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Allen: Das neue Gesicht der Kirche

Seit Anfang Februar 2012 einige deutsche Bistumszeitungen „Die ‚evangelikalen Katholiken’ kommen“ titelten und dabei die zentralen Inhalte dieser Publikation vorstellten, gab es verschiedentlich weitere Aufmerker auf diesen Titel im deutschen Sprachraum. Kann den damit verbreiteten Buchvorstellungen bzw.-informationen und Rezen­sionen noch wesentlich Neues hinzugefügt und kommentiert werden? Es sei versucht.

„Mit dem vorliegenden Buch soll ein Überblick über die Hauptströ­mun­gen geboten werden, die heute die katholische Kirche prägen“ (11) kreist der US-amerikanische Autor und Vatikan-Journalist John L. Allen Ziele und Absichten seiner Publikation ein und „ versucht, die Kirche auf die Weise zu beschreiben, wie das ein Soziologe tun würde“ (14). Diese Hauptströmungen sind die zehn Trends des gegenwärtigen Welt­katholizismus, die ich nachstehend kurz skiz­ziere – und damit den Inhalt seiner umfassenden, engagierten und fundierten Kirchenanalyse.

Die sechs Kriterien für das, was einen Trend ausmacht, hat er folgender­maßen definiert: Ein Trend muss global, nicht nur regional sein, muss sich auf signifikante Wiese auf die katholische Basis auswirken, muss von der offiziellen Kirchenführung erwiesener­maßen engagiert ange­gan­gen werden, muss auf mehreren Ge­bie­ten gleichzeitig erklärend wirken, muss Voraussagen ermöglichen und darf schließlich nicht ideologisch verfochten werden (453 f). Schon zu Anfang stellt der Autor klar, dass „die Grenzen zwischen dem einen und dem anderen Trend fließend“ sind und die Trends wechselseitig aufeinander einwirken. „In gewisser Hinsicht gibt es letztlich nur einen Trend, nämlich den zur Globalisierung…“ (19).

Dass nicht nur die Themen, Entwicklungen, Phänomene und Aktions­weisen der katholischen Weltkirche seit Ende des Zweiten Vatikani­schen Konzils 1965, sondern auch ihr gegenwärtiges von einer Vielzahl neuer Kräfte und Faktoren geprägtes Erscheinungs- und Erlebnisbild „völlig auf den Kopf gestellt“ werden wird, ist Kernaussage, Grundthese, Botschaft und „Prophetie“ zugleich. Diesen „Quasi-roten-Faden“ setzt der Autor von der ersten (9) bis zur letzten Seite (494) immer wieder nicht nur als Stilmittel und „Aufmerker“, sondern auch als „Wachrütt­ler“ ein. Erstaunlich bis erschreckend, welche konkreten Fakten und Entwicklungsverläufe dies seit Bucherscheinen bzw. aktuell bewahr­heiten.

Auch wenn es noch vor Darstellung des ersten Trends ausdrücklich heißt „Dieses Buch handelt vom Weltkatholizismus und darin er­zählen Katholiken aus allen Weltteilen ihre Geschichten.“, so ist Allens große Abhandlung alles andere als ein „Geschichtenbuch“. Es führt zu einer klaren Diagnose der beschriebenen zehn Trends, die gewiss einzeln näher gewürdigt werden müssten. Hier soll nur ein kleiner Überblick über einige ausgewählte Schlagzeilen gegeben sein, der einen ersten Eindruck von der Vielfalt, Einheitlich-, Gegen­sätzlich- und Wider­sprüchlichkeit der Allen-Bestandsaufnahme vermitteln mag:

