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„Das durchsichtige Ich“ – Kommu­nikation und Selbst­­konstruktion im Web 2.0

Orte und Herausforderungen theologischer Reflexion

Unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen findet religiöse Kommu­ni­kation heute überhaupt statt, gerade im Web 2.0 mit seinen vielfältigen Möglichkeiten des Selbstausdrucks und der Konstruktion und Präsentation verschiedener Identitäten? Gunda Werner-Burggraf spricht einige der damit verbundenen Fragen an und formuliert Thesen, was Theologie im Blick auf die Kommunikation im Netz leisten kann und soll.

Das Internet als weltweites Netz scheint allgegenwärtig zu sein. Fast vergessen wirken die Zeiten, in denen Kommunikation langsamer und Kontakte aufwändiger waren. Mit dem Weltweiten Netz verändert sich eine ganze Kultur des Lebens, des Schreibens und der Nähe. Wie blickt Theologie auf die Kommunikation im Netz? Welchen Ort und welchen Raum nimmt Religiosität ein? Zwischen Euphorie und Skepsis nehmen Theologie und kirchliche Praxis die Veränderungen der Welt und ihrer Kommunikationen wahr. Ist nun die Gottesferne oder die Gottesnähe das Thema postsäkularer Welt? Ist die Kommunikation im Netz profan, symbolisch oder doch irgendwie religiös? Inmitten der historischen und gesellschaftlichen Umbrüche der letzten Jahrzehnte ist theologisches Fragen und Sprechen einerseits zu einem echten Fragen, andererseits aber auch zu vollmundigen Ausrufezeichen geworden. In diese Span­nung hinein möchte ich den Blick auf die Kommunikation im Web 2.0 richten, in dem ja die Selbstgestaltung in den Vordergrund gerückt ist.

1. Theologie in postsäkularer Gesellschaft – zwischen Euphorie und Skepsis

Vor nunmehr zwölf Jahren hat Jürgen Habermas mit „Glauben und Wis­sen“ die Debatte um die Säkularisierung neu angefacht. Schien sich im Blick auf die Neuen Bundesländer die Theorie einer Säkularisierung zu bestätigen, setzen Theologen dagegen, dass in der zunehmenden Verun­sicherung „Religiosität kein Überbleibsel einer unaufgeklärten Vorzeit“ (Höhn, Der fremde Gott, 70), sondern „vielmehr, genau im Gegenteil, Produkt avancierter, sich selbst in Frage stellender Moder­ni­sierungen“ (Beck, Der eigene Gott, 114; zit. nach Höhn, ebd.,70) ist. Grob können drei mögliche Reaktionen unterschieden werden: Die einen sehen eine Wiederkehr der Religion (vgl. Knob­loch, Mehr Religion, 101ff) und su­chen für sie Anknüpfungspunkte in der Perspektive, dass jede Zeit eine andere Deutung und Sprache brauche, aber Religion im Sinne der Kirch­lichkeit – so sie nur tief genug verankert sei – nicht vergeht (vgl. Knob­loch, ebd., 82); andere sehen ihre Aufgabe in der philosophischen Refle­xion auf den Menschen und seine Zeit (vgl. Striet, Wiederkehr des Athe­ismus). Eher dialektisch baut die dritte Position eine Spannung zwi­schen guten und bösen Mächten auf und nimmt dies als Ausgangspunkt von Theologie, die in diesem Fall das Erstarken von dunklen Mächten auf das Schwinden von guten Mächten zurückführt und eine zukünftige Perspektive in einer klaren Entscheidung und Unterscheidung der Chris­­­ten sieht. Unter dem Strich bleibt die Menge an spirituellen Kräf­ten gleich, sie verteilt sich nur anders. Ich konzen­trie­re mich auf den zweiten Ansatz, der die Reflexion auf den Menschen in den Mittelpunkt stellt. „In postsäkularen Zeiten eine kritische Phäno­meno­logie der Reli­gion auf den Weg zu bringen heißt darum für die Theologie, sich mit jener Disziplin ins Benehmen zu setzen, die durch die Sache der Ver­nunft definiert ist. Sie kommt nicht umhin, gegenüber den Vernünfti­gen für die Sache des Glaubens vom Standpunkt philo­sophi­schen Den­kens her einzutreten.“ (Höhn, Postsäkular, 56). Wird die Gesellschaft zugleich als postmoderne und postsäkulare verstanden, stellen sich in der theologischen Reflexion dringende Fragen, die sich um das Verste­hen des Subjekts, die Frage nach dem religiösen Ausdruck inklusive der Teilnahme und Teilhabe institutioneller Religions­gemein­schaften dre­hen, aber ebenso bedarf es einer Positionierung bezüglich der kommu­ni­kativen Realitäten im Web 2.0.

