„Surfst du noch oder betest du schon?“
Online-Gottesdienste als Bestandteil der kirchlichen Internetpräsenz
Noch vor wenigen Jahren sorgten Gottesdienstexperimente im Internet für Schlagzeilen und lösten kontroverse Debatten über die Risiken und Nebenwirkungen für das liturgische Leben der Kirche aus. Inzwischen ist die Aufregung verschwunden und hat einem pragmatischen Vorgehen Platz gemacht. Immer häufiger gehören Anleihen aus der Liturgie zu den festen Bestandteilen der kirchlichen Internetpräsenz. Aus der Fülle der Angebote seien etwa die Klostergemeinschaften herausgegriffen, die ihre Gebetszeiten im Web übertragen und so den Kreis der Betenden auf diejenigen ausdehnen, die ihren Fuß vermutlich nur selten über die Schwelle einer Kirche setzen. Auf ein erstaunlich großes Echo stoßen die Websites, auf denen Menschen Gebetsanliegen austauschen. Einen Sonderfall stellen Projekte dar, die keine Übertragung aus einem Kirchenraum vornehmen, sondern Menschen vor dem Bildschirm versammeln, um über Bild und Ton gemeinsam Bibelworte zu bedenken, zu beten und in Austausch miteinander zu treten. Erfahrungsgemäß weisen nicht alle Konzepte die gleiche Qualität auf. Etliche Versuche sind fehlgeschlagen; manche stoßen allein schon deshalb an Grenzen, weil sie hinter dem technischen Standard zurückbleiben. Andere dagegen haben sich bewährt, etwa das Projekt der Internetkirche St. Bonifatius in funcity.de, das durchaus nennenswerte Zugriffszahlen aufweist. Es ist in ein umfassendes Seelsorgekonzept eingebettet und lädt in regelmäßigen Abständen zu Gottesdiensten ein, die ausschließlich online stattfinden. Andere Modelle experimentieren mit einer Mischung von herkömmlichen Gottesdiensten und Internet, etwa kirche.tv oder das Domradio in Köln. Hier wie dort sind neue Gebilde entstanden, zwar ohne den Anspruch, die Sakramente zu feiern, aber durchaus in der Absicht, eine gemeinschaftliche Gottesbegegnung zu ermöglichen. Die Selbstverständlichkeit der Angebote kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Frage nach dem Wesen und dem Stellenwert von Online-Gottesdiensten (immer noch) erhebliche Konflikte birgt. Der Streit entsteht zumeist durch den unmittelbaren Vergleich mit dem Gottesdienstleben außerhalb des Mediums: Gibt man hier nicht den spirituellen Reichtum eines ‚richtigen‘ Gottesdienstes leichtfertig aus der Hand? Sind eine (Mit-)Feier und eine Innewerdung Gottes überhaupt gegeben, wenn die Versammelten physisch gar nicht präsent sind? So sehr diese im engeren Sinne liturgischen Gesichtspunkte berechtigt sind, so wenig treffen sie das ganze Ausmaß des Problems. Die entscheidenden Fragen sind ekklesiologischer Natur: Kann man das Internet als einen Ort verstehen, an dem Menschen ihren Glauben leben – und eben auch feiern? Müsste eine kirchliche Onlinepräsenz nicht konsequent auf ein Konzept setzen, das das Internet als Artikulationsraum des Glaubens und nicht nur als ein pastorales Instrument begreift?
