Inhalt

Ein knapper Überblick zum MDG-Milieuhandbuch „Religiöse und kirchliche Orientierungen in den Sinus-Milieus® 2013“

Mit dem neuen, Ende Januar 2013 veröffentlichten MDG-Milieuhand­buch liegt das schon länger erwartete Update des MDG-Milieuhand­buchs von 2005 – besser bekannt unter dem Namen „Sinus-Kirchenstu­die“ – vor. Wieder hat die Medien-Dienstleistung GmbH, München, eine Einrichtung der Deutschen Bischofskonferenz, das Heidelberger Sinus-Institut beauftragt zu erforschen, wie Religion und Kirche milieu­­spezifisch wahrgenommen und gelebt werden. Das Update des Milieu­handbuchs wurde nicht zuletzt dadurch nötig, dass das Sinus-Institut 2010 sein Gesellschaftsmodell seinerseits einem Update unterzogen hatte. Da Gesellschaft beständig im Fluss ist, war die Aktualisierung des bereits zehn Jahre alten Milieumodells nötig geworden, um neue Ent­wicklungen abbilden zu können.

Überraschenderweise hat die Studie ein beträchtliches Echo in den gro­ßen Publikumsmedien gefunden, anders als bei der ersten Studie, die vor allem in der innerkirchlichen Rezeption stark umstritten war. Grund für dieses mediale Interesse scheint die aktuell hohe und kritische Auf­merksamkeit zu sein, die Kirche im Kontext v.a. der Missbrauchsskan­dale erhalten hat. Im innerkirchlichen Bereich sind vor allem kon­­ser­vative Stimmen zu vernehmen, die die Studie mit Misstrauen beäugen und erstaunlicherweise besonders auf methodische Fragen nach der Repräsentativität der Studie abheben. Insgesamt scheint sich die Dis­kussion in Kirche und Pastoral jedoch seit der ersten Studie versachlicht zu haben – es wird nach Impulsen und Herausforderungen, Chancen und Grenzen der Milieuperspektive gefragt.

Deutlich wird, dass diese (und viele andere) Lebensweltstudien hilf­rei­che Wahrnehmungschancen für die Pastoral bereitstellen. Viele pastora­le Praktikerinnen und Praktiker haben die Milieus mit großem Interesse studiert und für die Deutung der pastoralen Situation profi­tiert. Deut­lich wird aber auch, dass aus den empirischen Daten nicht direkt Hand­lungsoptionen abzuleiten sind. Vielmehr ist Interpre­ta­tions­arbeit nötig, um die (pastoral-)theologische Bedeutung der Befun­de herauszustellen, verschiedene Deutungen zu diskutieren und mög­liche Konsequenzen für kirchliches Handeln zu erarbeiten. Und um vom Sehen zum Handeln zu kommen, um die Handlungsoptionen auch in wirkliches Handeln umzusetzen, um Haltungen zu verändern, sind Prozesse der Kirchen­entwicklung nötig.

Zunächst sollen das Anliegen und der Kontext der Studie kurz skizziert werden, bevor einige ausgewählte Ergebnisse vorgestellt werden, dabei unterscheide ich zwischen solchen Ergebnissen, die positive Anknüp­fungs­punkte für pastorales Handeln darstellen, und solchen, die eher auf Probleme hinweisen.

1. Was will die Studie?

- Hintergrund: Die Hilfe, die die Kirche von der heutigen Welt erhält (GS 44)
Die theologische und kirchliche Befassung mit dem MDG-Milieuhand­buch und mit Lebensweltstudien überhaupt erfährt eine wichtige Grund­legung aus der Kulturhermeneutik des Zweiten Vatikanums, wie sie sich in der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes ausdrückt (vgl. Sellmann, Zuhören – Austauschen – Vorschlagen, 29-56). So spricht GS 44 davon, dass die Kirche von Beginn ihrer Geschichte an gelernt hat, die Botschaft Christi in der Vorstellungswelt und Sprache der ver­schie­denen Völker auszusagen, und dass die in diesem Sinne angepasste Verkündigung [praedicatio accomodata] des geoffenbarten Wortes ein Gesetz aller Evangelisation bleiben muss. Dadurch wird der lebhafte Austausch [vive commercium] zwischen der Kirche und den verschie­denen nationalen Kulturen gefördert. Nach Aussage von Gaudium et Spes ist dafür eine profunde Kenntnis der Denkweisen und Mentali­tä­ten der Menschen notwendig: „Zur Steigerung dieses Austauschs bedarf die Kirche vor allem in unserer Zeit mit ihrem schnellen Wandel der Verhältnisse und der Vielfalt ihrer Denkweisen der besonderen Hilfe der in der Welt Stehenden, die eine wirkliche Kenntnis der verschiedenen Institutionen und Fachgebiete haben und die Mentalität, die in diesen am Werk ist, wirklich verstehen, gleichgültig, ob es sich um Gläubige oder Ungläubige handelt.“ (GS 44) Das Konzil bestimmt es daher als „Aufgabe des ganzen Gottesvolkes, vor allem auch der Seelsorger und Theologen, unter dem Beistand des Heiligen Geistes auf die verschie­denen Sprachen unserer Zeit zu hören [auscultare], sie zu unterschei­den, zu deuten und im Licht des Gotteswortes zu beurteilen, damit die geoffenbarte Wahrheit immer tiefer erfasst, besser verstanden und pas­sender verkündet [proponere] werden kann“. (ebd.)

