Geld für die Fahrkarte fehlt. Viele von ihnen haben in ih­rem Leben Abbrüche und Instabilität erfahren und sind noch nie irgend­wo richtig angekommen. In gewisser Weise hat ihr ganzes Leben etwas Passageres. Sie erleben kaum tragende Beziehungen und wenig Gebor­genheit. Insofern ist ihr Leben ständig flüchtig, brüchig, gefährdet und im Übergang. Der Bahnhof ist etwa für Wohnungslose, Dealer, Men­schen ohne Arbeit und Verdienst, Straßenkinder oder Prostituierte Teil ihres Lebens- und Sozialraums, der viele ihrer Bedürfnisse erfüllt. Unter anderem können sie hier wenigstens in der Rolle von Beobachtern an Konsum und Mobilität teilhaben und sich so ein Stück weit und vorüber­gehend zugehörig fühlen. Der Gang zur Bahnhofs­mission ist für viele „Stammgäste“ der Bahnhofsmissionen ein regelmäßiges Element ihrer Tagesgestaltung. Sie finden dort neben Trockenheit, Wärme und einer Tasse Kaffee Geselligkeit, Abwechslung und Entspannung – eine Atmo­sphäre, in der sie sich wohlfühlen. Für viele von ihnen ist die Bahnhofs­mission die einzige und letzte Hilfestelle, die sie nutzen. Um diese Men­schen zu erreichen, gestalten Bahnhofsmissionen ihre Zugangsbedin­gun­gen offen und ihre Kultur annehmend. Oft ist es aufwändig und schwierig, das Vertrauen dieser Menschen zu gewinnen und ihr Selbst­wertgefühl so weit aufzubauen, dass sie wieder an eine Perspektive für ihr Leben glauben. Aufgabe der Bahnhofsmission ist es einerseits, die Tür zu weiterführenden Hilfen offen zu halten – sei es durch bloßes Si­chern der Existenz, Kontakthalten, Geduld und Ertragen. Andererseits müssen ihre Lotsen- und Transportmechanismen zu anderen, speziali­sierten Hilfestellen auf der Stelle kompetent einsatzbereit sein, wenn Gäste entsprechende Bereitschaft signalisieren.

Mit der Gastfreundschaft für Reisende (vgl. Gen 18,1–8) und für diejenigen, die nur selten eingeladen werden (vgl. Lk 14,12–24), praktizieren Bahnhofsmissionen urchristliche Verhaltensweisen.


Die Gastgeber

Bahnhofsmissionen arbeiten mit geringen hauptamtlichen Ressourcen und kleinen Budgets in sogenannten „gemischten Teams“. In den über 100 Bahnhofsmissionen Deutschlands arbeiten ca. 200 Hauptberufliche und ca. 2000 freiwillig Engagierte. Die großen Stärken der Teams sind Vielfalt und Glaubwürdigkeit. Beides wird möglich durch den hohen Anteil des freiwilligen Engagements.

Dazu kommt die außerordentlich hohe Identifikation und Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Viele verstehen ihre Tätigkeit in der Bahnhofsmission als Ausdruck ihrer Überzeugungen und ihres Glau­bens. Und das, obwohl nur die Minderheit eine enge Bindung an Kirche und Gemeinde und ein Teil von ihnen gar keine christliche Sozialisation hat, nicht an Gott glaubt oder einer anderen Religion angehört. Bahn­hofs­mission sind Orte, die existentielle Fragen nach Sinn und Grund des Lebens anregen, persönliche Auseinandersetzung ermöglichen und an denen die unterschiedlichsten Menschen voneinander lernen.

6. Schluss

Die Bahnhofsmission ist als soziale Einrichtung weithin bekannt und für die meisten Menschen positiv besetzt. Man könnte sagen, sie ist im besten Sinne eine bekannte und vertrauenswürdige „Marke“: Auch wenn viele nur vage Vorstellungen von der Arbeit der Bahnhofsmission haben, bringen sie ihr doch Vertrauen entgegen. Auf dieser Grundlage bieten Bahnhofsmissionen mit ihren an den Bedürfnissen der Menschen orientierten, uneigennützigen und absichtslos gestalteten Angeboten große Chancen für einen „Gleisanschluss“ von Kirche und Christentum in unserer säkularen Welt.