2. Postsäkulare Kultur in medialer Vermittlung – Phänomenologie der Signaturen

Die selbstreferentielle und ästhetische Lebenskonstruktion der postsä­kularen Welt der Nordhalbkugel, die größtenteils virtuell in einer par­tiellen Vergemeinschaftung auf Zeit oder für eine begrenzte Idee ge­schieht, vermittelt Kommunikation einerseits individuell, anderer­seits in einer eigenen Sprache, die wiederum verbindend und verbind­lich kodiert ist. Die Kultur erscheint sowohl individualisiert und kollektiv als auch säkular und religiös konnotiert. Gerade die unterschiedlichen sozial vernetzenden Internetplattformen bieten dafür eine vielfältige Performance-Oberfläche, auf der ein Mensch sich in unterschiedlichen Identitäten oder in unterschiedlichen Schwerpunkten seiner Identität präsentieren kann. Dabei erscheint eine Performance vor allem dann religiös, wenn sie sich in der eigenen Ästhetik einen oder mehrere sym­bolische Ausdrücke verleiht. Das eigene Leben scheint in den unter­schiedlichen Teilbereichen entweder als ganzes oder aber teilweise religiös „musikalisch“ darstellbar zu sein. In der Wahrnehmung von pluralen Identitäten ist zunächst  einmal nur festzustellen, dass für bestimmte Erfahrungen, Wünsche oder Vorstellungen religiöse oder religiös konnotierte Sprache auszudrücken vermag, was in säkularer Sprache keine Entsprechung zu finden scheint (Vgl. Höhn, Postsäkular, 19ff).

3. Ich-Präsentation im Web 2.0

Identitäten sind verführerisch. Je mehr es möglich ist, sich zu präsen­tieren, desto vielfältiger werden die Stimmen derer, die vor einem Realitätsverlust warnen. Ich will eher einen theologischen und philo­sophi­schen Blick auf dieses Phänomen werfen, ohne es sofort durch die Brille der Gefahr zu sehen. Virtuell ist zunächst kein Gegenstück zu real; logisch kann nur etwas abgebildet werden, was es in der Realität gibt. Jede geschaffene Identität geht auf eine real existierende zurück und kann ohne diese reale Identität und ihre Interaktion mit der virtuellen nicht existieren. Auch wenn die im Netz kommunizierenden Maschinen mehr werden, sind es eben doch Menschen, die den Schwerpunkt der Kommunikation legen. Theologisch wird es doch darum gehen, ob die Interaktion im Netz jene Dimension erreicht, die theologisch als huma­ne verstanden werden kann: eine Interaktion in reziproken Aner­ken­nungs­­verhältnissen. Zu denken ist also der Umstand, wie sich die Iden­ti­täten zum sie entwickelnden Subjekt verhalten, und damit die Idee einer Einheit hinter der Identität so zu denken, dass sie als Subjekt reflektier­bar bleibt. Obwohl diese Entscheidung eine Skepsis gegenüber starken Subjekttheorien ermöglicht, heißt es doch sich auf die Über­zeu­gung einzulassen, „dass eine Hermeneutik des christlichen Glaubens, die zugleich an Geltungsfragen interessiert ist und sich auf die Aufgabe der philosophischen Rechenschaft des Glaubens einlässt, nur am Leit­faden des Subjekts gelingen kann.“ (Striet, Das Ich im Sturz der Realität, 24). Philosophisch ringt die Erkenntnis um das Prinzip des Denkens und Handelns, theologisch um die Bedingung der Möglichkeit von Glaubens­vergewisserung und Gotteserkenntnis. Mit dem entschiedenen Fest­hal­ten am Subjekt wird der Gedanke der freien Glaubens­ent­scheidung und ihrer Gestaltung ebenso ermöglicht wie der notwendige Diskurs mit der Moderne eröffnet. Hinter den Identitäten steht also kein konfuses Etwas oder ein leeres Nichts, sondern ein Subjekt, das seine Identitäten in­sze­niert.

