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Erlebnis Kirche Sankt Johannes Frankfurt/M.-Goldstein

Oder: Es bleibt, wer sich bewegt

Mangel macht kreativ

Die Geschichte der Erlebnis Kirche Sankt Johannes beginnt mit einem Schock. Als 2007 im Bistum Limburg nach komplexen Vorarbeiten die konkreten Ergebnisse von „Sparen und Erneuern in den Kirchengemeinden“ den damals noch selbstständigen drei Pfarreien St. Mauritius Schwanheim, St. Johannes Goldstein und Mutter vom Guten Rat Niederrad vorgestellt wurden, brach in Goldstein die Panik aus. Was dort an Räumen und Personal eingespart werden sollte, kam vielen Verantwortlichen vor wie eine strategisch kaum verhohlene Aufforderung zum „Plattmachen“ des Kirchorts. Von einst rund 2000 m2 bebauter Fläche sollten noch 550 übrig bleiben. Eine Kirche bräuchte man vielleicht nicht unbedingt, hieß es bei der mündlichen Präsentation vonseiten der Akteure des Bischöflichen Ordinariats. Die Goldsteiner:innen wehrten sich natürlich. Es wurden Pläne für ein Familienzentrum geschmiedet. Aber weil das Bistum über 40 Umbauprojekte aus Sparen & Erneuern zu bearbeiten hatte, ohne nach der Finanzkrise von 2008 noch über die nötigen Mittel zu verfügen, wurde das Goldsteiner Projekt zunächst auf Eis gelegt. Das nahm man vor Ort zunächst als Entwarnung wahr. Und so fusionierten erst mal die beiden Pfarreien St. Mauritius und St. Johannes zu einer, um dann ab 2010 zusammen mit der Pfarrei Mutter vom Guten Rat einen pastoralen Raum zu bilden. Zeitgleich war der Pfarrer von Schwanheim und Goldstein in Ruhestand gegangen. Der Niederräder Pfarrer Werner Portugall wurde Priesterlicher Leiter des neuen Raums, zu dem 11.000 Katholik:innen gehören.

begeistern – begleiten – befähigen – beauftragen

Mit dieser personellen Veränderung einher ging ein geistlicher Teamentwicklungsprozess, den Dr. Stephan Wesely leitete. Es war ein sehr wichtiger Meilenstein, denn in ihm stellte sich das Team in seinen Haltungen neu auf: Der Umgang mit Ehrenamtlichen wurde einem Update unterzogen. Hauptamtliche sollten sich sehr viel stärker darauf konzentrieren, sich als „Coaches“ von ehrenamtlichen „Playern“ zu verstehen. Wenn jemand mit seiner Begeisterung an eine Gemeinde herantrete, solle diese Begeisterung gut begleitet werden, um Ehrenamtliche zu befähigen, sich in Einklang mit ihren Talenten und Neigungen einbringen zu können. Die Gemeinde müsse lernen, solcherart befähigte Ehrenamtliche dann auch entsprechend zu beauftragen, um diesem Engagement Wirkung und Autorität zu verleihen, aber es auch immer wieder strategisch und thematisch in die Ausrichtung der Pfarrei einzubinden. Dieser Kreis der „4 b’s“, wie wir den Zyklus von „begeistern, begleiten, befähigen und beauftragen“ nennen, führe perspektivisch zu einem natürlich-unangestrengten Wachstum der Gemeinde. Zudem führe er auch Hauptamtliche zur permanenten Volontarisierung in ihrem Berufsleben und erhöhe deren Zufriedenheit. Auch für sie gelte es, ihren Dienst in Einklang mit ihren Neigungen, Stärken und Talenten tun zu können, statt Lücken zu füllen und ehrenamtliche Ausfälle permanent zu kompensieren, ohne sie zu reflektieren. In unserem synodal entwickelten Pastoralkonzept sind unsere Gedanken zu all dem niedergelegt und veröffentlicht.

