Inhalt

Versuch über das Scheitern

Sibylle Trawöger nähert sich dem Thema des Scheiterns aus ihrer Perspektive als systematische Theologin. Trotz Versuchen, Scheitern abzufedern oder zu umgehen, kann der Radikalität von Erfahrungen des Scheiterns nicht aus dem Weg gegangen werden. Vor dem Hintergrund der Deutung des Scheiterns als Widerfahrnis reflektiert Trawöger die Gratwanderung zwischen Bruch im Leben und Abbruch mit dem Tod.

Hinführung

„Versuche“ sind in der Literatur häufig zu finden – Peter Handke etwa hat Werke mit „Versuch über den geglückten Tag“ und „Versuch über die Müdigkeit“ betitelt. Alain de Botton hat einen „Versuch über die Liebe“ und Christian Enzensberger einen „[g]rößere[n] Versuch über den Schmutz“ verfasst. Auch vereinzelte theologische Publikationen bezeichnen ihre Ausarbeitungen mit „Versuch“. Der „Versuch“ im Titel scheint eine Ehrfurcht vor dem zu bearbeitenden Phänomen und das Bewusstsein zum Ausdruck zu bringen, dass sprachliche und rationale Annährungen (aus einer bestimmten Perspektive) ein Phänomen niemals umfassend erfassen können. Gewisse philosophische und theologische Strömungen haben dafür eine besondere Sensibilität entwickelt, wie etwa Posthermeneutik und negative Theologie.

Da ein Versuch über das Scheitern meines Wissens noch nicht vorliegt, habe ich diesen Titel gewählt, um einerseits die LeserInnenerwartung nicht zu überspannen, denn, wie bereits erwähnt, liegt es nicht bloß an der knapp bemessenen Zeichenzahl, ein derartiges Phänomen nicht umfassend bearbeiten zu können. Andererseits kann ich mich mithilfe des Versuchs auch absichern. Ich möchte vermeiden, das Scheitern performativ aufzuführen. Ich versuche also mithilfe des Versuchs, die Möglichkeit des peinlichen Scheiterns beim Schreiben über das Scheitern zu umgehen. Denn ein Versuch kann nicht wirklich scheitern, und falls er es doch tut, dann zumindest abgefedert.

Derartige Vorabklärungen, die dem Scheitern den (harten) Boden entziehen, oder andere (legitime oder illegitime) Absicherungen gegen das Scheitern sind in unserer Zeit gängig. In gewissen Kontexten und unter gewissen Prämissen gehen mit dem Scheitern keine negativen Auswirkungen wie etwa Beschämung, Verlust oder Exklusion einher. Führt beispielsweise ein Fehlverhalten zum Scheitern eines Unternehmens, kann ohne Eingeständnis des Fehlers oder Berichtigung des Sachverhalts ein charmant formuliertes E-Mail darum herumschwindeln helfen, die Schuld nicht auf sich zu nehmen und die von der Information abhängige Person „hängen zu lassen“. Derartige Kommunikationsverläufe, die eine Verantwortungsübernahme vermeiden, scheinen in unterschiedlichsten Settings bereits einkalkuliert zu sein und akzeptiert werden zu müssen.

Neben derartigen Verdeckungsmechanismen gibt es aber auch Projekte wie etwa „CVs of failure“ (vgl. Stefan 2010), die dabei helfen, das Scheitern (oder genauer: gewisse Formen des Scheiterns) gesellschaftlich zu enttabuisieren und einen guten Umgang damit zu finden. Sie zeigen auf, dass Scheitern eine anthropologische Grundkonstante ist und auch diejenigen trifft, bei denen man es auf den ersten Blick nicht vermutet. Auf gesellschaftlicher Ebene kann das explizite Einbeziehen des Scheiterns einen Gegenimpuls darstellen, um den Glanz des Scheines zu entmachten und gängige gesellschaftliche Ideale zu dekonstruieren, die lediglich zur Überforderung führen und die Möglichkeit zu scheitern potenzieren. Ratgeberliteratur lenkt den Blick auch auf die positiven Momente des Scheiterns. So können auf individueller Ebene nach einer Erfahrung des Scheiterns lebenshinderliche Perfektionsansprüche hinterfragt und neue Wege gesucht und eingeschlagen werden, wodurch Persönlichkeitsentfaltung und ‑entwicklung umfassender stattfinden kann. Der bekannte Leitspruch „Hinfallen, Aufstehen, Krönchen richten, Weitergehen“ legt den Schwerpunkt darauf, dass es nach dem Scheitern weitergeht, es nicht einmal das Voranschreiten auf dem eingeschlagenen Weg gefährden muss.