Die Art und Weise, wie eine Vergewisserung des Subjekts über sich selbst in seinen Identitäten – ob in der realen oder in der virtuellen Welt – erfolgt, ist der hermeneutische Schlüssel für theologisches Denken in postsäkularer Zeit. Es zeigt sich nämlich in verschiedenen Kategorien, wie Identität im Netz verstanden werden kann und welche möglichen Deutungen bereitstehen, wenn die bisherigen Kenntnisse zusammen­gebunden werden. Die Fragen nach dem „Ich“ in der Identität, nach der Instanz also, die die Identitäten zusammenhält und als Einheit des Sub­jekts gedacht wird, kann sich in vier verschiedenen Perspektiven stel­len, die alle jeweils für das Subjekt ebenso eine Bedeutung haben wie für die Deutung und damit theologische Relevanz des Wahr­ge­nom­menen.

Wie das „Ich“ verstehen? – Das Ich verstehen, heißt Ästhetik verstehen

Wird mit einem phänomenologischen Blick das Leben im Netz ange­schaut, dann könnte gesagt werden: Ich-Verstehen heißt Ästhetik ver­stehen. Das Ich, das sich im Internet bewegt, bewegt sich ästhetisch. Es ist einerseits eingebunden in eine vorgegebene Kunstform des Inter­nets. Es kann andererseits durch die in diesem Sinne durchaus als Demokratisierung zu nennende Vielfalt eigene Darstellungsformen wählen. Ich-Verstehen geht, wenn ich die Bilder verstehe, die Farben, die Symbole.

Wie „Ich“ sein? –Personalisierung der eigenen ästhetischen Ausdrucksform durch Identitäten

Ich sein im Internet ist eine verführerische Sache. Es kann die unter­schied­­lichen Facetten seiner selbst oder auch ersehnte darstellen, ent­wickeln, entwerfen. Es kann sich ästhetisch frei und bezogen auf die eigenen Vorstellungen schaffen. Es kann sich verlieren in seinen ge­schaf­fenen Ichs. Ich sein im Netz ist die Personalisierung der eigenen ästhetischen Ausdrucksform durch Identitäten.

Wie „Ich“ darstellen? – Seismograph der handelnden Person und der Gesell­schaft, in der Darstellung werden gesellschaftliche Tabus transparent

Der Mensch am Computer hat im Grunde einen Baukasten vor sich stehen. Aus diesem sucht er sich passende Bausteine für seine Identi­täten im Netz. In second-life kann er sich einen virtuellen Menschen bauen, in den Wirtschaftsnetzwerken seriös sein, in Freundschafts­netzwerken von Hobbies erzählen, sich in alternativen oder linken Netzwerken unter falschen Namen „outen“ oder eben auch in rechten Netzwerken unentdeckt aktiv sein. Immer ist die Darstellung so etwas wie der Seismograph der handelnden Person. Die Darstellung wird in irgendeiner Form authentisch sein, sie zeigt die Person vielleicht sogar in einem Maße vollständig, wie es außerhalb des Internets nicht geht. Und zugleich aber ist die individuelle und persönliche Darstellung immer auch ein Seismograph der Gesellschaft, die dahinter steht. In der Selbstdarstellung in Identitäten wird die Gesellschaft in ihren Trends, aber auch in ihren Tabus dargestellt. Nicht geführte Dialoge finden dort ihren Platz. Oft finden nicht geführte Dialoge im Netz leider ihre Nische in der Verengung und in weiterer Dialogverweigerung. Im Netz werden je aktuelle gesellschaftliche Tabus transparent. Die persönliche Dar­stel­lung ist zudem extrem gefährdet. Die Werbung einer Community macht bereits deutlich, wie eine Darstellung erwünscht ist. „Wie Ich darstel­len“ ist die Herausforderung der Wahl und Entscheidung für die eigene Freiheit und die eigenen Grenzen: die vielleicht wichtigste Herausforde­rung im Netz. Die Art und Weise, wie ich mich im Netz darstelle, ist zugleich ein Zugriff auf viele Perspektiven und von vielen Perspektiven.

