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Scheitern aus psychologischer Perspektive

Moraltheologische und pastoralpsychologische Implikationen

Es ist eine psychologische Binsenweisheit, dass man aus Fehlern lernen kann. Ralf Lutz geht jedoch tiefer und reflektiert aus psychologischer Sicht die Grundlagen und Rahmenbedingungen menschlicher Erfahrungen des Scheiterns. Er zeigt die Potenziale des christlichen Glaubens für einen positiven Umgang damit auf. Orte kirchlicher Pastoral könnten dafür heilende Räume eröffnen.

Ziele und Pläne

Der Mensch verfolgt meist viele Pläne und Ziele. Die so unterschiedlichen wie vielfältigen Bestrebungen, die sich in unseren Lebensplänen Ausdruck verschaffen, lassen sich zusammenfassen in dem vielleicht tiefsten Verlangen des Menschen – nach gelingendem Leben. Der Mensch ist ein Wesen, das versucht, sein Gelingen zu betreiben. Er ist bestrebt, sein Leben gelingen zu lassen und es auch so zu erleben. Wenn das stimmt, kann er an diesem Bestreben scheitern und kann dahinter zurückbleiben, kann nicht mehr weiterwissen und muss dann neue Orientierung suchen. Da es sich um ein inklusives Ziel handelt, um dessentwillen alle anderen Ziele verfolgt werden, geht es beim Scheitern nie allein um das Nichterreichen einzelner Ziele, sondern immer auch um unsere Identität und unser Dasein im Ganzen, weswegen häufig Erfahrungen des Verlusts von Souveränität gegenüber dem eigenen Leben damit einhergehen (Ch. Kern).

Das hängt natürlich stark von unseren Zielen und Vorstellungen ab, mit denen wir das Gelingen verbinden. Schließlich versteht sich nicht von selbst, was wir unter gelingendem Leben verstehen, ganz im Gegenteil. Und es hängt auch stark von unseren Fähigkeiten im Umgang mit Krisen, Konflikten und Brüchen ab – und unseren Fähigkeiten zur Anpassung an sich verändernde Umstände. Hinter unseren Vorstellungen stehen häufig deutende Kategorien zur Bewertung unserer Ziele, nicht selten spezifische Werte, aber auch bestimmte Modelle und Vorbilder – und viele kulturelle und gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten. Hinter unseren Fähigkeiten zum Umgang mit krisenhaften Situationen, mit denen immer die Möglichkeit des Scheiterns einhergeht, stecken vielfältige Lernerfahrungen, wie wir und unsere Lernmodelle bislang mit vergleichbaren Situationen umgegangen sind – und wie wir meinen, damit am besten umgehen zu sollen. Meist sind damit vielfältige Urteile verbunden, die nach den entsprechenden Maßstäben fragen lassen. Aus welcher Perspektive dann näher qualifiziert wird, ist sehr abhängig von unseren biografischen Erfahrungen und unserem moralischen, existenziellen und religiösen Selbstverständnis. Es geht also auch um (Recht und) Moral, aber nicht allein. Gibt es nicht auch Formen des Scheiterns, die nur indirekt oder zumindest nicht ausschließlich unsere moralischen Kategorien, sondern ästhetische, existentielle oder religiöse Deutungsmuster betreffen?

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen

Mitunter kann und muss auch die Folie gesellschaftlicher Plausibilitäten infrage gestellt werden, an denen häufig im Rahmen sozialer Vergleiche das (soziale) Gelingen oder Scheitern taxiert wird: Leistung, Vitalität, Status, Ansehen etc. Bestimmte Werte mögen zunächst plausibel erscheinen, aber was ist wirklich erstrebenswert? Sich dieser Frage ab und an auszusetzen, vermag manche Enttäuschung zu ersparen. Aus welchen Quellen schöpfen wir, individuell wie kollektiv, wenn es um die Auswahl und Bewertung von Lebenszielen geht – und an welchen Modellen orientieren wir uns für die Auseinandersetzung mit Erfahrungen des Misslingens und Scheiterns? Je nachdem kann hier eine Quelle von Verzweiflung liegen angesichts des Scheiterns oder können eher die Vorboten eines positiven Wandels erkannt werden, einer Besinnung auf das eigentliche Leben.

