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Warum greift Gott nicht ein?

Fehler und Versagen im Angesicht der Katastrophe im Buch Judit

Vertrauen auf Gott, kein „Kuhhandel“ mit ihm, und beherztes alternatives Handeln durch eine Frau als Handlungskonzepte im Scheitern. So interpretiert Bernd Ruhe das spätbiblische Buch als eine Erzählung, die auch in aktuellen Situationen des Scheiterns Hoffnung macht, weil sie sich in analoger Weise wieder neu ereignen kann.

Das Buch Judit ist eine pseudohistorische Erzählung, die um 100 v. Chr. entstanden ist. Es ist auf Griechisch geschrieben, was auf den hellenistischen Hintergrund seiner Entstehung verweist. Die Geschichte verbindet anachronistisch Räume und Menschen unterschiedlicher Zeiten miteinander. Der neubabylonische König Nebukadnezzar wird als König der assyrischen Hauptstadt Ninive präsentiert. Dabei liegen zwischen der Eroberung des Nordreiches Israel durch die Assyrer und der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier 150 Jahre. Assyrien und Babylon verkörpern jedoch diejenigen Großmächte, die durch ihre grausame Eroberungspolitik Israel massiv zugesetzt und es politisch entmündigt haben.

Inhaltlich ist die Geschichte Israels im Buch Judit bis zum achten Kapitel und dem Auftauchen Judits eine Geschichte des Scheiterns angesichts jener massiven Gewaltverhältnisse. König Nebukadnezzar strebt mit Hilfe seines Feldherrn Holofernes die Weltherrschaft an. Zudem beansprucht er, von allen Menschen als einziger Gott verehrt zu werden. Die bedrohten Völker verweigern Nebukadnezzar zwar zunächst die Gefolgschaft, werden dafür aber dann hart bestraft und schließlich unterworfen. Die Situation spitzt sich zu, als Holofernes mit seinem Heer die Levante erreicht. Auch hier formiert sich zuerst massiver Widerstand und der Siegeszug des Holofernes gerät ins Stocken. Die Bewohner blockieren Straßen und besetzen Pässe, verschanzen sich in ihren Ortschaften (Jdt 4,4 f.).

Doch mit der Zeit drohen auch die letzten nicht eroberten Städte zu resignieren. Schließlich spitzt sich die Lage zu bei der Belagerung der Stadt Betulia, die auf einer Anhöhe quasi den Vorposten in Richtung Jerusalem bildet. Hier wohnt auch Judit, die von nun an den Widerstand gegen Holofernes in die Hand nimmt. Warum aber schlägt die ursprüngliche Widerstandsbereitschaft in Samarien und Judäa in Resignation um? Diese Sinnesänderung wird dem Leser am Beispiel der Stadt Betulia veranschaulicht.

Nach Jdt 4,9–15 legen die Israeliten allerdings zuerst eine konsequente Bußbereitschaft und ein konsequentes Gottvertrauen an den Tag. Der Name Betulia, „Haus JHWHs“, wird hier zum Programm. Die Bewohner Betulias repräsentieren die vorbildliche Kultgemeinde Israel. Die Einhaltung der Gebote stellt Rettung in Aussicht, für Jerusalem und den Tempel. Im Hintergrund steht die Erinnerung an die Katastrophe der babylonischen Eroberung, die mit der Zerstörung des Tempels endete (Jdt 4,3). Die bedrohten Bewohnerinnen und Bewohner von Betulia ergreifen zuerst Sicherheitsmaßnahmen, schicken Boten in die benachbarten Städte, besetzen die Bergspitzen, befestigen die Orte und versorgen sie mit Lebensmitteln (Jdt 4,4–5). Die ergriffenen Maßnahmen sind allesamt defensiver Art. Doch setzen sie nicht auf militärischen Widerstand, sondern die betroffenen Bewohner Betulias legen sich stattdessen Bußgewänder an, und zwar nicht nur sich, sondern quasi ihrer ganzen Lebenswelt. Damit drücken sie ihr Vertrauen auf Gott aus, von dem allein sie Rettung erhoffen. Die religiöse Reaktion wird jedoch nicht, wie zu vermuten wäre, vom Hohepriester Jojakim angeordnet, sondern von den Frauen, Männern und Kindern selbst begonnen. Und es ist schließlich im Buch Judit die einzige Situation, in der Gott aktiv eingreift: „Und der Herr erhörte ihr Rufen und sah auf ihre Not“ (Jdt 4,13). In Erinnerung an die Befreiung Israels aus dem Sklavenhaus Ägypten, wo Gott ebenfalls auf den Notschrei der Israeliten gehört hatte (Ex 2,23–25), könnte man hier schon die Zusage Gottes erkennen, dass er auch dieses Mal aus der Not retten wird. Abgeschlossen wird diese Bußaktion mit dem Opfer des Hohepriesters Jojakim am Jerusalemer Tempel.