Vor diesem Hintergrund kann auch das Ziel des MDG-Milieuhandbuchs verstanden werden, nämlich: die Einstellungen von Katholikinnen und Katholiken zu Religion und Kirche sowie konkrete Wünsche und Erwar­­tungen an die katholische Kirche mittels Methoden der qualitativ-empi­ri­schen Sozialforschung zu erheben.

- Zur Methode
Das Sinus-Milieumodell ist das Ergebnis von über 30 Jahren sozialwis­sen­schaftlicher Forschung des Sinus-Instituts und stellt ein vielfach erprobtes und anerkanntes Instrument der empirischen Sozial­for­schung dar. Es gruppiert Menschen zusammen, die sich nicht nur hinsichtlich ihrer sozioökonomischen Lage, sondern auch in ihrer Lebensauffassung und Lebensweise ähneln. Mithilfe von qualitativ-ethnologischen Methoden wird der Mensch und das gesamte Bezugs­system seiner Lebenswelt, also das Gesamt seiner subjektiven Wirk­lichkeit, ganzheitlich in den Blick genommen. Durch regelmäßige, im Abstand von weniger als zehn Jahren vorgenommene Aktualisierungen des Modells soll signifikanten gesellschaftlichen Veränderungen, die sich auf die Lebenswelten auswirken, Rechnung getragen werden.

Konkret wurden folgende Forschungsmethoden eingesetzt:

  • mehrstündige leitfadengestützte Einzelexplorationen im häuslichen Umfeld der Befragten
  • im Vorfeld der Befragung zu bearbeitende „Hausarbeitenhefte“ mit den Titeln „Das gibt meinem Leben (mehr) Sinn“ und „Die ideale Kirche für mich“
  • Fotodokumentationen der Wohnwelten.

Durch dieses Material, so der Anspruch des Sinus-Instituts, wird eine umfassende, in die Tiefe gehende Analyse der Wahrnehmungs-, Denk- und Erlebnismuster der Befragten ermöglicht. Zudem können aufgrund dieser qualitativen Methoden gültige Aussagen auf vergleichsweise klei­ner Stichprobenbasis gewonnen werden.

Insgesamt wurden 100 Einzelexplorationen von Mitgliedern der katho­li­schen Kirche durchgeführt. Es wurden also keine aus der Kirche Ausge­tre­tenen oder Nichtgetauften befragt, ebenso wenig wie Angehörige an­derer Konfessionen oder Religionen oder Konfessionslose. Die Stichpro­be ist repräsentativ für das (seinerseits in einem quantitativ-empiri­schen Sinn repräsentativ abgesicherte und bewährte) Sinus-Milieumo­dell und außerdem quotiert nach Alter, Geschlecht und Region. Über die Milieu-Quotierung wird somit das gesamte Spektrum der Lebenswelten berücksichtigt. Dadurch kann das Sinus-Institut für sich in Anspruch nehmen, in dieser Studie alle relevanten Wahrnehmungsmuster und Einstellungsdimensionen abzubilden, und mit Recht feststellen: „Die Ergebnisse der Studie sind daher gültig im Sinne inhaltlicher Relevanz und Typizität.“ (MDG-Milieuhandbuch, 59. Im Folgenden beziehen sich Seitenzahlen im Text auf das Milieuhandbuch.) Der Vorwurf mangeln­der statistischer Repräsentativität kann also überhaupt nicht sinnvoll an eine qualitative Studie gerichtet werden und geht folglich ins Leere. Im Gegenteil ist die Stichprobengröße von n=100 für eine qualitative Studie enorm hoch.