Schließlich kann die Brisanz dieser Fragen gerade für kirchlich-institutionelle Kontexte kaum überschätzt werden angesichts der Forderungen nach einer angemessenen Aufarbeitung auch institutionell getragenen Scheiterns gegenüber Schutzbefohlenen – in einem Ausmaß, das lange nicht für möglich gehalten wurde. Dabei müssen zunächst die Fragen nach (rechtlicher und) moralischer Schuld und korrespondierender Verantwortung geklärt werden. Da geht es um personale, aber auch um institutionelle Rechenschaften, die klar zu benennen sind – und Fragen nach Konsequenzen für das eigene Selbstverständnis und die eigene Sendung. Wieviel Wahrheit und Gerechtigkeit, wieviel Solidarität und Aufrichtigkeit und wieviel kritische Einsicht in die eigene institutionell-systemische Verantwortung wäre hier angebracht? Woran nehmen entsprechende Bemühungen Maß? Was wäre hier buchstäblich maßgebend?

Dabei ist auch an die Wirkung unserer Sprache zu erinnern. Wie reden wir über Erfahrungen des Misslingens? Versagen? Fehler? Scheitern? Pech? Misserfolg? Die Konnotationen und Konsequenzen sind jeweils durchaus verschieden. Lohnend ist daher der Verweis auf die etymologische Wurzel des Scheiterns, womit ursprünglich das Ereignis bezeichnet wurde, wenn Schiffe an Felsen oder Hindernissen in ihre Holzbestandteile zerborsten sind (H. Blumenberg). Auch die metaphorische „Schifffahrt des Lebens“ kann Schaden nehmen. Wiewohl individuelle Verantwortung adressiert werden muss, ist die Einsicht wichtig, dass wir nicht für jedes Scheitern ausschließlich selbstverantwortlich sind, so als ob man immer auch anders gekonnt hätte. Das käme sonst einer Hybris des Individuellen gleich. Scheitern ist auch ein zutiefst sozial bedingtes Phänomen. Es gibt gesellschaftliche und auch institutionell-systemische Hintergründe, denen wir natürlich nicht einfach ausgeliefert sind, die uns aber zutiefst prägen.

Menschen als Freiheitswesen

Trotz der Möglichkeiten zur kritischen Infragestellung gesellschaftlich-kultureller Kategorien vermeintlichen Erfolgs und damit auch der Möglichkeiten zur Infragestellung vermeintlichen Scheiterns: Die Erfahrung des Scheiterns gibt es, weil wir Freiheitswesen sind, die irrtumsanfällig und ambivalent sind, ungeordnete Neigungen haben und uns vielfach täuschen können hinsichtlich des Erfüllungspotentials unserer Ziele. Nicht selten leben wir auf eine Hoffnung oder ein Versprechen hin – ohne zu wissen, ob die Erreichung oder Erfüllung auch hält, was sie verspricht. Wir kennen das alle, wenn sich eine gewisse Ernüchterung breitmacht, wenn sich nach dem Erreichen bestimmter Ziele die erhoffte Erfüllung nicht oder nur sehr abgeschattet einstellt. Die Möglichkeiten zur Umdeutung sind zwar psychologisch gegeben, aber begrenzt, sonst fangen wir irgendwann an, uns selbst und unsere Erfahrungen zu verleugnen – und nehmen uns als Freiheitswesen nicht mehr ernst.