Holofernes reagiert auf diesen Widerstand mit wütendem Unverständnis. In Kapitel 5 klärt ihn darum der Ammoniter Achior auf: Israel ist unbesiegbar, wenn es der Tora und den Weisungen seines Gottes folgt. Die Geschichte zeige aber, wie beim Auszug aus Ägypten, dass ihr Gott den Beistand versagt, sobald die Menschen diesem Gott JHWH nicht mehr vertrauen. Achior wird zwar für seine kenntnisreiche Rede über das Volk Israel von Holofernes und seinen Soldaten fertiggemacht und zur Strafe den Einwohnern von Betulia ausgeliefert, von denen er allerdings wider Erwarten freundlich aufgenommen wird. Doch liegt hier der Schlüssel für das Verständnis des weiteren Verlaufs der Handlung durch den Leser. Die Belagerung Betulias erweist sich als eine Herausforderung für den Glauben, an der die Israeliten scheitern. Als ihnen nämlich die Wasserversorgung zerstört wird und sie zu verdursten drohen, kommt es zu einer kritischen Provokation Gottes: Die Bewohner wollen sich ergeben, um nicht von dem feindlichen Heer umgebracht zu werden. Die Situation spitzt sich weiter zu, die Menschen schreien zu Gott, aber ihr verzweifelter Ruf lässt erkennen, dass sie jegliches Vertrauen nun verloren haben. Usija, ihr Anführer, und die Ältesten stellen Gott ein provokatives Ultimatum: Gott soll innerhalb der nächsten fünf Tage eingreifen, um das Schicksal zu wenden. Andernfalls würden sie sich tatsächlich ergeben. Der Widerstand, der mit einem großen Gottvertrauen und sogar gewaltfrei begonnen hatte, endet mit einem Abfall von JHWH, dem Gott der Befreiung.

Eine Grundaussage des Juditbuches ist: Gott beendet die Kriege. Und dies gerade nicht, indem er Israel gegen seine Feinde in den Krieg schickt oder anderweitig durch militärische Gewalt und Brutalität, wie sie sein pseudogöttlicher Gegenspieler Nebukadnezzar mit seinem Büttel Holofernes an den Tag legt. Aber das Buch Judit zeigt eben auch, wie schwer es den Menschen fällt, in einer extremen und lebensgefährlichen Situation weiter darauf zu vertrauen. Diese Problematik beschäftigt Menschen zu allen Zeiten bis heute, wenn sie sich fragen, warum Gott nicht in die menschlichen Gewaltverhältnisse eingreift. Warum lässt Gott das Leid zu? Diese klassisch als Theodizeefrage bezeichnete Problematik führt unweigerlich auf Abwege, wenn Hilfe ausbleibt und Menschen Gott vermissen. Sollte Gott eingreifen in unsere gewalttätigen Lebensverhältnisse, oder geht es nicht eher darum, dass Menschen ihr Möglichstes tun sollten, sie zu verändern?