- Warum beschäftigt sich Kirche mit den Sinus-Milieus?
Der Blick auf die Sinus-Milieus macht zunächst einmal auf eine ganz einfache Tatsache aufmerksam: In allen zehn Milieus sind Mitglieder der katholischen Kirche zu finden. Auf alle Milieus bezogen, machen Katholikinnen und Katholiken ein Drittel (34%) aus; am stärksten sind sie im Milieu der Konservativ-Etablierten und der Traditionellen vertre­ten (41 bzw. 40%), am wenigsten im Expeditiven und im Prekären Mili­eu (30 bzw. 29%). In allen anderen Milieus ist der Katholikenanteil im durchschnittlichen Bereich. Mitnichten sind die Katholiken also auf weni­ge Milieus beschränkt, auch wenn die Verteilung charakteristische Unterschiede zeigt. Vielmehr ist dieser Milieu-Reichtum der katholi­schen Kirche etwas Wertvolles.

Der Milieu-Ansatz ermöglicht es der Kirche, „den Blick für die Unter­schied­lichkeit von Menschen und die Vielfalt der Lebensweisen zu öff­nen“ (6). Fakt ist aber auch, dass die Kirche mit ihren Angeboten schwer­­punktmäßig nur bei wenigen Milieus Resonanz findet. Mit dieser Studie lassen sich viele Hinweise finden, welche Anschlussmöglichkei­ten es für die Kirche in den verschiedenen Bevölkerungsmilieus gibt. Die Kirche wird durch diese Studie auch herausgefordert, ihre eigene Milieuverengung zu erkennen. Sie wird zur Wahrnehmung provoziert, wie Menschen ihr Leben und ihren Glauben innerhalb und außerhalb der Grenzen der Institution Kirche leben und gestalten, und darin Anre­gungen und Lernchancen zu entdecken.

Das Sinus-Institut wird nicht müde zu betonen, dass die Studie keine 1:1-Abbildung, sondern eine (sinnvolle) Konstruktion und damit Verein­fachung der komplexen Wirklichkeit darstellt. Dadurch bietet sie eine Seh­hilfe, „eine soziologische Brille, die der Kirche hilft, die Vielfalt und Unterschiedlichkeit ihrer Mitglieder besser zu sehen und zu verstehen“ (47). Sie ist also auch kein „fünftes Evangelium“, aber ein hilfreiches Instrument, das die Zukunftsfähigkeit der Kirche zu sichern helfen kann.

2. Ausgewählte wichtige Ergebnisse

a) Positive Anknüpfungspunkte

- Sinn und Glück
Bevor die Studie auf im engeren Sinn religiöse bzw. kirchliche Themen eingeht, fragt sie die Interviewpartnerinnen und -partner danach, was ihrem Leben Sinn gibt und was sie glücklich macht. Hier kann Kirche viele Hinweise finden, was zu einem gelingenden Leben der Menschen gehört und wie sie dazu beitragen könnte. Insgesamt wird dabei deut­lich, dass für die Mehrheit der Befragten der Sinn des Lebens selbst zu erkennen und herzustellen ist, ohne dass er durch den Glauben vorgege­ben wäre. Als Strategien der Sinnproduktion nennen gehobene Milieus, tätig und aktiv zu sein und etwas zu bewirken; das Sozialökologische und die tradi­tio­nellen Milieus betonen stärker den Einsatz für andere bzw. für die Gemeinschaft; für die Milieus der Mitte und der tradi­tio­nellen Unterschicht bedeutet Sinn, Aufgaben und Regeln zu befolgen, etwas Nützliches beizutragen und Vorbild zu sein, und für die jungen modernen Milieus, seinen eigenen Träumen und Visionen nachzugehen und sich seine Wünsche zu erfüllen (vgl. 7). Als zentral wichtig im Leben werden quer durch die Milieus die gleichen Dinge genannt (Gesundheit, Familie/Partnerschaft, materielle Sicherheit, soziale Akzeptanz), jedoch in milieuspezifischer Interpretation und Gewichtung. So wird z.B. Ge­sundheit von den gehobenen Milieus als Fitness und Leistungsfähigkeit, von den Milieus der Unterschicht als Verschontbleiben von Gebrechen und Problemen und von den (post)modernen Milieus als Genussfähig­keit interpretiert (vgl. 8). Noch stärkere milieuspezifische Unterschiede findet man bei den Lebensphilosophien bzw. Lebensbewältigungsstra­te­gien. Diese reichen von „Seinen eigenen Weg finden“ (gehobene Mili­eus), „Nicht stehen bleiben, sich nicht beklagen; die Dinge nehmen, wie sie sind“ (Milieus der Mitte), „Bescheiden sein, mit dem auskommen, was man hat“ (traditionelle Unterschicht), „Leben heißt Leiden; Verant­wortung abgeben“ (Prekäre) bis zu „Intensiv leben im Hier und Jetzt; Zwänge vermeiden, das Leben genießen“ (postmoderne Milieus) (9).