Strategien im Umgang mit dem Scheitern

Aus psychologischer Perspektive bieten sich drei Strategien an, um mit Erfahrungen des Scheiterns umzugehen: (1) überzogene oder unrealistische Ziele und dysfunktionale Mittel zur Zielerreichung zu korrigieren bzw. diese neu an die eigenen Möglichkeiten anzupassen; (2) meine Bewertungsmaßstäbe zu ändern; (3) Erfahrungen des Scheiterns anzunehmen, ihnen eine (neue) Deutung zu geben und sie biografisch zu integrieren, um daraus dann Konsequenzen für deren zukünftige Vermeidung zu ziehen. In aller Regel werden diese Möglichkeiten nicht in Reinform realisiert, sondern als Mischung und in Kombination, mitunter lösen sie sich auch ab. Weitaus am häufigsten ist die erste Strategie, wonach wir bei absehbarem oder bereits realem Nichterreichen unserer Ziele die Zielwahl verändern oder zunächst noch daran festhalten und die eingesetzten Mittel zur Zielerreichung zu adaptieren versuchen. Man denke etwa an Fragen der Berufswahl, die Wahl sportlicher Ziele oder Ähnliches. Die zweite Strategie prüft die den Zielen vorausliegenden Werte, also dasjenige, was uns wirklich wichtig ist und die Zielwahl leitet. Auf dieser Ebene sind auch Umdeutungen möglich, in Grenzen, auch nachträglich, wonach etwa das Nichterreichen bestimmter Ziele auf dem Hintergrund der ursprünglichen Wertsetzungen ein Scheitern darstellen mag. Wenn uns aber etwas ganz anderes wichtig erscheint, kann dies das vermeintliche „Scheitern“ durchaus relativieren. An einer solchen Hermeneutik des Lebens hängt einiges. An der Art und Weise, wie wir das Leben verstehen, hängt u. a. auch, wie wir es bestehen. Hier liegen basale psychologisch-existenzielle Zusammenhänge, die für einen konstruktiven Umgang mit Erfahrungen des Scheiterns zentral sind, da sie zumindest potenziell Haltungen ermöglichen, die eher bewältigungsförderlich sind. Dauerrebellion oder Verdrängung dagegen sind ungesund. Die dritte Strategie ist im Allgemeinen durch ein hohes Bewältigungspotenzial gekennzeichnet und nicht selten der Abschluss einer gelungenen Auseinandersetzung mit Erfahrungen des Scheiterns und daher Ausdruck seelischer Gesundheit. Ergebnis ist es, entsprechende Erfahrungen zu einem Teil der Biografie zu machen, der annehmbar ist und der die Gestaltung von Gegenwart (und Zukunft) nicht mehr über Gebühr beeinträchtigt. Die Prozesse, die dazu führen, können schmerzhaft sein, insbesondere bei Projekten von hoher Priorität oder erheblicher Konsequenz, aber sie ermöglichen Zukunft. Die damit verbundenen Fähigkeiten des Sich-nicht-unterkriegen-Lassens und des Wieder-Aufstehens setzen Resilienzpotenziale voraus. Häufige Appelle helfen da übrigens nicht viel, wenn die psychischen Voraussetzungen nicht gegeben sind.

Manchmal hilft es tatsächlich auch, nicht alles so ernst zu nehmen – oder genauer: eine Relativierung am großen Ganzen des Lebens vorzunehmen. Das lässt manches, was ehedem als wichtig erschien, in den Hintergrund treten, da das Erleben anderer Werte und Projekte die Relationen untereinander wieder zurechtgerückt hat. In den meisten Fällen dagegen gilt es genau umgekehrt, die Erfahrung des Scheiterns wirklich einmal ernst zu nehmen und die biografischen und sozialen und womöglich auch institutionell-gesellschaftlichen Wurzeln zu ergründen, damit es sich nicht erneut ereignet. Bei Täter-Opfer-Konstellationen kann wechselseitiges Verständnis für die seelische Dynamik, kann die erlebte Reue und kann reale oder symbolische Wiedergutmachung von erheblicher Bedeutung für eine Beziehungsbilanz sein. Oft gar nicht erwartet und daher auch selten gewürdigt korrespondiert mit Erfahrungen des Scheiterns häufig die Erfahrung der Trauer. Scheitern kann als Verlusterfahrung gelten. Der womöglich endgültige Verlust der mit den ursprünglichen Zielen verbundenen Lebens- und Erlebensmöglichkeiten löst Trauer aus. Diese gilt es zunächst zuzulassen, um die vermeintlich verlorenen Möglichkeiten loszulassen. Letztlich dienen die sich darin artikulierenden Abschiede, ebenso wie die Trauer über den Verlust an Leben, der psychischen Integration.