Die Bewohner Betulias zeigen anschaulich durch ihr Versagen, also ihre Weigerung, weiter dem Gott des Exodus zu vertrauen, wie die Frage, warum Gott das alles zulässt, zur Glaubensfalle werden kann. Das Ultimatum, das sie Gott stellen, damit er endlich eingreifen möge, bedeutet konkret den Verlust des Vertrauens und die Absage an die Verheißungen, mit denen Gott dieses Volk Israel konstituiert hatte. Allerdings markiert die Provokation, der markante Fehler, Gott ein Ultimatum zum Eingreifen zu stellen, zugleich den Wendepunkt im Buch Judit: Denn in Jdt 8 greift die attraktive, gut situierte und betuchte Witwe Judit in die verworrene Situation ein. Judit bedeutet „die Jüdin“, und sie verkörpert von nun an das Gottvertrauen, das die Bewohner Betulias vermissen lassen. Hatten sich die Ältesten Betulias durch ihr Ultimatum an die Stelle Gottes gesetzt, zeigt Judit ein außergewöhnliches Gottvertrauen. Einerseits vertraut sie weiterhin darauf, dass Gott sein Volk retten wird; andererseits begegnet sie der Provokation, Gott ein Ultimatum zu stellen, mit dem Glauben, dass selbst dann, wenn Gott nicht in den nächsten Tagen hilft, der Wille Gottes gleichwohl zu respektieren sei. In ihren Reden und durch ihr Handeln erinnert und vergegenwärtigt sie die besten Befreiungstraditionen Israels. Mit ihrer konsequenten Torafrömmigkeit, die sie selbst mit ihrer Begleiterin in einer feindlichen Umgebung, im Lager des Holofernes, einhält, mit ihrer klugen Planung und Vorausschau und mit ihrem tatkräftigen Eingreifen, bei dem sie sich ganz Gott anvertraut, knüpft sie an berühmte Personen der Befreiungs- und Rettungsgeschichte Israels an: Mose (als Vermittler der Tora und Anführer beim Auszug aus Ägypten), Mirjam (die den Sieg über Pharao besingt), David (z. B. im Kampf gegen Goliat) und andere biblische Personen.

Die Befreiungsgeschichte Israels wird so durch ihre Person neu geschrieben: Judit zeigt, dass an den entscheidenden Punkten der Befreiung Israels, vom Auszug aus Ägypten (Exodus) bis in die Richterzeit und in die Zeit Davids hinein, immer wieder Frauen beteiligt waren, die das Geschick Israels zu seinen Gunsten wendeten. Was die Männer können, kann eine gläubige Jüdin auch, und das sogar ohne direkte Beauftragung durch Gott oder einen Propheten.

Das Buch Judit wirft weiterhin ein neues Licht auf Befreiung und Widerstand als Ausdruck des Glaubens. Der Auszug aus Ägypten, der Durchzug durch das Chaosmeer und die Vernichtung der Streitmacht Pharaos werden durch das Eingreifen Judits neu gelesen und gedeutet. Heißt es nämlich in Ex 15: „Gott ist ein Krieger“, so knüpft Judit durch ihr Eingreifen, das eben nicht auf militärische Stärke setzt, daran an, dass Gott auch ohne den Einsatz von Heerscharen derjenige ist, „der den Kriegen ein Ende setzt“ (Jdt 9,7; 16,2). Dies muss nicht im Widerspruch zu Ex 15 stehen, weil auch beim Auszug aus Ägypten Gott keine martialische Schlacht gegen Pharao führt, sondern dieser geht mit seinem Heer, mit dem er die fliehenden Israeliten verfolgt, im Chaoswasser unter. Konflikte verlaufen in den biblischen Schriften oft genau dann zugunsten Israels, wenn es Gott allein die „Kriegsführung“ überlässt.

