„Wege und Gesichter der Kirche von morgen kennen lernen“
Der ökumenische Kongress Kirche² sucht in Hannover nach neuen Wegen, Kirche zu sein
Gestalt und pastorales Handeln der Kirche sind insbesondere in Deutschland in einem Prozess der radikalen Veränderung begriffen. Die Wiederentdeckung einer missionarischen Kirche wird als pastorale Paradigmenwechsel wahrgenommen, wenn sie von einem quantitativen Verständnis der Mitgliederrekrutierung zu einer qualitativ neuen Sichtweise der Rezeption und Verleiblichung des Evangeliums in unterschiedlichen individuell und gesellschaftlich kulturellen Kontexten vorstößt. Die Valenz der Sozialgestalt der Kirche erweist sich daran, ob es in ihr gelingt, der Gottesfrage und der Suche nach Antworten durch Menschen, die in unterschiedlicher Weise auf dem Weg des Glaubens sind, authentisch und personal-biografisch Räume zu eröffnen. Bislang sind in solchen Suchprozessen die römisch-katholische Kirche und die Kirchen der Reformation in Deutschland weithin relativ getrennt voneinander unterwegs gewesen. Auf diesem Hintergrund stellt sich der ökumenische Kongress Kirche2, den die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers gemeinsam mit dem Bistum Hildesheim und weiteren Partnern und Unterstützern vom 14. bis 16. Februar in Hannover veranstaltete, als ein wichtiger Schritt auf dem Wege dar. Die Absicht der Veranstalter war es, die Teilnehmer als Akteure einer Dynamik anzusprechen, bei der es darum geht, Aufbrüche wahrzunehmen, neue Impulse und Initiativen kennen zu lernen, sich davon inspirieren zu lassen und seinerseits Visionen zu entwickeln und in der Begegnung nach Antworten zu suchen. Das futuristisch anmutende Tagungszentrum, wie ein Raumschiff oder ein großes Zelt auf dem „Messe“-Gelände (Missa), stellte seinerseits geeignete Räumlichkeit und Symbolik für eine Kirche dar, die sich nicht in der Sakristei verstecken will, sondern sich mit ihrem Gotteszeugnis auf die Areopage der Gesellschaft wagt, die sich so verletzlich und angreifbar macht und gerade damit ihrer Sendung (Mission) Gestalt gibt.
Im einführenden Plenum zeigten Philipp Elhaus, Leitender Referent der missionarischen Dienste der Landeskirche, und Christian Hennecke, Leiter des Hildesheimer Priesterseminars und des Fachbereichs Missionarische Seelsorge des Bistums, dass evangelische und katholische Verantwortliche einander entdeckt hatten mit dem gemeinsamen Anliegen, das Evangelium heute spürbar und lebbar zu machen. Ein „niedersächsisches Pfingsten“ solle es in Hannover sein, ein Signal der Ermutigung zu konkreten Schritten vor Ort, um die Dynamik des Kircheseins und Gemeindewerdens weiter zu tragen.
Die Erfahrungen, die die Anglikanische Kirche gemacht hat, sind in der Vergangenheit einer größeren protestantischen Öffentlichkeit bekannt, im katholischen Bereich jedoch bislang nur am Rande rezipiert worden. Bischof Graham Cray, Leiter des „Fresh Expressions Teams“ der Church of England, erläuterte die Strategie zur Ermutigung und Unterstützung, in jeder Diözese neue Kirchenpflanzungen voranzubringen, in der Folge der synodalen Verlautbarung „Mission-shaped Church. Church planting und fresh expressions of Church in a changing context“ (Kirche in missionarischer Gestalt. Gemeindepflanzung und neue Ausdrucksformen von Kirche in einem veränderten Kontext) aus dem Jahre 2004. Es geht dabei um die Gründung von Netzwerken und neuen vielfältigen Formen kirchlicher Gemeinschaft wie Zeltkirche, Kirche in Cafés, Kneipen und anderen. Alte und neue Formen von Kirche ergeben zusammen eine „mixed economy“ als Bestandteil von Gottes Mission. Missionarisch motiviert, indem sie den Nicht-Kirchgänger ansprechen, sind die Fresh Ex kontextuell, zielen jedoch auf Jüngerschaft ab und verstehen sich ekklesial als vollgültige Kirche, sind also nicht eine Brücke, um erst noch zur Kirche zu werden. So haben sich in England in den letzten Jahren rund 2000 fresh expressions entwickelt, an denen ungefähr 60.000 Menschen beteiligt sind. Das Evangelium muss immer menschliche Gestalt in unterschiedlichen Kontexten gewinnen.