Scheitern als Widerfahrnis

Dennoch, die konkrete Erfahrung des Scheiterns kann auf mehreren Ebenen sehr anspruchsvoll und herausfordernd für den oder die Scheiternde/n sein. Der Moment des Scheiterns, der meist mit einem materiellen oder immateriellen Verlust einhergeht, ist u. a. von Haltlosigkeit und mangelnder Sicherheit geprägt. Scheitern ist ein Paradebeispiel für ein bewusst erlebtes Widerfahrnis. In Anlehnung an die Posthermeneutik von Dieter Mersch kann das Widerfahrnis ganz allgemein wie folgt charakterisiert werden: „Das Widerfahrnis ereignet sich (1) vom anderen her und erscheint (2) im paradoxen Geschehen des Entzugs, welches (3) zur aufmerksamen Wahrnehmung herausfordert und (4) zur Antwort auffordert“ (Trawöger 2019, 105). Grundsätzlich wohnt jedem Moment ein Widerfahrnis inne, doch das Aufgehen in den Routinen des Alltags überdeckt dies oftmals. Das Scheitern hebt nun den Widerfahrnischarakter des Moments deutlich hervor, indem es (ad 1) mehr oder weniger plötzlich von außen auf den/​die Scheiternde/n trifft. Scheitern passiert meist abrupt. Auch wenn es sich schon länger abzeichnet, dass der eingeschlagene Weg scheitern wird, und auch, wenn die jeweilige Person wesentlich zum Scheitern beiträgt, wird meist erst von einem auf den anderen Moment realisiert, dass man unwiderruflich gescheitert ist. Scheitern ist (ad 2) ein paradoxes Geschehen, das nicht sofort einer Interpretation unterzogen werden kann. Es macht Angst, wenn eine Situation nicht einmal mehr mittels gängiger Interpretationsraster kontrolliert werden kann. Die Unverfügbarkeit des Lebens wird im Scheitern unumgänglich wahrnehmbar und erfahrbar. Im Moment des Scheiterns kann die Situation nicht kontrolliert werden und es ist ungewiss, ob es ein „Danach“ gibt und ob dieses „Danach“ dadurch geprägt ist, dass man einfach wieder aufstehen und weitergehen kann (ad 3). Abrupt wird der/​die Scheiternde in das „Dass“ des Moments katapultiert, mit der Vorahnung, dass (ad 4) von ihm/​ihr in dieser überfordernden Situation schon bald eine „Antwort“ gefordert wird, die womöglich absolut neu gesucht und unausweichlich verantwortet werden muss. Eine Vermeidung von Verantwortungsübernahme ist in vielen Fällen nicht möglich, weil das Scheitern existentiell angeht und zur Rede stellt.