So oder so, aus psychologischer Perspektive ist wichtig, dass wir nicht zu viel Angst vor dem Scheitern entwickeln, sonst verlieren wir jeden Mut und unsere Handlungsfähigkeit wird immer mehr eingeschränkt, wir werden gebremst und gelähmt vor lauter Vorsicht. Wir brauchen Mut, uns selbst zu wagen und im Leben etwas auszuprobieren, und können daher ein mögliches Scheitern nicht immer kategorisch ausschließen oder zu vermeiden versuchen. Stattdessen wäre eine Kultur des Umgangs mit Fehlern nötig, die bei aller berechtigten Fehlervermeidung mit der Möglichkeit rechnet und kommunizierbare und gangbare Wege bereithält, die Trauer eröffnen, die begleiten, die Wahrhaftigkeit, Einsicht und eine Einordung des Geschehens ermöglichen und die schließlich ermutigen, dem Leben irgendwann wieder zu vertrauen und neue Wege zu gehen. Das genaue Gegenteil sind die immer häufiger zu beobachtenden und meist medial inszenierten Tribunale und Shitstorms, die auf dem öffentlichen Parkett Aufmerksamkeit generieren wollen, aber das vermeintliche oder reale Scheitern und die damit verbundenen Emotionen instrumentalisieren. Von zentraler Bedeutung für eine konstruktive Bewältigung ist daher – trotz eines möglichen Scheiterns –, das Wissen um eine grundsätzliche Anerkennung und Akzeptanz der eigenen Person nicht infrage gestellt zu sehen, die (Selbst-)Achtung im Rahmen unserer sozialen Beziehungen nie ganz zu verlieren. Eine Identitätsgefährdung ist dabei latent immer gegeben.

Nun gibt es wohl auch die umgekehrte Möglichkeit, aus einem Scheitern einen Triumph zu machen (V. E. Frankl), aus einem Scheitern gestärkt hervorzugehen, indem entsprechende Erfahrungen quasi wie ein Sprungbrett verwendet werden, um nach anderen Möglichkeiten der Wertverwirklichung zu suchen. Auch wenn die Gefahr des Heroismus dabei immer mitschwingt, kann doch eine wichtige Einsicht aus dieser humanen Möglichkeit festgehalten werden: Erfolg ist etwas anderes als Sinn! Wir mögen an bestimmten Erfolgskriterien „gescheitert“ sein, können aber dennoch die Vorstellung haben, ein sinnvolles Leben zu führen, und der Auffassung sein, dem Leben dennoch zumindest partiell einen Sinn abgerungen zu haben. Das kann sehr entlastend sein, setzt allerdings voraus, dass Menschen nach einem solchen Sinn fragen bzw. diesen überhaupt für möglich erachten.

Zum Potenzial des christlichen Glaubens im Umgang mit Scheitern

Spätestens an dieser Stelle soll eine Ahnung davon entstehen, welche Potenziale der christliche Glaube eigentlich zu eröffnen vermag im Umgang mit Erfahrungen des Scheiterns. Auch hier sollen drei mögliche Wege angedeutet werden, deren Leitgedanke der Annahme folgt, dass der christliche Glaube sehr basalen existenziellen Halt ermöglicht – trotz und in Erfahrungen des Souveränitätsverlusts – und damit einen Kontrapunkt gegen panautonomistische Selbstverständnisse zu setzen vermag, die die Selbstkontrolle einseitig favorisieren und mit Erfahrungen des Scheiterns kaum konstruktiv umzugehen vermögen. Ein erster Weg (1) arbeitet mit der Umkehrung von Werten und Perspektiven, wie es von Jesus in den Evangelien vielfach berichtet wird. Die Metanoia, die Umkehr und Hinwendung zum Eigentlichen, beginnt mit einer Umkehr des Denkens und einer Umkehr der Wahrnehmung, zu der uns Jesus immer wieder anleiten möchte. Der Blickwechsel ist mitunter radikal: Die Kleinen und Unmündigen, die Kinder, die Frauen, die Bedürftigen, die wahrhaft Glaubenden, die Sich-Gebenden sind es, von denen es zu lernen gälte. In der Folge kommt es zu einer Umwendung der ursprünglichen Gelingens- und Misslingenspotenziale. Diese werden vom Kopf auf die Füße gestellt. Psychologisch ist das Reframing und Revaluation. Der zweite Weg (2), den das Christentum zum Umgang mit Erfahrungen des vermeintlichen und realen Scheiterns bereithält, ist es, Sinnpotenziale trotz und in allem Scheitern zu entdecken. Die Dialektik und Ambivalenz von Kreuz und Auferstehung Jesu könnte hier eine Matrix sein. In dem nach irdischen Maßstäben Gescheiterten ist eine tiefe Überwindung von Sinnlosigkeit verborgen, die es im eigenen Leben zu entbergen gälte. Hier dürften sich auch Semantiken zur Deutung der aktuellen kirchlichen Situation finden lassen. Ein möglicher dritter Weg (3) ist schließlich die Ermöglichung von Erfahrungen der Befreiung aus der Verstrickung und Lähmung im Scheitern durch Eröffnung von Perspektiven der Hoffnung. Denken wir nur an die enorme Kraft der Liturgie und den Trost des Gebets, Verstrickungen zu öffnen und Fixierungen zu lösen, indem alles dem Altar der Verwandlung und der Gegenwart Gottes anvertraut und ins Universelle hinein geöffnet wird. Solche und ähnliche Erfahrungen können gemeindlich aufgenommen, begleitet und verstärkt werden, bis sie sich selbst tragen und einen Lebenswandel einzuleiten vermögen.

