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Digital Natives und kirchliche Kommunikation

Sie sind mit den klassischen Formen der Pastoral kaum noch anzusprechen: die jungen, postmodern geprägten Milieus der Digital Natives. Das Internet ist für sie nicht irgendein „neues Medium“, sondern selbstverständlicher Teil ihrer Wirklichkeit; es hat von Jugend an ihren Lebens- und Kommuni­ka­tions­stil mitgeformt. Zu ihren Lebenswelten findet die Kirche nur punktuell Zugang. Andrea Meyer-Edoloeyi fragt, wie Glaubenskommunikation mit dieser Gruppe möglich werden kann und plädiert für einen inkulturativen Lernprozess, um Netzkultur und Christentum miteinander in Dialog zu bringen.

Im Mai 2013 findet die re:publica in Berlin statt. Das ist die wichtigste jährliche Konferenz zum Internet im deutschsprachigen Raum, der Hotspot der Digital Natives. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrags liegt noch kein Programm vor – doch ich kann jetzt schon sagen, dass ich äußerst positiv überrascht wäre, wenn dort das Thema Religion und Kirche vorkäme. Diese Absenz ist Ausdruck einer schleichenden Exkulturation der Kirchen (vgl. Sellmann, Passung, 3). In der Binnen­logik der Kirchen kommt das Internet als Lebensraum nicht vor, es wird primär als Verbreitungsweg bestehender Dokumente verstanden. Das verkennt, dass das Netz längst interaktiv und „social“ geworden ist, dass „the People Formerly Known as the Audience“ (Rosen, People) längst Produser sind, die selbst Inhalte im Internet generieren und ihre Be­zie­hungen über soziale Netzwerke organisieren: Digital Natives sind online, sie gehen nicht online.

Dieser Beitrag lädt ein, die Lebenswelt der Digital Natives zu erkunden, und stellt positive Anknüpfungspunkte für die Kommunikation der Kirche mit diesen dar.  Dabei sollte implizit auch deutlich werden, was getan werden kann, damit die Ressourcen der christlichen Botschaft für die re:publica 2014 ff. erschlossen werden können – um der Menschen willen.

Digital Natives als schillernder Modebegriff

Der Begriff wurde von Marc Prensky in Anlehnung an den linguistischen Begriff „Native Speaker“ geprägt (vgl. Prensky, Digital Natives). Menschen, die in einer Zeit erwachsen wurden, wo digitale Technologien wie Computer und Internet bereits verfügbar waren, sind nach Prensky Digital Natives. Die Begriffe „Generation Y“, „Net Generation“ und „Millenials“ werden zumeist synonym verwendet. Diese Definition und damit der Begriff der Digital Natives wird von vielen Medien­wissen­schaftler_innen auf Basis von Untersuchungen des Medienverhaltens kritisch gesehen (vgl. Schulmeister, Net Generation). Empirische Untersuchungen machen deutlich, dass sich das Nutzungsverhalten von älteren Personen, die intensiv das Social Web nutzen, nicht qualitativ von dem der jüngeren Generation unterscheidet. Es gibt auch jüngere Personen, die ein Kommunikationsverhalten von „Digital Immigrants“ zeigen oder sogar „Digital Outsiders“ sind, ebenso wie es Ältere gibt, die das Netz in einer Weise nutzen wie es Prensky nur den Jüngeren zuschreibt. Mit diesem Begriff wird, so kritisiert Jan Schmidt, die Vorstellung aus den 1990er-Jahren reproduziert, das Internet sei ein „eigener Raum, ein 'Cyberspace' mit eigenen Gesetzen, Riten und Normen, der losgelöst von der 'realen Welt' existiere“ (Schmidt, Neue Medien, 35).

Der Organisationspsychologe und Unternehmensberater Peter Kruse schlägt ausgehend von einer repräsentativen Untersuchung von „heavy users“ die Unterscheidung von „Digital Residents“ und „Digital Visitors“ vor (vgl. Kruse, Nutzung). Das Alter ist dabei nicht das Unter­scheidungs­kriterium. „Digital Resident“ zu sein ist eine Werthaltung, kein Geburtsrecht, sagt Kruse.