In allen Milieus machen die Menschen die Erfahrung: „Glücklich zu sein ist eher die Ausnahme als die Regel.“ (12) Dabei wird Wohl­befinden und Glück tendenziell um so eher geäußert, je sozial gehobener und älter die Angehörigen eines Milieus sind. In allen Milieus entsteht Glück und Wohlbefinden in Situationen sozialer Geborgenheit (oft werden hier auch Kinder und Tiere genannt, die vorbehaltlos Zuneigung geben), aber auch durch Erlebnisse in der Natur. Ebenso wird in allen Milieus anerkannt, dass Hektik, Leistungsdruck und Perfektionismus dem Glück entgegenstehen und es für das Wohlbefinden wichtig ist, Ambitionen zu reduzieren und sich dem Hier und Jetzt zu öffnen (vgl. 13).

- Ethik
Die christliche Religion gilt – besonders in den gehobenen modernen Mi­li­eus – grundsätzlich „als zentraler Bestandteil der abendländischen Kultur und als Basis einer allgemein verbindlichen Ethik“ (17). Auch wenn die „lebensweltliche Einbettung von Religion [...] weitgehend verloren gegangen“ ist und „Transzendenzbezüge im Alltag kaum eine Rolle mehr spielen“, so gilt dies doch nicht für den Bereich der Ethik: „In allen Milieus gelten die ‚Zehn Gebote‘ als sinnvolle Richtschnur des ge­sellschaftlichen Zusammenlebens. Teilweise werden sie als ‚Univer­sal­werte’ bezeichnet, die auch losgelöst vom christlichen Entstehungs­kontext [...] Gültigkeit haben.“ (20)

- Wahrnehmungen und Erwartungen an die Kirche
Deutlich wird in allen Milieus die Überzeugung, dass die Kirche sich verändern muss und auch das Potential zur Veränderung hat (vgl. 30). Dabei wird keine „Reformation 2.0“ gefordert, und auch die hierarchi­sche Struktur der Kirche wird von den meisten nicht prinzipiell in Frage gestellt; diese darf nach Ansicht der Befragten jedoch auch nicht zu Machtmissbrauch benutzt werden (vgl. 27). Im Einzelnen prägt sich diese Grundüberzeugung wieder milieuspezifisch aus: In den gehobe­nen Milieus ist die Überzeugung häufig, dass es eine unabänderliche Kern-Identität der Kirche gibt, die zu bewahren ist – bei gleichzeitiger Notwendigkeit von Öffnung und Modernisierung. In den Milieus der Mitte werden praktische Vorschläge gemacht, welche überholten Regeln abzuschaffen wären und wie Kirche verjüngt und modernisiert werden könnte. In den jungen und den unterschichtigen Milieus traut man der Kirche am wenigsten Veränderungspotenzial zu. Es hätte aber im Alltag auch wenig Relevanz, wenn es Kirche nicht gäbe (vgl. 30).

Zwar üben die Befragten durchweg viel Kritik an der Kirche, doch es wird im Gegenzug auch viel von ihr erwartet; die Kirche wird durchaus weiterhin gebraucht. Matthias Sellmann diagnostiziert hier eine „ex­trem hohe Fehlerfreundlichkeit“ unter den deutschen Katholikinnen und Katholiken. So wünschen sie sich die (zumindest gläubigen) Katho­likinnen und Katholiken von der Kirche:

  • „Spirituelle Orientierung, Sicherheit, Sinn
  • Seelsorgerische Begleitung in schwierigen Lebenslagen, Kasualien
  • Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, Fröhlichkeit und Lebendigkeit
  • Aussicht auf ein wohlgeordnetes, tröstliches Ende (kirchliche Bestattung)“ (31)

Große Bekanntheit und Anerkennung findet in allen Milieus das soziale und caritative Engagement der Kirche – allerdings mit der signifikanten Ausnahme der modernen Unterschicht (!). Es wird meist davon ausge­gan­gen, dass die Kirchensteuer zu einem großen Teil für den caritativen Bereich verwendet wird (vgl. 34).