Wie „Ich“ kommunizieren und vernetzen? – Vergemeinschaftung auf Zeit und die Begrenzung auf eine Idee. Sie ist von außen gesteuerte Kommuni­kation durch intransparente Interessen

Die verschiedenen Identitäten sind dazu geschaffen, dass sie kommuni­zieren. Das setzt einen ganz besonderen Kommunikationsbegriff vor­aus. Der Begriff beinhaltet nämlich auch Kommunikation als Betrach­ten. Auch ein „Besuch“ auf einer persönlichen Internetseite ist eine Kommu­nikation. Niemand würde den kommunikativen Charakter musealer Bildung abstreiten. Ebenso ist es im Netz. Darüber hinaus kommuni­zieren aktive Internet- und CommunitynutzerInnen mehrere Stunden am Tag. Inwiefern dies ein freiheitlicher Akt ist, kann aufgrund der netzinternen Bewertung hinterfragt werden: Wird die Nutzung von Communities weniger, ist dies sofort durch einen verminderten Aktivi­täts­index zu sehen. Kommunikation im Netz ist reguliert und kontrol­liert. Sie hat dabei einen hohen ethischen Kodex. Es gibt Dinge, die in Communities nicht sein und gesagt werden dürfen. Jede dieser Commu­ni­ties ist dementsprechend gefährdet, unterwandert zu werden. Sich im Netz zu bewegen ist auch unerkannte und unbekannte Ver­netzung und Kommunikation, die einem aufgezwungen wird durch externe Beobach­tung – sei es staatliche oder andere. Das Ich kommu­niziert lang und kurz, in Kunstsprache, in anderen Sprachen, in Bildern. Immer steht eine aktive handelnde Person hinter jeder Kommunikation und bildet die Einheit hinter den vielen Versatzstücken. In dieser Vernetzung durch Kommunikation gibt es  unterschiedliche Player. Viele von ihnen sind durch Werbung zu erkennen, manche aber nicht. Selbst hinter den Netzwerken – sozusagen den Profis in der Kommunikation – stehen weltanschauliche oder wirtschaftliche Interessen. Die politische Rele­vanz bekommt die Vernetzung und Kommunikation durch die Demo­kra­tisierung von Wissen – politische Vorgänge werden sofort überall bekannt. Es scheint, als sei das Bedürfnis des Kommunizierens und Sich-Darstellens höher als die Sorge um die Identität, die Gefähr­dung der Persönlichkeitsrechte und des Sich-Aussetzens in einem Kontext, in dem nur ein Bruchteil der tatsächlichen Player als solche auf der Bild­schirmoberfläche erscheinen. Die handelnde Person ist ja selbst ein Teil des verschleiernd-entschleiernden Prozesses, den das Internet täglich beschreibt.

