Der Nachmittag des Christentums
Eine Zeitansage
Tomáš Halík ist schon längst einer der „Großen“ und „Verbreiteten“ unter den theologischen und geistlichen Schriftstellern dieser Tage. Sein Werk ist von seiner soziologischen, psychologischen, theologischen und philosophischen Kompetenz ebenso geprägt wie von seiner Biografie als ehemaliger Untergrundpriester in der kommunistischen Tschechoslowakei und von der Transformation, die sich nach dem Ende des Kommunismus durch Modernisierung und Säkularisierung gerade in den osteuropäischen Gesellschaften abspielt. Sein Buch „Der Nachmittag des Christentums“ ist nicht weniger als eine Zeitansage, die eine große Vision über die Zukunftsmöglichkeiten eines neu verstandenen und anders praktizierten Christentums vor Augen stellt.
Das Christentum ist in eine nachmittägliche Epoche der Reifung und Vertiefung eingetreten, nachdem die Kirche in der prämodernen Zeit, dem „Vormittag“, ihre institutionellen und doktrinellen Strukturen aufgebaut hat. Durch Säkularisierung ändern sich die Gestalten der Religion und ihre Rolle in den Gesellschaften und Kulturen. „Das Christentum der Spätmoderne ist in eine gewisse kulturelle Obdachlosigkeit geraten. […] Der christliche Glaube sucht sich in dieser Zeit des Wandels kultureller Paradigmen erst noch eine neue Form, ein neues Zuhause, neue Ausdrucksmöglichkeiten, neue gesellschaftliche und kulturelle Aufgaben und neue Verbündete“ (67 f.). Halík begreift Säkularisierung als Kairos für das Christentum, eine Herausforderung und neue positive Möglichkeit, den Glauben zu erneuern und zu vertiefen. Nach der Aufklärung ist Religion zur „Weltanschauung“ (Lehre, Doktrin) geworden, die in erster Linie „das Jenseits“ betrifft und in der irdischen Sphäre von spezialisierten religiösen Institutionen (Kirchen) repräsentiert wird. Der christliche Glaube ist jedoch nun den bisherigen Formen von Religion entwachsen, ist nicht mehr traditionalistisch zurückzudrängen. Der Autor sieht große Chancen für eine Kirche in einem „Übergang vom Katholizismus zur Katholizität“ (82). „Wenn die Kirchen der Versuchung der Egozentrik und des kollektiven Narzissmus, des Klerikalismus, Isolationismus und Provinzialismus widerstehen, können sie zu einer neuen, breiteren und tieferen Ökumene beitragen“ (13). Es geht ihm um die Mitwirkung an einer civitas oecumenica als gemeinsamem Engagement für die Menschheitsfamilie zu einer Kultur der Kommunikation, des Teilens und des Respekts vor der Andersheit durch Freigeben.
Glauben charakterisiert Halík einerseits in einem dynamischen Verständnis als Weg der Nachfolge Christi, anderseits im Sinne eines anonymen Glaubens oder Lebensglaubens als „Glauben der Ungläubigen“: Die Weise, wie ein Mensch Mensch ist, ist der authentischste Ausdruck eines Glaubens oder Unglaubens. Die Buntheit und Dynamik des geistig-geistlichen Lebens unserer Zeit kann durch Kategorien der traditionellen Religionssoziologie und ‑psychologie nicht mehr adäquat erfasst und zum Ausdruck gebracht werden. Die geistig-geistliche Suche erscheint manchmal auch in scheinbar völlig nichtreligiösen Formen als Sehnsucht nach dem Guten, nach Wahrheit und der Schönheit, nach der Liebe und dem Sinn. Die menschliche Erfahrung zeigt sich so als der Ort der Offenbarung Gottes. Insofern schließt Tomáš Halík an die Gedanken über ein religionsloses Christentum von Dietrich Bonhoeffer, aber auch an die Theorie des anonymen Christentums von Karl Rahner an, der sich auch das aktuelle Schrifttum von Christoph Theobald verpflichtet weiß. Angesichts der derzeitigen Konflikte in der katholischen Kirche um eigene und fremde Quellen der Offenbarung und um Veränderungen in der Kirche zeigt der tschechische Intellektuelle hier deutlich Flagge.