- Engagement
Ehrenamtliches Engagement, also der freiwillige Einsatz für etwas Sinn­volles, ist in den Milieus weit verbreitet. Es ist sowohl persönlich moti­viert als auch auf den Nutzen für die Gesellschaft gerichtet. Vor allem im traditionellen Segment und in der gesellschaftlichen Mitte kommen traditionelle, langfristige Formen des Engagements mit hohem Com­mit­ment vor; in den gehobenen (post-)modernen Milieus sind Selbst­verwirklichung und Horizonterweiterung sind wichtige Motivations-Aspekte. In den jungen Milieus füllen Beruf, Familie und Freizeit den größten Teil des Zeitbudgets aus und stehen daher in Konkurrenz mit ehrenamtlichem Engagement. Bei den Milieus mit postmaterieller Grundorientierung stehen Projekte und Initiativen mit weniger lokal beschränktem Fokus und oft globalisierungskritischem Kontext im Vordergrund: Die geringste Bereitschaft zum freiwilligen Engagement findet sich in den hedonistisch geprägten Milieus der Adaptiv-Pragma­tischen und Hedonisten (vgl. 42f).

b) Was nachdenklich stimmt

Im Alltag spielen Religion und Glaube für viele Befragte kaum eine Rol­le, besonders in den jungen und unterschichtigen Milieus. Viele verste­hen sich weder als im traditionellen Sinn gläubig noch suchen sie be­wusst nach einer Beziehung zu Gott (vgl. 16). „Über religiöse Erlebnisse und Praktiken wird selten spontan berichtet.“ (20) Oftmals findet sich ein individualisierter Glaube, der sich aus Elementen verschiedener religiöser Traditionen zusammensetzt. Viele der Befragten bezeichnen sich selbst zwar als religiös, aber sie geben nur diffuse Vorstellungen vom Inhalt ihrer religiösen Überzeugungen wieder (vgl. 16).

Nur wenige der Befragten empfinden eine Verpflichtung zum Gottes­dienstbesuch am Sonntagvormittag; nach Aussage der Studie hat dage­gen der (besser in die Freizeitplanung passende) Gottesdienst am Sams­tagabend an Bedeutung zugenommen. „Die Teilnahme an besonderen Gottesdiensten empfindet man weniger als ‚Dienst an Gott’, sondern mehr als eine Auszeit, die man sich selbst gönnt.“ (21) Im Selbstver­ständnis der Befragten ist die Frequenz des Gottesdienstbesuchs aber nicht unbedingt ein Indikator für Kirchennähe oder -ferne (vgl. 26).

Gerade in den kirchennahen Milieus ist der Unmut gewachsen und wird verstärkt Kritik an der Institution und der Führung der Kirche geübt. Besonders durch die Missbrauchsfälle und den Umgang mit ihnen hat die Glaubwürdigkeit der Kirche stark gelitten (vgl. 24). Es ist daher nicht verwunderlich, dass bei etwa einem Fünftel der Befragten eine Aus­tritts­disposition vorliegt. Diese wird aber oft nicht umgesetzt, weil der Kirchenaustritt als irreversibel wahrgenommen wird, die Möglichkeit zur Teilnahme an Kasualien nicht ausgeschlossen und insbesondere die Aussicht auf eine kirchliche Beerdigung gewahrt werden soll oder weil man beruflich im caritativen Bereich tätig ist.

Vor allem folgende Punkte werden an der Kirche kritisiert: „Diskrimi­nierung von Frauen, Zölibatspflicht, Ausschluss von Wiederverheirate­ten und von Christen anderer Konfessionen von den Sakramenten, Äch­tung von Homosexualität, Empfängnisverhütung, vor- und außereheli­chem Geschlechtsverkehr [sowie] Zurückdrängung des Laien-Engage­ments“ (26).

Auffällig bei der Einstellung zur Kirche ist, dass deutlich unterschieden wird zwischen der Ebene der Kirchenleitung, der man kritisch bis ableh­nend gegenübersteht, und der Kirche vor Ort, mit der man sich identifi­ziert und deren pastorales Personal als großenteils gutwillig, aber häufig überlastet beschrieben wird (vgl. ebd.).

 

Zurzeit erarbeitet die KAMP eine Broschüre, in der die neue Sinus-Kirchen­studie aus verschiedenen pastoral relevanten Perspektiven kommentiert und gedeutet wird. Sie wird über die KAMP beziehbar bzw. auf der Homepage der KAMP als pdf zum download zur Verfügung stehen. Wenn Sie in einen Newsletter-Verteiler zur milieusensiblen Pastoral aufgenommen werden wollen, der über das Erscheinen der Broschüre informiert, melden Sie sich bitte bei Tobias Kläden.