Einige Widerfahrnisse des Scheiterns können nach einer gewissen Zeit durch (neue, eventuell auch mühsam entwickelte) Interpretationen handhabbar gemacht werden oder sie stellen sich gar als Glücksfall dar, da sie den Raum eröffnet haben für andere darauffolgende Widerfahrnisse, die dem Leben eine positive Entwicklung geben. So kann man, eventuell auch ohne den Interpretationsrahmen radikal zu ändern, mit Blick auf das Gesamte gewisser Widerfahrnisabfolgen zum Schluss kommen, dass man erst dadurch dem lebendig gelebten Leben nähergekommen ist. Doch dieser Prozess der Interpretation und des (Um‑)​Deutens ist ein Prozess, der erst nach dem konkreten Widerfahrnis einsetzen kann, sofern man sich nicht mit einem „Versuch“ im Vorfeld absichert und mögliches Scheitern miteinkalkuliert sowie tatsächliches Scheitern abfedert (vgl. zum Scheitern als Prozess auch das „Prozessmodell“ von Kern 2022). Adäquate Interpretationen für individuelle oder gesellschaftliche Widerfahrnisse des Scheiterns können in gewissen Fällen als kleine Auferstehungserfahrungen erscheinen, die gängige Einstellungen zum Leben hinterfragen, um zu einem befreiteren Leben im „Hier und Jetzt“, also zum „lebendig gelebten Leben“ zu kommen. Allerdings: Nicht jedes Scheitern erscheint im positiven Licht, nachdem es in einen passenden Interpretationsrahmen gestellt wurde, es kann sich im Reflexionsprozess sogar als noch tragischer herausstellen, wenn nämlich Deutungs- und Handlungsmuster zutage treten, die das Scheitern und den darauffolgenden, möglicherweise sich als ungünstig erweisenden Projekt- oder Lebensverlauf mit hoher Wahrscheinlichkeit hätten verhindern können.

Allen Absicherungs-, Abfederungs- und Umgehungstendenzen zum Trotz sind Unternehmungen, Projekte und Beziehungen auch dieser radikalen Qualität des Scheiterns ausgesetzt. Scheitern kann neue Möglichkeiten und Wege anzeigen, es kann aber auch ein endgültiges „Nein“ oder „Vorbei“ aufzeigen. Scheitern kann im Tod enden, es kann aber (eventuell genau über das Moment des Todes) zum lebendig gelebten Leben führen (vgl. im Folgenden die Differenzierung zwischen einem Scheitern, das zum Bruch, und einem Scheitern, das zum Abbruch führt).

Scheitern zwischen Bruch und Abbruch

Eine religiöse und theologische Auseinandersetzung mit dem Scheitern kann und muss die extreme Bandbreite und die Ambivalenz dieses Phänomens (sowie die individuellen Ausgestaltungen des konkreten Scheiterns und der damit verbundenen Herausforderungen) in den Blick nehmen.

Wird Scheitern mit theologischen Abhandlungen zur Sünde in Bezug gestellt, kann die Ambivalenz von Aktiv und Passiv zum Vorschein kommen. Welchen Anteil hat der/​die Scheiternde zum eigenen Scheitern beigetragen? Neben diesem Anstoß zur Selbstreflexion kann bei der Betonung des Widerfahrnischarakters des Scheiterns die Gratwanderung zwischen (1) Bruch im Leben und (2) Abbruch mit dem Tod reflektiert werden: (Ad 1) Es gibt ein Scheitern, dem der Metanoia-Aufruf innewohnt. Dieses Scheitern zwingt zu (teilweise notwendigen) Unterbrechungen bzw. Brüchen, um dem Widerfahrnischarakter des Lebens neue Aufmerksamkeit zu schenken, und ruft zu einem Überdenken und Neugestalten des bisherigen Weges – also zur Umkehr – auf. Die durch das Scheitern hervorgerufenen Unterbrechungen oder Brüche sind letztlich lebensdienlich. Wenn beispielsweise ein Projekt nicht wie geplant funktioniert und schließlich scheitert, es schon lange Zeit eine Belastung für alle Beteiligten darstellte, vielleicht lediglich daran festgehalten wurde, um die damit verbundene finanzielle Sicherheit nicht zu verlieren, so kann nach dem Scheitern des Projektes eine finanzielle Absicherung gefunden werden, die den Fähigkeiten der Beteiligten mehr entspricht und ihnen mehr Freude bringt – dieses Beispiel verdeutlicht, dass über einen leidvollen Umweg, der zur Umkehr aufruft, letztlich das Leben lebendig gelebt werden kann. Der Bruch, den ein Widerfahrnis herbeizwingt, führt nicht zum totalen Abbruch einer Sehnsucht, die im Leben verwirklicht sein will, oder der beruflichen Laufbahn, sondern zu einer Aufforderung, sich neu auszurichten und anhand einer „kleinen Scheitererfahrung“ neue Wege wahrzunehmen und einzuschlagen. (Ad 2) Scheitern kann aber auch ein unabwendbares Ende bewirken und zum Tod führen. Das Projekt, das gescheitert ist, kann das „Aus“ der gesamten beruflichen Laufbahn bedeuten. Gewisse Widerfahrnisse fordern den/​die Scheiternde/n dazu auf, die „ars moriendi“ zu leben. Scheitern erfordert dann eine Einübung ins Loslassen. Der persönliche Umgang mit derartigen Erfahrungen des Scheiterns zeigt auf, wie mit den Begrenztheiten des Daseins umgegangen, wie der Umgang mit Verlusten kultiviert und wie letztlich die „Einübung ins Sterben als christliche Aufgabe“ (Schockenhoff 2015, 124) persönlich gelebt wird. Um die Radikalität gewisser Scheitererfahrungen nicht zu umgehen, muss das Scheitern mit der Theodizeethematik verknüpft werden. Die theoretische Fragestellung „Wieso lässt der barmherzige, allmächtige und gute Gott Leid und Übel in der Welt zu?“ wird in der Katastrophe des Scheiterwiderfahrnisses zur persönlichen Anfrage, die nach einer in der eigenen Lebenswelt verankerten Antwort verlangt.