Ekklesiologische Fragen
Die offizielle kirchliche Einschätzung von Online-Gottesdiensten könnte kaum widersprüchlicher ausfallen. Einerseits scheinen sie selbst bei bisher skeptischen Verantwortungsträgern zunehmend auf Akzeptanz zu stoßen. Die Einsicht in die kulturelle Bedeutung des Internets hat sich als Konsens durchgesetzt und die genannten Projekte finden wohlwollende Unterstützung. Eine Kirche, die missionarisch wirken und den Glauben verkünden will, setzt auf alle Möglichkeiten, die die Medien zur Verfügung stellen. Die weiter zunehmende Bedeutung der digitalen Vernetzung bestätigt das Konzept, als religiöser Akteur neue Handlungsfelder zu erschließen und zu betreten. Dem stehen auf der anderen Seite offizielle Grundsatzdokumente gegenüber, in denen das Gottesdienstleben der Kirche und ihre Internetaktivitäten wie zwei getrennte Wirklichkeiten erscheinen. Zweifellos ist es der Verdienst dieser Papiere, auf ethische und pädagogische Herausforderungen aufmerksam zu machen, die aus diesem Medium resultieren, etwa die psychologischen Risiken. In der Regel findet jedoch kaum die Tatsache Aufmerksamkeit, dass das Netz wie kein anderes Medium den Zugang zu religiösen Überzeugungen und spirituellen Vollzügen grundsätzlich verändert. Der Wandel durch die Medien bleibt nicht ohne Folgen für das Kirchesein selbst. Mit anderen Worten: Ähnlich wie die digitalen Netzwerke, beispielsweise Facebook oder Twitter, die Gestaltung und die Deutung von sozialen Beziehungen verändern, wirkt das Netz auf das kirchliche Leben sowie das Glaubensleben des Einzelnen ein. Welche Konsequenzen diese Entwicklung nach sich zieht, darauf haben jüngst religionswissenschaftliche Untersuchungen hingewiesen. Im Netz zeigt sich – jenseits kirchlicher Bezüge – eine erstaunliche Religions- und Ritualfreudigkeit, ein Phänomen, das in anderen Lebensbereichen bereits für viel Interesse sorgt. Inzwischen spricht man sogar von neu entstehenden Internetritualen, die den Untersuchungen zufolge eine erstaunliche Lebensrelevanz aufweisen. Trauer- und Gedächtnisrituale, bei denen die Erinnerung an Verstorbene mittels Mausklick geschieht, sind nur die bekanntesten Beispiele. Solche Phänomene zeigen, dass das Internet unterbewertet wäre, wollte man es nur als ein Medium auf dem Weg zu religiöser Aktivität begreifen. Man muss sich das Netz als einen Ort religiöser Aktivität vorstellen.
Da mag aus kirchlicher Sicht nicht jeder mitgehen, zu stark scheint das Argument, das Internet befördere Profillosigkeit oder leiste dem Traditionsabbruch weiter Vorschub. Im Zusammenhang mit der Ekklesiologie des II. Vatikanums zeigen sich jedoch weiterführende Perspektiven. Das Konzil hat die Kirche in Sinn und Gestalt wiederholt als die von Gott zusammengeführte ‚Versammlung‘ bezeichnet (LG 8 u.ö.). Diese vergegenwärtigt die Kirche und lässt erkennen, dass es sich bei ihr um ein Zueinander der Glaubenden im Sinne eines Kommunikationsnetzes handelt. In der theologischen Diskussion wurde rasch deutlich, dass diese Sicht keinesfalls nur die institutionale Seite bezeichnet. Kirchesein meint ein Beziehungsgeschehen, das in Abhängigkeit von seinem kulturellen Umfeld stets neu Gestalt gewinnen muss. Die Folgen für den Kirchenbegriff sind nicht zu verkennen: Vervielfältigen sich die Kommunikationsorte, dann dürfen sie nicht durch die Maschen des kirchlichen Netzes fallen. Insofern spricht manches dafür, die Interaktionsprozesse im Internet nicht nur als ein Instrument zur Effektivitätssteigerung der Kirche, sondern als Resonanz- und Artikulationsmedium des Glaubens zu nutzen. Das Internet bildet die Kirche nicht nur ab. Die Kirche ereignet sich in ihm.
Liturgietheologische Fragen
Unbeschadet dessen bietet das theologische Selbstverständnis der Liturgie Zugänge, aus denen sich eine positive Einschätzung der eingangs beschriebenen Projekte ableiten lässt. Hier ist als erstes die Notwendigkeit der Inkulturation zu nennen. Wer in die Liturgiegeschichte schaut, stellt fest, dass das Gottesdienstleben der Kirche vital geblieben ist, weil es sich je neu auf geänderte kulturelle Rahmenbedingungen einstellen konnte. Anpassungen an die Gegebenheiten der Zeit bilden einen durchlaufenden Grundzug der Geschichte, der im Dialog mit der Tradition zu erstaunlicher Kreativität fähig war. Wie sehr die Liturgie der Inkulturation bedarf, hat das II. Vatikanum noch einmal eindrucksvoll herausgestrichen. Auch wenn heute manche kirchliche Verlautbarungen auf Beharrung setzen oder gar das Rad zurückdrehen wollen, wird die Frage nach den Bezügen des Geschehens zur Lebenswelt der Gegenwart weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Mit dem Blick auf das Internet wird es darum gehen, auf welche Weise seine technischen Möglichkeiten für den Glaubensvollzug fruchtbar gemacht werden können. Die beschriebenen Projekte stimmen optimistisch, weil sie diese Aufgabe beherzt angehen. Auf anderen Feldern hat man den Schritt der Inkulturation bereits getan, wie es beispielsweise die große Zahl der Gottesdienstprojekte beweist, die bewusst den kirchlichen Binnenraum verlassen und sich an alle Interessierte wenden. Vielerorts wird mit neu entwickelten Feierformen gearbeitet mit dem Ziel, Menschen aus dem Glauben Hilfen für ihr Leben an die Hand zu geben. Dieses Anliegen haben kirchliche Stellungnahmen aufgenommen. Sie ermutigen ausdrücklich dazu, um der Inkulturation willen an die Seite der geordneten Liturgien zielgruppengerechte Feiern zu stellen.