Wertorientiert ist auch die mit den Sinus-Milieus® arbeitende DIVSI-Studie, die eine Unterscheidung der bundesdeutschen Bevölkerung in „Digital Outsiders“, „Digital Immigrants“ und „Digital Natives“ nahe legt (DIVSI, Vertrauen). Interessant ist die DIVSI-Studie insbesondere deswegen, weil durch die Verwendung des gleichen Forschungsmodells daraus auch Schlussfolgerungen für die Haltungen der „Net people“ zum Thema Religion und Kirche gezogen werden können, Digital Natives sind allesamt im postmodernen Sinus-Wertesegment angesiedelt. Digital Natives (41 % der bundesdeutschen Bevölkerung) werden in der DIVSI-Studie in die Milieus der „Digital Souveränen“, „Effizienzorientierten Performer“ und „Unbekümmerten Hedonisten“ weiter differenziert, insbesondere das Milieu der „Digital Souveränen“ kommt der Beschrei­bung der „Digital Residents“ im Modell von Peter Kruse nahe.

Lebenswelten von Digital Natives

„Wir ‚surfen’ nicht im Internet und das Internet ist für uns kein ‚Ort’ und kein ‚virtueller Raum’. Für uns ist das Internet keine externe Erweiterung unserer Wirklichkeit, sondern ein Teil von ihr: eine unsichtbare, aber jederzeit präsente Schicht, die mit der körperlichen Umgebung verflochten ist. Wir benutzen das Internet nicht, wir leben darin und damit.“ (Czerski, Netz-Kinder)

Für Digital Natives sind Internet und Social Web ein für sie selbst­verständlicher Teil ihres Alltags, es ist intensiv mit ihrem Identitäts-, ihren Beziehungs- und Informationsmanagement (vgl. Schmidt, Netz) verwoben. Das „Selbst-, Sozial- und Weltverhältnis“ (Trocholepczy, Agora, 238) der Menschen, ganz besonders der Digital Natives, wird mittlerweile über das Internet hauptreguliert, so der Religionspädagoge Bernd Trocholepczy. In der DIVSI-Studie wird den „Digital Natives“ der Satz „Ich surfe, also bin ich“ (DIVSI, Vertrauen) in den Mund gelegt. Sie nutzen überdurchschnittlich mobile Technologien und das Internet spielt beruflich wie in der Freizeit eine herausragende Rolle. Etwas, das nicht im Internet zu finden ist, „gibt es nicht“ – in der Perspektive dieser Menschen. Kommunikation von Angesicht zu Angesicht und Kommuni­kation über das Internet ist für dieses Milieu gleichwertig, für den unbe­ding­ten Vorrang der Offline-Kommunikation gibt es kein Verständnis.

Digital Natives als kirchendistanzierte Milieus

Der Vergleich verschiedener Untersuchungen zeigt: Je kirchen­distan­zierter jemand ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass er oder sie Digital Native mit postmodernem Lebensstil ist und umgekehrt. Die Religionssoziologie zeigt seit Jahren auf, dass die Kirche ein massives Kommunikationsproblem mit diesen Milieus hat. Unlängst wurde dies mit dem Update der Sinusstudien wieder bestätigt. Kirche wird von Menschen mit postmodernem Lebensstil als alt, verstaubt und reform­resistent wahrgenommen. Im Alltag gibt es kaum Berührungspunkte, weil diese Menschen keinen Nutzen in den Angeboten der Kirche sehen.  Allenfalls wird noch konstatiert, dass es gut ist, dass es die Kirche übe­rhaupt gibt. Wer twittert (und sich dort nicht eine christlich-katholische Filterbubble aufgebaut hat), bekommt diesen Befund tagtäglich vorgeführt.

Kommunikationschancen mit Digital Natives

„Gib mir ein kleines bisschen Sicherheit. In einer Welt in der nichts sicher scheint. Gib mir in dieser schnellen Zeit irgendwas das bleibt.“

So heißt es in einem Songtext von Silbermond. Sinnsucher_innen sind die Menschen der postmodernen Milieus aber allemal – die christliche Botschaft hätte durchaus das Potential eine positive Ressource für die Biografie von postmodernen Menschen darzustellen. Die Kreativität, die der Rücktritt des Papstes auf Twitter ausgelöst hat, zeigt, dass Religion etwas ist, was alle unbedingt angeht. Eine theologische Deutung der Beziehungserfahrungen im Social Web als „kleine Transzendenzen“ (Thomas Luckmann) im Alltag verweist einerseits auf die Differenz zwischen Gottes- und Beziehungserfahrung, andererseits aber auch auf die Durchsichtigkeit dieser in Richtung „großer Transzendenzen“ (vgl. Costanza, Fernanwesenheit, 144).