Durch die Transformation der sich zunehmend der Kirche entziehenden Religion zeigen sich als Erben der modernen Religion nicht nur politisch-identitäre Ideologien oder auch die Verwandlung von Religion in Spiritualität, sondern auch eine wachsende Zahl derjenigen, die sich weder zu einer „organisierten Religion“ noch zum Atheismus bekennen (nones). Bei Glaubenden und „Atheisten“ gibt es gleichermaßen seekers („Suchende“) wie dwellers (solche, die meinen, ihren Ort gefunden zu haben). Für Halík weisen die Würde der menschlichen Person und die Grundrechte in eine Form von Universalität der Religion, die als „dritter Ökumenismus“ einen Weg des offenen Dialogs mit dem säkularen Humanismus darstellt und so selbst zu einem „säkularen Glauben“ wird. Das Christentum kann zu einer globalen civitas oecumenica beitragen: „Wenn das Christentum zur Kultivierung der globalen Gesellschaft beitragen will, dann kann das nur ein Christentum sei, das ‚kenotisch‘ von jeglichem Machtanspruch und jeglicher klerikaler Engherzigkeit befreit ist. Diese Welt braucht weder ein ‚christliches Reich‘ noch eine christliche Ideologie. Einen Beitrag zu ihr kann nur ein ökumenisch offenes Christentum leisten, das zum Dienst an den Bedürftigen bereit ist“ (158).
So postuliert Halík einen impliziten Glauben, der den Bedürftigen tätige Liebe entgegenbringt, ohne dazu eine explizit „christliche“ Motivation haben zu müssen. Es gibt auch Jünger, die „uns“ nicht nachfolgen, anonyme Christen, eine unsichtbare Kirche. Damit greift er das Konzept des universalen Christus bei Teilhard de Chardin auf: Bereits durch sein Menschsein ist jeder Mensch mit demjenigen verbunden, in dem Gott die Vergöttlichung des Menschseins als eines solchen verwirklicht hat. Gedanken aus der französischen pastorale d’engendrement klingen an, wenn Tomáš Halík formuliert, dass es im Christentum darum geht, neu geboren zu werden, sich verwandeln zu lassen.
So ist es nur folgerichtig, dass der Autor Glaube sehr weit, eher im Sinne von Spiritualität versteht: „Viele Menschen, die aus den verschiedensten Gründen die religiöse Sprache nicht verstehen und nicht in religiösen Begriffen denken, verstehen trotzdem, was Gebet, Meditation, Anbetung ist“ (232). Der wesentliche Teil des Glaubens lebt im Unbewussten. Der Theologe schlägt vier Konzepte oder Bilder von Kirche vor, die als Wegmarkierungen die Transformation anzeigen: das Volk Gottes, das durch die Geschichte pilgert, die Schule der christlichen Weisheit, das Feldlazarett, der Ort der Begegnung und des Gesprächs. Es geht der Kirche der Zukunft um eine geistliche Begleitung von Menschen an der Grenze zwischen der religiösen und der säkularen Sphäre: Gott in allen Dingen finden. Den universalen Christus suchen, der in der kosmischen Evolution anwesend ist, und ein Finden des Auferstandenen, der (oft anonym) im geschichtlichen Wandel und in der Entwicklung der Gesellschaft anwesend ist.
Man kann sicherlich viele kritische Anfragen an Halíks Thesen stellen. Einerseits scheint die Kirche in ihrer derzeitigen strukturellen und geistig-geistlichen Verfasstheit – in Deutschland und darüber hinaus – so gar nicht in der Lage zu sein, eine solche Erneuerung voranzubringen. Man kann auch fragen, ob es die von Halík propagierten vielen seekers tatsächlich gibt, gerade angesichts von soziologischen Erkenntnissen, die doch eine signifikante Zunahme von religiöser Indifferenz aufweisen. Nach jüngsten Studien in den Niederlanden scheint es sogar so zu sein, dass jüngere Jahrgänge sogar die Sinnfrage als solche ablehnen bzw. als etwas von außen an sie Herangetragenes zurückweisen.
Schließlich kommt seine Theologie zugegeben recht eurozentrisch daher. Die weltweite Bedeutung einer Entwicklung „vom Katholizismus zur Katholizität“, als uneigennützige Unterstützung einer großen Ökumene der Menschheitsfamilie durch das Christentum, zeigt sich aus einer lateinamerikanischen, afrikanischen oder asiatischen Perspektive noch einmal je anders. Insofern muss sich Halík dem Vorwurf aussetzen, es handele sich um eine Theologie von und für alte, weiße, gebildete Männer. Dennoch ist das Buch eine Ermutigung und ein Impulsgeber für alle, die diese Kirche noch nicht aufgegeben haben und sich für eine nicht rückwärtsgewendete Suche nach den Wurzeln des Christlichen bzw. nach dem Evangelium in einer veränderten Zeit engagieren.
Hubertus Schönemann