Im ersten Trend „Eine Weltkirche“ (21-65) fallen beispielsweise die Inte­gration einheimischer Kulturen, Wunder, Heilungen und das Überna­türliche, die starke Betonung der orthodoxen Sexualmoral, „Ein Papst aus der Dritten Welt“ und das Überdenken des priester­lichen Zölibats auf. Im zweiten Trend „Evangelikaler Katholizismus“ (67-112) blinken dem Leser „Neue Energie und (vielleicht) neues Wachstum“, Zweifel bezüglich des Dialogs, sowie Raum für nicht­doktrinäre Reform ent­ge­gen. Bei der Lektüre des dritten Trends „Islam“ (113-161) springen verstärkte Apologetik und Evangeli­sie­rung seitens der Katholiken, Partnerschaft mit Muslimen in den ‚kulturellen Kontroversen’ sowie eine neue theologische Ein­schät­zung des Islam ins Auge. Trend vier „Die neue Demografie“ (163-202) konfrontiert u. a. mit Ängsten um die Fruchtbarkeit und einer demografische Stärkung der Konservativen. Im Trend fünf „Mehr Aufgaben für die Laien“ (203-242) rücken die Bewe­gungen Arche, Fokolar und Sant´Egidio in den Vordergrund, sogar „Laien als Seelsorger“ und „Frauen im Seelsorgedienst“; man erfährt aber auch von Abgrenzung des Priestertums gegen Laien-Seelsorger sowie von „Laien als Kardinäle(n)“ (239). Die Vorstellung des  sechsten Trends „Die biotechnische Revolution“ (243-283) bringt u. a. das „Klonen von Menschen“, aber auch „ein[en] Boom in der christlichen Anthropologie“ (266), eine „Stärkere Betonung des Naturrechts“ (269) sowie die Frage „Lässt sich das ‚Gott-Gen’ programmieren?“ zur Spra­che. Trend sieben „Die Globalisierung“ (285-328) liefert Über­schriften wie „Die Option für die Armen“ (294), „Katholische Befürworter des freien Markts“ (299) und „Spannungen zwischen lokalen und univer­salen Elementen“(311). Der achte Trend thematisiert „Das Umweltbe­wusstsein“ (329-370). Der neunte Trend „Die Multipolarität“ (371-409) lässt bei „Aufschwung des interreligiösen Dialogs“ (395), „Eine Neube­wertung der Lehre von der Demokratie“ (399) und „Auswahl der Bischö­fe vor Ort“ (404) aufhorchen. „Neuer Auftrieb für die Apologetik“ (434), „Größerer pastoraler Eifer“ (439) sowie „Wiederkehr des Exorzismus“ (441) werden abschließend im zehnten Trend „Die Pfingstbewegung“ (411-450) geboten. Bevor Allen den „Katholizismus im 21. Jahr­hundert“ als Zusammenfassung (465-490) präsentiert, um abschließend noch zum „Mut, global katholisch zu sein“ zu motivieren, schildert er unter „Trends, die keine sind“ (451-464) noch die Phänomene und „Problem­felder“ Frauen, die Krise wegen sexuellen Missbrauchs, Polarisierung innerhalb des Katholizismus, sowie die neuen Bewegungen.

Zur Diagnosestellung ist jeder Trend bzw. jedes Großkapitel konse­quent aufgebaut mit der Gliederungsstruktur: „Was im Gang ist“ (Situations­be­schrei­bung), „Was das bedeutet“ (1. Auswertungs­stufe), „Ziemlich sichere Auswirkungen“ (2. Auswertungsstufe), „Vermutliche Folgen“ (3. Auswertungsstufe), „Mögliche Folgen“ (4. Auswertungsstufe) und „Lang­fristige Folgen“ (5. Auswertungsstufe). Man mag die dabei auf­gezeigten Konsequenzen mit zunehmenden Auswertungsstufen bzw. -graden als reine Spekulationen abtun, doch bei genauerem Hinsehen kommt man nicht um den Eindruck von Plausibilität und innerer Logik herum. Es empfiehlt sich also, dem Autor und seinen aufge­zeigten Perspektiven zu folgen.

Aus den zehn beschriebenen Trends meint der Autor, vier soziolo­gische Merkmale der katholischen Kirche im 21. Jahrhundert extra­hieren zu können: Global (in moralischen Fragen konservativ, bezüg­lich sozialer Gerechtigkeit liberal, biblisch orientiert, eher über den Pluralismus als über den Säkularismus besorgt, jung und optimistisch sowie den Euro­päern und Amerikanern fremd) (466-470), kompromisslos (in der Lehre traditionell, politisch entschieden, vorsätzlich anders, dynamisch, aber gespalten) (470-472), pfingstlich (übernatürlich, wohlstandsorientiert, unter­nehmerisch, von Laien geführt) (473-475) sowie extrovertiert (gegenüber dem Islam, dem Älterwerden, der Biotechnik, der sozialen Gerechtigkeit und Umwelt und gegenüber den interna­tionalen Bezie­hungen). Eher nebenbei vermerkt Allen, dass viele liberale Katholiken sich Anliegen ad extra zuwenden werden, weil ad intra  wenig zu ma­chen ist (476). – Ja, auch „pfingstlich“ ist ein soziologisches Merkmal …

