Chancen und Probleme einer Pastoral im Vorübergehen aus Sicht der TelefonSeelsorge
Die Chancen einer Pastoral im Vorübergehen aus Sicht der TelefonSeelsorge sollen anhand von fünf Facetten aufgezeigt werden:
1. Im Transit
TelefonSeelsorge verortet sich zwischen Kirche und Welt, zwischen Kirchennähe und -ferne. Dies betrifft sowohl die Anrufenden als auch die Mitarbeitenden. Dabei stehen die kommunikationstechnischen Konstitutionsbedingungen des Kontakts einerseits für niedrigschwellige Erreichbarkeit als auch für Flüchtigkeit. Als entscheidendes Charakteristikum erscheint die Philoxenia, die Gastfreundschaft, die auf starke biblische Wurzeln verweisen kann (vgl. z. B. Lk 9,3: „Nehmt nichts mit“ und Hebr 13,2: „Vergesst die Gastfreundschaft nicht“).
2. Anders-Ort
TelefonSeelsorge ist als Anders-Ort erfahrbar:
Für die Ratsuchenden wird ein Asyl geboten, das im Kontakt zwar temporär, in der Erreichbarkeit aber dauerhaft ist.
Für die Mitarbeitenden entsteht eine „diakonale Gemeinde“ (im Unterschied zur liturgischen). Hier wird der „Gottesdienst der Nächstenliebe“ gefeiert, wo „Gott ein Tätigkeitswort“ ist (beide Hermann Steinkamp).
Mit der TelefonSeelsorge wird auch die Kirche selbst als Anders-Ort erfahrbar. Dies zeigt sich im Kontakt zwischen Ratsuchenden und Ehrenamtlichen, die die glaubwürdigsten Vertreter_innen der Kirche sind. Sie entwickeln ein überdurchschnittlich hohes Vertrauen in der Begegnung mit Menschen, gegenüber Fremden und Andersartigen (vgl. Eberhard Hauschildt). Sie repräsentieren Charisma und gelebte Ökumene.
3. Präsentsein
Die TelefonSeelsorge ist eine Kommunikationsofferte. Mit und durch sie steht seit 60 Jahren ein „Raum“ offen und bereit. Dies ist vergleichbar mit der stillen Präsenz von Hanna und Simeon im Jerusalemer Tempel (Lk 2,29–38). So bilden Schweigen – Hören – Reden einen unauflöslichen Zusammenhang: „Hab’ ich dein Ohr nur, find’ ich schon mein Wort“ (Karl Kraus).
4. Begegnung
In der TelefonSeelsorge findet Begegnung statt: „In seinem Sein bestätigt will der Mensch durch den Menschen werden und will im Sein des anderen eine Gegenwart haben“ (Martin Buber). Begegnung meint dabei mehr als nur gesprächstherapeutisch geschultes Eingehen. Vielmehr geht es darum, „jedwedem Menschen eine Zeit lang einen Freund (zu) ersetzen“ (Chad Varah).
5. Anwalt des Anderen
Die TelefonSeelsorge rekurriert auf die „Seele“, nicht auf die „Psyche“. Der Begriff „Seele“ hält einen Sinnüberschuss offen, den ein jeder schon in seiner Einmaligkeit jenseits aller geschilderten Probleme darstellt, wie auch den Transzendenzbezug. Beides – Individualität und Transzendenz – sind zwar nicht kommunizierbar, aber: Das, was ich sage und wie ich begegne, kann zum Vehikel werden für das, was ich dem Anderen gerne sagen möchte, ohne es in Worte fassen zu können. Peter Fuchs spricht in diesem Zusammenhang vom „Signieren des Unsagbaren im Sprechen“.
Aber es gibt natürlich auch Probleme im Raum der TelefonSeelsorge. Es gibt verschiedene Kräfte, die wirken, aber leider nicht nur einen Geist (vgl. 1 Kor 12,6), der sie aufeinander abstimmt. Vielfach wirken sie latent an einer Verschiebung der ursprünglichen Intention.
1. Technik
Bei allen (Neu-)Entwicklungen in der Telefon- bzw. Internetkommunikation muss neu ausbalanciert werden zwischen der Notwendigkeit, Chancen wahrzunehmen, und der Versuchung, jedem Trend hinterherzulaufen („Update-Druck“).
2. Recht
Die TelefonSeelsorge agiert in einer juristisch sensibilisierten Öffentlichkeit (z. B. bezüglich Datenschutz, Vertraulichkeit des gesprochenen Wortes, Telekommunikationsgesetz). Dies ist zu beachten.
3. Ökonomie
Auch in der TelefonSeelsorge gibt es ein Effizienzdenken: Es wird gezählt, gemessen und gewägt (Statistik). Hinzu kommt eine unsichere Finanzierung. Dies führt bisweilen zu einer Fixierung auf brandaktuelle Leuchtturmprojekte, die gleichzeitig langjährig bewährter Angebote übersehen.
4. Fachverständnis
Die TelefonSeelsorge verortet sich im Spannungsfeld unterschiedlicher Fachverständnisse: Seelsorge versus Beratung (theologisches versus psychologisches Verständnis).
5. Theologische – ekklesiologische wie pastoraltheologische – Verortung
Die TelefonSeelsorge sollte v. a. theologisch verortet werden. Christian Bauer spricht vom „theologischen Schlummer fast ausschließlich rezeptiv an den Humanwissenschaften orientierter Pastoraltheologie“. So sollte die TelefonSeelsorge als „ein eigenständiges vollgültiges Format von Seelsorge“ verstanden werden. Sie ist „gegenüber anderen Formaten von Seelsorge nicht defizitär, sondern verfügt aufgrund des der TelefonSeelsorge eigenen Mediums über einen spezifischen Möglichkeitsraum“ (Ursula Roth). Erforderlich ist eine Theologie des Ehrenamtes, die ehrenamtliche Seelsorge nicht von der „eigentlichen“ Seelsorge der Hauptamtlichen ableitet, sondern sie in der eigenen Qualität Ehrenamtlicher begründet (siehe Eberhard Hauschildt).
6. Alternative Hilfe-Hotlines
Neben der TelefonSeelsorge haben sich alternative Hilfe-Hotlines entwickelt, so dass man manchmal von einer Überfülle sprechen kann, die auch nach der Trennschärfe fragt. Es entsteht das Problem, die Spezifität der einzelnen Hotlines zu kommunizieren.
Seit 60 Jahren ist TelefonSeelsorge mit ihrem Angebot präsent. Nach wie vor ist die Nachfrage per Telefon (ca. 1,8 Millionen Kontakte im Jahr) hoch. Trotz der rasanten Entwicklung neuer technischer Kommunikationsformen (Facebook, Twitter, WhatsApp) gibt es auch bei jungen Menschen in bestimmten Situationen einen bleibenden Bedarf nach einem erlebbaren Gegenüber (ca. 45.000 Kontakte im Jahr).