4. Subjektive Religiosität in narrativer Vergewisserung

Für die Theologie hängt Wesentliches am Subjektbegriff. Dement­spre­chend scharf ist die Kritik an der Idee der Verabschiedung des Subjekts. Henning Luther beispielsweise grenzt sich deutlich von der post­moder­nen Verabschiedung des Subjekts ab (vgl. Lämmerlein, Wider „die ge­sell­schaftliche Verdrängung von Schwäche“, 220; Lott, „Religion und Alltag“, 231; Werner, Macht Glaube glücklich? 105ff). Er versteht die Herausforderung der Theologie gerade darin, unter den Bedingungen der Spätmoderne die Bedeutung von Subjektivität im Zusammenhang mit Religiosität zu reflektieren. Denn gerade in der Unhintergehbarkeit der Individualität des Einzelnen sieht Luther den letzten Bezugspunkt christlicher Religion. In seiner Subjektreflexion unterscheidet er gleich­wohl zwischen dem Subjekt als unhintergehbarer Einheit und der Iden­tität, deren normatives Ziel, durch persönliche Entwicklung eine ganze und vollständige Identität auszubilden, er jedoch theologisch hinter­fragt. Diese innovative Leistung in der Identitätsdiskussion ist inzwi­schen kaum noch rezipiert. Mit dem Bild des „Fragments“ vermag er sowohl eine bildlich-phänomenologische Beschreibung faktischer Erfahrung zu geben, als auch eine christologische und soteriologische Deutung in die Subjektdebatte einzuführen. Die Identität als Fragment – soziologisch gewendet die Patchwork-Identität – denkt Henning Luther unhinterfragbar „coram Deo“ und sieht diese zugleich in der Narration verbunden, die er exemplarisch anhand des Tagebuchs untersucht (Luther, Der fiktive Andere, 111-122). Den wesentlichen Unterschied zwischen der gelebten faktischen Identität und der geschriebe­nen Biographie sieht er in der Verknüpfung von Vergangen­heit, Gegenwart und Zukunft und der Annahme eines fiktiven Gegen­übers. Selbst das Tagebuch als eine der intimsten Kommunikations­formen erscheint so als eine Kommunikation mit jemandem. Dabei entsteht im Schreiben ein Gegenüber, dem durch den Akt des Schrei­bens die Eigenschaften verständ­nisvoll, vielleicht auch kritisch, nicht urteilend, zuhörend und darin erhellend zugeschrieben werden. „Der ‚fiktive Ande­re’ ist also liebend und kritisch zugleich, und zwar eins im anderen.“ (Luther, ebd., 118; kursiv im Original) Luther geht weiterhin davon aus, dass diese Logik auch für den in der Öffentlichkeit schreiben­den Biograph gilt. Christlich identifiziert Luther in diesem fiktiven Ande­ren Gott und liest Biographien, Tagebücher auch im Charakter von Bekenntnissen. „Lob und Klage des konfessorischen Subjekts korrespon­dieren Gericht und Gnade auf Seiten Gottes, so wie Schmerz und Sehn­sucht des auto­bio­graphischen Ichs der Kritik und Liebe des ‚fiktiven Anderen’ ent­spre­chen.“ (Luther, ebd., 120) Luther beendet seine Aus­füh­rungen mit der These, dass „die religiöse Dimension sich vor allem in der formalen Struktur autobiographischer Reflexion ausmachen lässt“ (ebd., kursiv im Original) und sich in der spezifischen Weise ausdrückt, wie das Subjekt sich zu sich und der Welt in ein Verhältnis setzt. „Denn beides, die durch die Sinndeutung und Bewertung begründete Auswahl der erinnerten und deshalb für die eigene Identität relevanten Ereig­nis­se ebenso wie die aufgrund neuer Erfahrungen fällige Revision bisheri­ger Einsichten, untersteht dem Wesensgesetz der sich realisierenden Freiheit.“ (Essen, Die Freiheit Jesu, 190) Wird die Narration darüber hinaus im Sinne der Identitätspräsentation (Essen, ebd., 187 ff) ver­stan­den, erschließen sich einerseits die wesentlichen formalen Aspekte der Identitäts­dar­stel­lungen und ihrer Subjektkonstitution, andererseits können diese gleichwohl auch auf ihre religiösen Signaturen in diesen Prozessen analysiert werden. Wenn den Analysen Henning Luthers zugestimmt werden kann – und da spricht einiges dafür – dann erfor­dern die performativen Kommunikationen im Web 2.0 ein differen­ziertes Interesse.