Im Symbol des Kreuzes kulminieren (nicht nur) diese analytisch aufgespaltenen Zugänge zum Scheitern. Jesus Christus hat nicht versuchsweise in der Welt gelebt, sondern hat sich radikal auf sie und ihre Widerfahrnisse eingelassen. Das Kreuz erinnert an die Hinrichtung Jesu und den Versuch der Vernichtung der Reich-Gottes-Botschaft. Das „Schon“ des angebrochenen Reich Gottes rückt weit in den Hintergrund und das „Noch-nicht“ wird offensichtlich hervorgehoben. Doch dieses Widerfahrnis bedeutet nicht das Ende – auch das symbolisiert das Kreuz. Es folgen weitere Widerfahrnisse, deren Bezeugungen die ChristInnen dazu veranlassen, auf die Auferstehung zu hoffen und angesichts dessen metanoia zu leben.

Auferstehung darf nicht zu vorschnell als bloße Umdeutung eines Scheiterereignisses verzweckt werden. Eine Beschäftigung mit der negativen Theologie hält auch davon ab, die Hoffnung auf Auferstehung über die Ambivalenzen der Scheitererfahrungen zu legen, ohne zuerst den widersprüchlichen und paradoxen Momenten im Scheitern und den darin liegenden theologischen Gehalten ausführlich nachgegangen zu sein.

Die Auferstehungshoffnung geht mit der Hoffnung auf ein Leben in Fülle einher, das bereits im Hier und Jetzt anfanghaft zu finden ist. Sie kann auch mit der Hoffnung auf letztgültige Gerechtigkeit konkretisiert werden, also mit einer endgültigen Gerechtigkeit, die nur Gott unter Aufrichtung all dessen, was in diesem Leben erfahren wurde, schaffen kann. Selbst wenn ein Leben von sehr vielen Scheitererfahrungen geprägt ist, davon nur wenige über einen Bruch und die daraus folgende metanoia zum lebendig gelebten Leben im Hier und Jetzt führen (können) und viele Scheiterwiderfahrnisse im Abbruch enden, der Glaube an die Auferstehung wird dadurch nicht irrelevant oder abstrus. Aus der Auferstehungshoffnung heraus kann festgehalten werden: Ein Projekt kann scheitern, eine Unternehmung kann scheitern, eine berufliche Laufbahn kann scheitern, ein Kommunikationsgeschehen kann scheitern, eine Texterstellung oder ‑lektüre kann scheitern – doch der Glaube an den Gott, der das lebendig gelebte Leben will, sagt uns zu: „Leben“, und sei es auch von noch so vielen Scheitererfahrungen geprägt, kann nicht scheitern!