Pastorale Biodiversität durch thematische Schwerpunktsetzung

Als weiterer Baustein entstand im Zusammenwirken mit den synodalen Gremien des pastoralen Raums ein Pastoralkonzept, das jedem der drei Kirchorte eine besondere Funktion und ein eigenes Profil zuwies. Dabei spielten gewachsene Stärken der Kirchorte ebenso eine Rolle wie Analysen aus der Befassung mit den Sinusstudien jener Jahre, die markante Veränderungen in den ästhetischen Milieus der Stadtteile aufwiesen. Was aus Sparzwängen und Veränderungsdruck angesichts sinkender Mittel hervorgegangen war (aber auch aus den historischen Veränderungen in der Gestalt der ehemaligen Pfarreien, die sich noch am „klassischsten“ in Schwanheim behauptete), wurde zur Chance. Mit der Zeit erhöhte sich durch die Themenkirchen die pastorale Biodiversität in der Pfarrei. Damit einher geht eine wachsende Beziehungs- und Kooperationsvielfalt. Hatte vor Jahren ein junger Erwachsener gesagt: „Das Problem der Kirchen besteht nicht darin, dass zu wenig Leute in der Kirche sind, sondern zu viele von einer Sorte“, so geht es heute darum, zentrifugal engagierte Kreise und Einzelpersonen immer wieder gut innerhalb der Pfarrei zu vernetzen und zu moderieren, damit uns unser Programm nicht um die Ohren fliegt. Die geteilten Visionen, die in das Pastoralkonzept eingegangen waren, und der historisch günstige Zufall, dass der Frankfurter Caritasverband für sein Jugendwohnheim einen neuen Ort suchte, führten dazu, dass das Bistum, aber auch die Goldsteiner:innen vor Ort überzeugt werden konnten, sich auf rund 550 m2 zu reduzieren, dafür aber in nächster Nachbarschaft mit einer markanten Einrichtung des Caritasverbandes die eigene Sozialpastoral zu aktualisieren und einen Neubau zu planen, der dem Konzept des Kirchorts als „Erlebnis Kirche“ die passende architektonische Hülle geben würde.

Komfortzonen verlassen hat viel Schönes

Wer schon mal pilgern war, kennt das Diskutieren, Zählen und Abwiegen der Ausstattung und des Rucksacks, bevor es losgeht. Das Ritual der Reduktion ist vielleicht manchmal auch eine Gestalt der Angst vor dem Aufbruch: Habe ich wirklich alles Wichtige und Nötige dabei? Warum tue ich mir das überhaupt an? Komfortzonen zu verlassen, ist erst mal unangenehm. Aber es hat auch viel Schönes, wenn es dann erst mal losgeht. Genauso war das wohl auch in den drei Jahren, in denen Goldstein sich in die Obdachlosigkeit begab. Die Kirche/​das neue Zentrum wurden gebaut, als in Deutschland die Preise im Bauwesen explodierten. Dann kam Corona. Es war nicht einfach. Aber es gab eben auch dies: „Sankt Johannes unterwegs“ stand als Schlagzeile und Titel über den Veranstaltungen, die die Erlebnis Kirche in diesen Jahren an kirchenfremden Orten unternahm. Dabei wurden volks- und hauskirchliche Traditionen ebenso einbezogen wie Neues ausprobiert. Erzählen wir mal von drei Beispielen:

Weihnachten bei der Feuerwehr

Mangels Räumlichkeiten waren wir während der Bauarbeiten auf der Suche nach einem geeigneten Ort, an dem wir mit etwa 300 Menschen den Weihnachtsgottesdienst an Heiligabend feiern konnten. Überlegungen, etwa ein Zirkuszelt aufzubauen, verliefen im Sand oder waren unmöglich zu realisieren. Wir benötigten schlicht eine größere Halle, etwas Überdachtes. Irgendwann auf dem Nachhauseweg fiel der Blick aufs Feuerwehrgerätehaus. Wenn Platz für vier Feuerwehrautos ist, wäre da doch sicher auch … Die Idee war geboren und die Nachfrage bei der freiwilligen Feuerwehr wurde sofort positiv beschieden. Dank vieler helfender Hände und der Unterstützung der jungen Feuerwehrmänner und -frauen konnten wir so dreimal (der Bau zog sich in die Länge) mit je 400 Teilnehmenden in besonderer und schlichter Umgebung Weihnachten feiern – ein ganz besonderes Erlebnis!