Punktuell gelingt es Kirche, positive Berührungs- und Andockpunkte für postmoderne Milieus zu schaffen – insbesondere dort, wo Kirche sich auf experimentelles Terrain wagt, sich bewusst inkulturierend auf die Sicht der „Anderen“ einlässt und die „Fähigkeit, von den anderen her die Bedeutsamkeit des Evangeliums erschließen und entdecken zu können“ (Bucher, Adressaten, 74), entwickelt. Es fällt auf, dass fast alle dieser „Fresh Expressions of Church“ (FreshX) (vgl. Herbst, Church Planting) im postmodernen Segment völlig selbstverständlich im Social Web kommunizieren.

Kommunikation mit Digital Natives ist weit mehr als eine Facebook-Page

So sinnvoll und notwendig es ist, dass die Kirche zeitgemäße Auftritte im Internet entwickelt, so sehr ist vor dem oben geschilderten Hinter­grund auch klar, dass dies alleine zu wenig ist, um mit postmodernen Milieus, mit Digital Natives, positive Kommunikationsräume zu eröff­nen. Vielmehr bleibt kaum ein Bereich der Pastoral vom Social Web unberührt – jedenfalls dann, wenn Pastoral im Sinne des Auftrags des Evangeliums potentiell für alle Menschen die Konfrontation der eigenen Existenz mit der christlichen Botschaft ermöglichen will.

Die Facebook-Page einer Pfarrgemeinde stellt – wenn sie engagiert betreut wird – einen positiven Schritt der Öffnung und Ansprechbarkeit dar, sie ist aber doch primär eine Kommunikationsplattform für sowieso schon kirchliche Sozialisierte – außer die Pfarrgemeinde würde sich selbst wesentlich weiterentwickeln. Wer Digital Natives bloß als Kommu­nikator_innen des kirchlichen Geschehens im Internet versteht, ignoriert ihr Bedürfnis, auf eigene Art und Weise ihre Beziehung zu Gott und ihr Kirche-Sein zu leben. Folgende schematische Darstellung macht deutlich, dass für unterschiedliche Milieus auch unterschiedliche pastorale Herausforderungen durch das Social Web entstanden sind:

 
Digital
Outsiders
Digital
Immigrants
Digital
Natives
Milieu nach DIVSI-StudieOrdnungs­for­dern­de Internet-Laien 
Internetferne Verunsicherte
Postmaterielle Skeptiker 
Verantwortungs­bedachte Etablierte
Digital Souveräne
Effizienzorientierte Performer
Unbekümmerte Hedonisten
Sinus-Milieus
 
Konservative
Traditionelle
Konsumorientierte Basis
Bürgerliche Mitte (z.T.)
Etablierte
Bürgerliche Mitte (z.T.)
Postmaterielle
Performer
Adaptiv-Pragmatische
Expeditive
Hedonisten
Haltung gegenüber Internet Verunsicherung
Überforderung
Exklusion
Verantwortungs­bewusstsein
Skepsis
Multioptionalität, vernetzt-entgrenzt
„Wir gehen nicht online, wir sind online“
Erreichbarkeit über das Social WebSo gut wie gar nichtPartiellFast ausschließlich
Pastorale HerausforderungDigital GapVerbindung von Online und OfflineNetzinkulturation
Kommunikations-BeispieleErzählcafe, in dem sich Generationen begegnenFotos einer Veranstaltung auf Flickr

Facebook-Page einer Pfarr­gemeinde
Direkte, persön­liche Kommuni­kation auf Twitter

Barcamp
 

(Abb. 1: Internet-Kommunikationsformen nach Sinus-Segmenten. Quelle: Eigene Darstellung.)