Ist über das Medium Gottes- und Kirchenerfahrung möglich? Diese Frage lässt sich mit einem Seitenblick auf die schon lange bewährte Praxis der Gottesdienstübertragungen im Fernsehen rasch beantworten. Die Übertragungen sind heute so normal, dass man sich gar nicht mehr vorstellen kann, dass darum in der Vergangenheit einmal heftig und explizit theologisch gerungen worden ist. Man befürchtete eine Nivellierung des Heiligen und sah im Medium eine Gefahr für die Ernsthaftigkeit des Geschehens. Diese Ängste sind durch belastbare Forschungen widerlegt worden. Der anfangs mit einer gewissen Ironie verwendete Begriff von der ‚Fernsehgemeinde‘ hat sich nachträglich als durchaus zutreffend herausgestellt. Befragungen von Mitfeiernden am Bildschirm haben zu Tage befördert, dass sie sich tatsächlich als Feiernde und nicht als passive Zuschauer empfinden. Insofern scheint das „Auge der Kamera“ der erforderlichen Innerlichkeit weit weniger abträglich als es oftmals behauptet wird.
Die Debatte um Online-Gottesdienste erreicht dort ihr schwierigstes Feld, wo es um die Bedeutung der Leiblichkeit geht. Was bisher an Experimenten existiert, findet über weite Strecken ohne die leibliche Kopräsenz der Feiernden in einem Raum statt. Diese Tatsache lässt nochmals erkennen, dass wir es mit einem Geschehen zu tun haben, das sich von einer Feier in einem Kirchenraum erheblich unterscheidet. Dies muss allerdings nicht automatisch zu einer kritischen Bewertung führen. Gewiss leben liturgische Handlungen von ihrer Sinnlichkeit, was vor allem die Sakramente mit ihren ausdrucksstarken Zeichen kraftvoll erfahren lassen. Aus diesem Grund wird man mit Nachdruck daran erinnern müssen, dass beispielsweise eine Trauung oder eine Eucharistiefeier, die allein im Internet stattfindet, dem Wesen der Liturgie widerspräche. Jenseits dieser Hochformen besteht jedoch Spielraum, wenn man berücksichtigt, dass die Liturgie seit jeher durch den Vorrang der Beziehung vor dem Ort gekennzeichnet ist. Das Argument vom Vorrang der Beziehung wurde bereits in der Debatte um die Fernsehübertragungen geltend gemacht, als es darum die ging, die besondere Form der Teilnahme über den Bildschirm zu qualifizieren. Damals sprach man von der ‚intentionalen Teilnahme‘, also der inneren Hinordnung des Einzelnen auf das Geschehen, die die Mitfeiernden zu einer Versammlung verbinden könne, auch wenn sie nicht kopräsent sind. Dieses Argument ließe sich für das Internet folgendermaßen fortschreiben: Wo Menschen sich von Gott rufen lassen, in Beziehung miteinander und mit Gott treten, dort kann eine gottesdienstliche Versammlung entstehen.
Ausblick
Gottesdienstliche Vollzüge im Internet sind keineswegs nur eine Sache für Internetbegeisterte oder religiös interessierte Medienspezialisten. Sie stehen stellvertretend für eine Kirche, die mit ihren Vollzügen die Öffentlichkeit sucht und nach Räumen Ausschau hält, in denen die Botschaft des Evangeliums verkündet, gelebt und gefeiert werden kann. Realistischerweise wird man natürlich auch die Grenzen sehen müssen. Eine unkritische Euphorie ist fehl am Platz, weil die beschriebenen Projekte sicherlich kein Allheilmittel gegen den Auszug vieler Menschen aus der Kirche sowie den Glaubensverlust sind. Insofern wäre es naiv, wollte man allein auf eine verstärkte Internetpräsenz setzen. Der entscheidende Schlüssel dürfte darin liegen, die Möglichkeiten des Internet als Erweiterung des kirchlichen Lebens wertzuschätzen: „Weder ‚Verbiederung‘ noch ‚Gegenspiel‘ zum kulturellen Umfeld wird den Menschen der heutigen Zeit den Zugang zu den gottesdienstlichen Feiern der Kirche erleichtern“ (B. Jeggle-Merz).