5. Kommunikation mit dem fiktiven Anderen – Teilhabe und Teilnahme religiöser Kommunikatoren unterscheiden

Die Kontroverse um die Wiederkehr des Atheismus und der Religion macht deutlich, dass das Thema der Religion in hermeneutischen Kon­texten gedacht und gelesen wird. Theologisch kann dies doch nur be­deu­ten, die Diskurse zunächst an die biblischen Verheißungen zu­rück­zubinden. Dieses ist doppelt zu begründen: Zunächst ist in der verfass­ten Kirchenstruktur in Deutschland von einer Teilhabe nicht auf eine Teilnahme rückzuschließen, weswegen die Zahlen der Kirchen­mitglie­der ebenso wie ihre Austritte keine Aussagen über die Religiosität als solche, ihre Wiederkehr oder ihr Gegenteil machen. Sodann ist die eben beschriebene religiöse Narration zunächst eine phänomenologisch wahr­nehmbare und wiederum nicht rückschließbar auf einen Religions­begriff, wie er im monotheistischen Glauben vorausgesetzt ist und – das ist für den nächsten Schritt wesentlich – klare Indizien im Sinne von Handlungs­kon­sequenzen fordert. Daher grenze ich mich zunächst von der Annahme ab, jedwede religiöse Kommunikation sei zu begrüßen, weil sie eine religiöse Signatur oder Konnotation aufzuweisen habe. Wohl ist zu betonen, dass in der kommunikativen Performance ein humaner Vollzug zur Darstellung kommt, ohne den wohl auch keine Religion zu denken ist. Kommunikation als Intersubjektivität ist wesent­­lich Ausdruck freiheitlichen Sich-Verhaltens. Letztlich ist es die Einsicht, dass der ‚Mensch nur unter Menschen zum Mensch‘ wird. Das Gefüge ist durchaus komplexer geworden und bedeutet zugleich, dass jedwede Kommunikation als solche ernst genommen und geachtet werden soll – solange sie nicht dem Grundgesetz widerspricht – weil sie Ausdruck persönlicher Freiheitsgeschichte in ihrer je eigenen Konstruk­tion und ihrer wesenseigenen Konstitution ist. Werden religiöse Signa­turen in Kommunikation also zunächst als etwas Humanes festgehal­ten, müssen sie begründungslogisch nicht religiös rückführbar sein. Heuristisch eröff­net diese Perspektive eine Weiterführung des Gedan­kens, dass das Subjekt ein Theologie generierender Ort ist. Werden also Lebens- und Glaubenserfahrung als theologierelevanter, weil Theologie generierender Ort verstanden, braucht es theo­logisch eine differen­zier­te Hermeneutik, um diese Ausdrücke zu verstehen und in den Gesamt­kon­text der Glau­ben­den einzuordnen. Diese Erfahrungen sind „im Sinne theologischer Erkenntnisgewinnung aus dem Leben heraus“ (Forschungskreis Kom­mu­nikative Theologie (Hg.), Kommunikative Theologie, 60) relevant, unabhängig davon, ob die Teilnahme als Teil­habe zu interpretieren sei. Es stellt sich zuvor und primär die Frage nach der Kriteriologie dieser Kommunikation und der – letztlich auch kirch­lich relevanten – Verge­mein­schaftung der Identitäten. Wird diese impli­zite Theologie als humaner Ausdruck ernst genommen und in einen Dis­kurs mit expliziter Theologie gebracht, heißt das auch, sich theo­logisch in die Kommu­ni­kation im Netz so einzubringen. Dies setzt voraus, dass theologisch eine Kriteriologie entwickelt wird, anhand derer aktiv theo­lo­gisch ein Diskurs darüber geführt wird, was über die Grenzen der eige­nen Religiosität und die der Ethik hinausgeht. Für diese zu leistende Arbeit möchte ich vier Thesen benennen:

1. Religiöse Kommunikation ist, wie jede andere Kommunikation in rezi­proken Anerkennungsverhältnissen, Ausdruck persönlicher Frei­heits­geschichte und wesenseigener Kommunikation: sie ist – bereits die einsame – schon interpersonell strukturiert und lässt eine implizite Theologie entdecken, die der je personalen Logik und ihrer Erfahrung und Deutung entspricht.

2. Theologische Reflexion entlarvt die tabuisierten Nachrichten und In­hal­te einer scheinbar tabulosen Kommunikation. Dafür entwickelt sie eine theologische Kriteriologie, die ein Handlungsinstrumentarium im Umgang mit Tabus und ihren unterdrückten Themen begründet.

3. Die jüdisch-christliche Verheißung von der Geschichte Gottes mit den Menschen ist explizit religiös beschrieben. Dies ist der eigene Maßstab für Religion und religiöse Kommunikation und damit die explizite Theo­lo­gie, der theologisch unhintergehbare Faktizität entspricht und zu­gleich vor dem Forum der Vernunft in einer geeigneten Denkform vermittelt werden muss.

4. Werden kommunikative Strukturen medialer Form in einen Diskurs gebracht, geht es (a.) darum, darin die interpersonelle und zugleich im fiktiven Anderen auch die religiöse Grundstruktur zu erkennen; (b.) die Sorge um die scheinbare Abwesenheit Gottes im Leben postmoderner Menschen in das Vertrauen um das anwesende Du zu verändern und sich so von der pastoralen oder missionarischen Vorstellung der Her­stell­­barkeit des Glaubens zu verabschieden, und vor allem: (c.) sich auf die Kategorien eigener Religiosität zu besinnen, die in der Gerechtigkeit und Menschenwürde liegen, und da entschieden kommunikativ im Web 2.0 einzuschreiten, wo diese nicht gewahrt sind.