Dass die katholische Weltkirche unter diesen Maßgaben Prioritäten zu setzen versucht, scheint selbstverständlich. So schreibt Allen: „Infolge des Anschubs durch den evangelikalen Katholizismus wird die Kirche heute zunehmend sensibler für Fragen bezüglich der katholischen Iden­tität, wozu auch gehört, dass man wieder bewusst katholische Aus­­­druck­weisen, Praktiken und Gedanken betont. Die darum Bemühten sehen dies als Schutz dagegen, vom Säkularis­mus und Relativismus assimiliert zu werden.“ (484) Und als wäre das die Überleitung zum „knallharten Fazit“ seiner vorangegangenen Darlegungen schwankt Allen noch zwischen seinem anfänglichen Versprechen, den Lesern nicht sagen zu wollen, was sie denken sollen (13) und seinen (zunächst noch) als „zwei Vorsichtsmaß­nahmen angebracht“ (487) deklarierten Muss-Ausführungen, die offenbar die Summe seines Gesamtwerkes darstellen – der Über­raschung wie der Klarheit halber sei dieses lange Zitat zugemutet: „Erstens muss die feste Grundlage jedes Bemühens, sich den Herausforderungen dieser hier vorgestellten zehn Trends zu stellen, das klare unzweideutige Stehen zur katholischen Identität sein: zu den Lehren der Kirche und zur Autorität der Kirchenführer, diese Lehren zu verteidigen: Im 21. Jahrhundert werden die Initia­tiven, Bewegungen und Kampagnen entweder fest in einem starken Bewusst­sein der katholischen Identität verwurzelt sein oder sie werden zu Tot­geburten. Um es klar und deutlich zu sagen: Falls diese Initiativen irgend­etwas bringen sollen, müssen ihre Führer sich nicht nur deutlich darüber im Klaren sein, was sie wollen, sondern genauso deutlich, was sie nicht zum Ziel haben, und sie müssen alles vermeiden, was nach feindseliger Taktik oder Durchsetzten von Gruppeninteressen schmeckt… . Zweitens haben die Kirchen­führer die besondere Ver­antwortung, ihr legitimes Anliegen, sorg­­fältig auf die katholische Identität bedacht zu sein, im Gleichgewicht mit der Notwendigkeit zu halten, dass sie bei den Katholiken das kreative Denken und Engage­ment fördern… Die Bischöfe und anderen kirchliche Führungskräfte werden sich im jetzigen Jahr­hundert gedrängt sehen, sich an dieses Modell zu halten, und sei es aus keinem andern Grund als dem, dass die Komplexität der Herausforderungen, vor die sie sich gestellt sehen, ungemein verwirrend ist.“ (487f)

Und weiter Allens Originalton: „So ist festzuhalten: Wenn der Katho­lizismus die nötige Fantasie aufbringen soll, um sich erfolgreich der Herausforderungen der Trends zu stellen, die wir genauer angese­hen haben, ist das nicht in erste Linie Sache der Hierarchie…. Die eigentliche Frage ist daher nicht, ob die Bischöfe den Herausforde­rungen des 21. Jahrhundert gewachsen sind. Die Frage ist: Sind alle wir anderen ihr gewachsen?“ (490)

Angesichts solcher Aussichten liest es sich fast tröstlich, wenn der Autor abschließend resümiert: „Dem Katholizismus bietet sich damit die Ge­le­genheit, bahnbrechend vorzuleben, wie eine Globalisierung aussehen könnte, die sowohl das Universale als auch das Lokale gelten lässt.“ (493) Ferner: „Jeder wird in sich eine eigene Mischung dieser Trends tragen. Sie sind nicht nur ein Problem, sondern auch eine Einladung zum Abendteuer und zu jener Hoffnung, die kühne Seelen immer em­pfinden, wenn sie eine Reise antreten, deren Ver­lauf sie noch nicht kennen.“ (ebd.) Und: „Die schlichte Wahrheit ist, dass der Katholizismus ungeheuer komplex ist und ungeheuer ambivalent.“ Schließlich braucht es in einer auch durch Wider­sprüch­lichkeit, Spannung und Desillusionierung auf den Kopf gestellten Kirche des 21. Jahrhunderts „besonderen Mut… die Heiligkeit der Demut, der Geduld und des rechten Augenmaßes“ zu fördern. (494)

Man darf sich fragen, zu welchen Erkenntnissen und Schlussfol­ge­run­gen wohl ein Trend-, Zukunfts- oder Risikoforscher oder ein multidiszi­plinäres Team angesehener relevanter Wissenschaftler bei Vorlage derselben soziologischen Daten und Beschreibungen gekommen wäre. Nun aber sind Allens Ausführungen Faktum. Und aus dessen Lektüre ergibt sich m. E. die Forderung an uns alle, Komplexität neu zu denken.

So sehr eine individuelle wie gemeinschaftliche Befassung mit diesem Allen-Titel zu empfehlen ist: Man kann nur anraten, das Lesen der Trends drei bis neun möglichst konsequent durchzu­halten, weil die Beschreibung mancher Details und Unteraspekte bisweilen etwas kleinschrittig erscheint (und deren Lektüre mitunter eher ermüdend statt ermunternd wirkt). Dass man dabei manchmal den großen Zusam­menhang etwas aus den Augen verlieren kann, muss nicht unbedingt am Verfasser liegen. -  In der Gesamtwürdi­gung erscheinen schließlich die Großkapitel (= Trends) zwei und zehn am bedeutsamsten; denn sie spielen für die oben zitierte Allen-Schlussfolgerung die größte Rolle.

Hans Arnold Ruh