Unter dem Gesichtspunkt von Fehlern und Versagen kann man auch das Verhalten des Holofernes in ein besonderes Licht rücken. War es bei den Bewohnern Betulias das Gefühl der Ohnmacht, das ihren Glauben an den Befreiergott auf die Probe stellte, so weist das Verhalten Nebukadnezzars, nämlich zu erzwingen, als einziger Gott verehrt zu werden, und seine Demonstration von Stärke durch Brutalität und militärische Unterdrückung, in eine ganz andere Richtung. Holofernes unterliegt Judit und den Israeliten aufgrund seiner Überheblichkeit, ähnlich wie Goliat im Kampf gegen David. Er unterschätzt die Bedeutung des Gottvertrauens, auf das die Israeliten zunächst setzen, auch wenn in der entscheidenden Phase nur noch Judit und ihre Gefährtin dieses aufrechterhalten. In der Erzählung ist es nicht Gott, der direkt in die Geschichte eingreift, sondern er handelt durch mutige und gläubige Menschen, um das Schicksal zu wenden. Judit ergreift die Initiative dabei nicht einmal aufgrund einer Berufung, sondern auf der Basis ihres Gottvertrauens und ihrer richtigen Lektüre der Geschichte des Volkes Israel. Sie erinnert als Angehörige des Stammes Simeon an das Strafgericht, das nach Gen 34 unter der Führung Simeons die Israeliten an den kanaanäischen Sichemiten wegen der Vergewaltigung Dinas, der Tochter Jakobs, vollzogen. Doch während nach Gen 34 die Söhne Jakobs die Rache vollziehen, rettet Judit sich selbst und das Volk Israel aus eigener Kraft. Judit wird im Unterschied zu Dina nicht das Opfer sexueller Gewalt. Sie kann die Verhältnisse umdrehen, Holofernes wird selbst das Opfer seiner Begierde, die ihm so zum Verhängnis wird.

Vor diesem Hintergrund stehen Scheitern und Fehler in einem besonderen Licht. Fehler werden auf Seiten der Israeliten bzw. der Bewohner Betulias gemacht und auf Seiten des Aggressors, verkörpert durch Holofernes bzw. Nebukadnezzar. Doch während Nebukadnezzar selbstherrlich seine pseudogöttliche Macht zu behaupten versucht, geht die Geschichte für die Israeliten gut aus, auch wenn sie in ihrem Bemühen um Gottvertrauen zu scheitern drohen. Judit, der „Jüdin“, gelingt es nämlich, durch ihr Handeln noch einmal die Befreiungsgeschichte Israels und das nötige Gottvertrauen in ihrer Person zusammenzufassen und effizient gegen die Gegner dieses Gottes und der ihm verbundenen Menschen zu behaupten.

 

Betrachten wir vor diesem Hintergrund die aktuellen militärischen Konflikte und Gewaltverhältnisse wie etwa in der Ukraine, so stellt sich auch hier die Frage nach dem Gottvertrauen und einer sinnvollen menschenwürdigen Reaktion. Zwischen Nebukadnezzar und dem Gott Israels kommt es nicht zu einem Krieg, in den das Volk Israel hineingezogen wird. Auch wenn die Erzählung nicht gewaltfrei endet, zeigt sie doch, wie mit Mut und Gottvertrauen ein umfangreiches Blutvergießen vermieden werden kann.

Ist Judits Strategie des gezielten Eingreifens gegen den Aggressor nicht doch menschendienlicher als die permanente Verdopplung der Militärhaushalte und Verlängerung eines Krieges ohne Perspektive? Die Judit-Erzählung zeigt auf der einen Seite, dass eine bedingungslose Unterwerfung, so wie viele Völker gegenüber Nebukadnezzar reagieren, keine menschendienliche Lösung ist. Andererseits sucht sie durch das Handeln dieser mutigen Frau und ihrer Gefährtin eben doch nach Möglichkeiten, einen hoffnungslosen kriegerischen Konflikt zu vermeiden. Dabei steht im Hintergrund leider auch die Erfahrung: Mit Nebukadnezzar/‎​Holofernes war nicht zu verhandeln. Er musste überlistet werden.

 

Krisen- und Notzeiten, aber auch persönliches Leid, provozieren immer wieder, darüber nachzudenken, warum Gott das zulässt. Eine befriedigende Antwort scheint es nicht zu geben. Im besten Fall leitet uns die Problematik dazu an, darüber nachzudenken, was in unserer eigenen Macht und Verantwortung steht. Manchmal können es einzelne Persönlichkeiten wie Judit sein, die dazu anstiften, nicht zu resignieren. Die Juditgeschichte ermutigt zu einem zivilcouragierten Widerstand, mit dem gleichwohl Gewalt in Grenzen gehalten wird. Sie macht Hoffnung auf ein gutes Ende, auch dann, wenn die Betroffenen Fehler gemacht haben und erste Ansätze gescheitert sind.