Gartengetuschel und eine schwangere Maria

Goldsteins Mitte ist geprägt von großen Gärten: 700 m² große Erbpachtgrundstücke sind dort die Regel. Die Siedlung Goldstein wurde vor 90 Jahren für finanziell nicht gut Gestellte als soziales Projekt mit Selbstversorgergärten gebaut. So entstand in der Übergangszeit das Projekt „Gartengetuschel“: Menschen luden im Mai in ihren Garten ein. Jeder Abend stand unter einem bestimmten Thema. Ein spiritueller Impuls eröffnete das Getuschel. Anschließend wurde ein (handwerkliches) Projekt von Ehrenamtlichen angeboten, das einen Zusammenhang mit gärtnerischem Tun aufwies: Kräuterbestimmung, Blumensträußebinden, Naturfotografie und Insektenhotelbau seien an dieser Stelle exemplarisch erwähnt. Dabei wurden je eigene Charismen von Menschen sehr bewusst eingebracht. Musikalische Gruppierungen unterstützten das Getuschel. Diese Form des Unterwegsseins wird weiterhin gepflegt werden, auch wenn wir nun fest behaust sind.

Im Advent bestimmte eine eigens für diesen Zweck geschnitzte schwangere Marienfigur den Gedanken des Unterwegsseins. „Maria unterwegs“: Themenabende wie etwa der Bericht einer Hebamme oder ein Gespräch mit dem Stadtdekan, der ein Statement zu seiner Marienfrömmigkeit als Impuls gab, wechselten mit der Möglichkeit, sich die schwangere Maria für einen Tag nach Hause einzuladen, sich alleine mit ihr zu beschäftigen, mit anderen Gottesdienst zu feiern oder über Maria ins Gespräch zu kommen. Der alte Brauch des Marientragens wurde in die heutige Zeit übersetzt.

Exkursionen zu Exoten

Mit dem Team Erlebnis Kirche und weiteren Interessierten nutzten wir die Zeit der „Raumlosigkeit“, um andere interessante Konzepte in Kirchen und Pfarreien anzuschauen, nachzufragen, uns inspirieren zu lassen. Da gehörte ein Gottesdienstbesuch mit anschließendem Gespräch in der in Liturgie und Ästhetik außergewöhnlichen Aschaffenburger Kirche Mariä Geburt genauso dazu wie der Besuch im Zeitfenster Aachen mit seinem Gottesdienst „für Herz und Hirn“ und in der Pfarrei St. Petrus in Bonn mit dem Leitungskonzept des Petrusweges. Neuere Kirchenbauten im Frankfurter Umkreis wurden besichtigt, und mit einer Gruppe Firmkatechet:innen war es möglich, an einer Kundschafterexkursion des Bistums Limburg nach Israel teilzunehmen. Viele dieser Erfahrungen haben uns für unsere Arbeit Denkanstöße und Ideen gegeben.

Es bleibt, wer sich bewegt

Im Laufe der Zeit möchten wir weiter auf dem Weg bleiben, spirituelle Erlebnismöglichkeiten zu entwickeln und auszubauen sowie Menschen mit ihrer Begeisterung und ihren Charismen für ihre Tätigkeiten zu qualifizieren und zu unterstützen. Der neu gestaltete Ort der Erlebnis Kirche ermöglicht, Gottesdienstformate zu überlegen und auszuprobieren. „Trial and error“ darf hier einen Platz haben. Das Ziel in den nächsten Jahren ist es, hier einen Ort entwickelt zu haben, der Glaubenserlebnisse in einem „kleinen Exerzitienhaus“ ermöglicht, experimenteller „think tank“ für die Pfarrei sein will und zugleich der Qualifizierung von kirchlich engagierten Ehrenamtlichen auch überregional dient.