Christina Brudereck, Pastorin aus Essen, stellte die vor fünfzehn Jahren entstandene Gemeinde emotion vor. Auf der Suche nach „Gott im Pott“ taten sich verschiedene Kreative zu einer experimentellen Gemeinde zusammen. Obwohl die Kombination von Gottesdienst und Lebensgemeinschaft für herkömmliche Kirchenmitglieder ungewohnt und auch etwas anstrengend daherkommt, wies Brudereck auf den basisgemeindlichen Ansatz der Performer-Gemeinde hin. Was der Einzelne mitbringt und in den gemeinsamen Rahmen einbringt, ist Teil der Gottesspiritualität. „Gott ist der Film, Kirche ist das Dorfkino, das diesen Film zeigt.“ (Hape Kerkeling).
Gisele Bulteau, Ehrenamtliche aus dem Bistum Poitiers in Frankreich, zeigte den Weg der Diözese zu einer neuen Erfahrung des Kircheseins auf. Im Unterschied zu Deutschland, wo bestehende Pfarreien zusammengelegt würden, ergeben sich in Frankreich durch die Aufteilung in pastorale Sektoren (secteurs) neue Pfarreien (paroisses nouvelles). Zentral ist ein erneuertes Bewusstsein von der Taufe und dem Auftrag, als christliche Gemeinde die Sendung der Kirche mitten in der Welt wahrzunehmen. Dies ist verbunden mit dem Aspekt der Nähe (proximité) der Beziehungsräume. Bulteau verwies auf die Verantwortlichkeit der unterschiedlichen Dienste, die von einer lokalen Équipe d’animation von Ehrenamtlichen koordiniert werden, und darauf, dass der apostolische Elan aufgrund der Gnade und der Charismen der Getauften ernst genommen werden.
Christian Hennecke resümierte, dass die Kirche derzeit den Glauben daran lernen müsse, dass Gott selbst sein Volk erneuert. Anstatt um die Beschwörung eines Mangels geht es um eine Wandlung, die von dem Erhalt einer bestimmten Kirchengestalt zu einer Vision von Kirche in zukünftiger Gestalt führen muss. Die zukünftige Vielfalt der Formen und Gestalten müsse sich durch Inkulturation, Kirchenentwicklung vor Ort, ergeben. Das Evangelium zeige sich lokal in ganz vielen unterschiedliche Formen von Kirche.
Für die zukünftige Entwicklung der Kirche und der Pastoral in Deutschland können die Akzente des Hannoveraner Kongresses bedeuten, Komplexität und Räume zuzulassen, in denen sich etwas entwickeln darf. Der Abschied von einer flächendeckenden Seelsorge weist auf Erfahrungen Gottes an Orten, an denen sie nicht vermutet werden. Voraussetzungen für einen solchen Weg sind ermächtigende Netzwerke und schützende Strukturen mit Möglichkeiten zum Experiment. Ohne einer häufig verbreiteten Larmoyanz und Defizitorientierung zu verfallen, vermittelte der Kongress jedoch Aufbruchsstimmung und den Eindruck gemeinsamen ehrlichen Suchens nach einer Kirchengestalt, die davon ausgeht, dass Gott seine Kirche nicht im Stich lässt, ihr vielmehr neue Räume erschließt und selbst Neues hervorbringt (vgl. Jes 43,18f).
Hubertus Schönemann