 

Diese Darstellung bezieht sich auf Erwachsene. Die Herausforderungen in der Jugendpastoral stellen sich anders, weil Jugendliche so gut wie alle im Social Web aktiv sind – wenn auch in unterschiedlicher Weise und Intensität.

Netzinkulturation

Wenn heute im Kontext des Social Web vielfach davon die Rede ist, dass Paulus gebloggt hätte und via Twitter mit den Menschen in Kommu­nikation getreten wäre, wird der Kontext der ersten Verbreitung der christlichen Botschaft in der griechisch-hellenistischen Kultur aufge­rufen. Mit der Rede von der „Agora der Netzwelt“ (vgl. Benedikt XVI., Seelsorge) ist durch diesen Zusammenhang immer mehr ausgesagt als nur das Entstehen eines neuen Kommunikationskanals für die christ­liche Botschaft. Die Erfolgsgeschichte des Christentums ist zuallererst eine erfolgreiche Inkulturationsgeschichte. Der Theologe und Social Media Berater Jürgen Pelzer hat in diesem Kontext den Begriff der „Netzinkulturation“ geprägt (vgl. Pelzer, Netzinkulturation). Gemeint ist damit die wechselseitige Inspiration von Digital Natives und christlicher Botschaft.

Netzinkulturation meint dabei in meinem Verständnis keine fertige Strategie, sondern vielmehr eine Haltung, die sich  theologisch ver­ant­wortet auf konkrete (Kommunikations-)Situationen im Internet einlässt und dort Passungen mit Digital Natives sucht.  Damit hat sie eine explizite Nähe zu den schon angesprochenen FreshX: In vielen Fällen wird das Social Web integraler Bestandteil von neuen Ausdrucksformen von Kirche sein, die ihre Basis in der „Kohlenstoffwelt“ haben, wie es beispielsweise heute schon bei manchen Jugendkirchen der Fall ist; es ist aber genauso denkbar, dass sich der Ort des gemeinsamen Lebens von Religion fast ausschließlich ins Internet verlagert, dass es FreshX nur online gibt. Dazwischen immer: Alltagskommunikation, implizit oder explizit religiös – und offen für „mehr“.

Die Botschaft am Anderen neu lernen

Netzinkulturation bedeutet sich auf einen experimentellen und nicht immer einfachen Lernprozess und auf den aktiven Dialog einzulassen. Der Social Media Experte Jörg Eisfeld-Reschke meint: „Würde die Kirche mich als Kunden kontaktieren wollen, dann müsste sie sich zu mir begeben und das nicht nur mit dem Glockenläuten am Sonntagmorgen. Erst wenn die Kirche auf mich reagiert, mit mir in den kritischen und humorvollen Dialog tritt, kann sie mich zurückgewinnen“ (Eisfeld-Reschke, Experte). Damit ist der unwiderrufliche Paradigmenwechsel von Sender-Empfänger-Modell hin zur usergenerierten Kommunikation genauso wie das persönliche Moment der Kommunikation ange­spro­chen. Netzinkulturation verlangt wahrzunehmen, dass Kommuni­kation im Social Web zuallererst persönliche Kommunikation ist und es dafür Menschen braucht, die tief verwurzelt im christlichen Glauben, ihr Charisma (vgl. Pelzer, Internetstrategie) in dieser Form der Kommuni­kation mit Anderen finden, ganz egal ob auf Facebook, Twitter oder in Blogs. Der Dialog findet immer zwischen konkreten Menschen statt. Die usergenerierte Kommunikation im Internet leistet damit einen Beitrag dazu, das in der Volk-Gottes-Theologie des II. Vatikanischen Konzils grundgelegte Verständnis des Werden der Kirche von den Menschen her - hier der Digital Natives – wieder neu umzusetzen.

Do it!

Wenn es 2013 auch nicht mit der re:publica klappt, laden dezentral Barcamps oder andere aus der Internetkultur entstandene Veranstaltungsformate Christ_innen ein, von Digital Natives zu lernen und Gott ins Gespräch zu bringen. Was beispielsweise Gnade und die digitalen Kulturen des Remix und der Creative Commons miteinander zu tun haben, wird nur gemeinsam mit Digital Natives erdacht werden können.