Kirche als Raum eines produktiven Umgangs mit Scheitern: Ein Ausblick

Was bedeuten diese Einsichten aus der Individual- und Lernpsychologie und der Theologie aber für Einzelpersonen und Rollenträger im Kontext kirchlichen und pastoralen Handelns, auch und gerade angesichts der aktuellen Situation der Kirche, und insbesondere, wenn wir sowohl an die vielen lokalen Ortskirchen als auch an die Weltkirche denken? Schließlich haben zahlreiche kirchliche Skandale aus der jüngeren Vergangenheit vor Augen geführt, dass es neben persönlichem Scheitern einzelner Rollen- und Funktionsträger auch institutionelles, im vorliegenden Fall ekklesiologisches Scheitern zu geben scheint, wonach strukturelle Gegebenheiten der verfassten Kirche ihrer eigentlichen Sendung, Zeichen und Werkzeug der Liebe Gottes (Lumen gentium 1) zu sein, nicht nur nicht entsprochen, sondern diese geradezu ins Gegenteil verkehrt haben.

Für pastorale Kontexte könnte das bedeuten, Gemeinden als Asylstätten für all diejenigen zu begreifen, die an eigenen oder fremden Ansprüchen „gescheitert“ sein mögen – und denen dennoch und gerade deshalb ein „Willkommen!“ entgegengebracht wird. Jesu Nähe zu den vielen vermeintlich Gescheiterten könnte hier Modell und Vorbild sein. Dabei wären auch und gerade diejenigen, die an kirchlichen Vorgaben „gescheitert“ sind – oder diese schon gar nicht mehr zum Gegenstand ihres Strebens machen – angesprochen.

Das heißt freilich nicht, alle Maßstäbe fahren zu lassen; das hat Jesus auch nicht getan. Mancher Anspruch des jüdischen Glaubens wurde durch ihn sogar noch radikalisiert. Alles andere würde den Menschen als Freiheitswesen mit einer offenen Zukunft nicht ernst nehmen, denn dazu gehört es, das Scheitern als Möglichkeit und mitunter auch als Realität und tragischen Ausdruck dieser Freiheit zu begreifen. Letztlich würde man dem Menschen die Würde als Wesen der Freiheit verweigern, wenn jegliches Scheitern wegrationalisiert – oder spiritualisiert – werden würde. Daher dürfen wir nicht fahrlässig oder ungenau werden, sondern müssen die Möglichkeit und Realität des Scheiterns akzeptieren, ihr ins Gesicht schauen und dann gemeinsam nach Wegen der Neuausrichtung suchen – und diese strukturell und institutionell auch einfordern.

Aber Willkommenheißen und Einladen, Annehmen und Begleiten, Bejahen und Aufrichten – von Menschen in und mit ihren Erfahrungen des Scheiterns und ihrer Schuld, wenn denn solche im Spiel sein sollte –, das wären Haltungen, die wenigstens versuchen, erfahrbar zu machen, was im Evangelium heißt: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken“ (Mt 11,28). Das ist eine Einladung an alle. Niemand soll sich ausgeschlossen fühlen. Alles Weitere baut auf dieser bedingungslosen Einladung auf. Was wären das für wunderbare Gemeinschaften! Schließlich hat niemand fertige Lösungen, alle sind wir angewiesen auf Neuanfang und Versöhnung. Wo aber sind die kirchlichen Räume, in denen dies emotional „durchgearbeitet“ werden kann – ohne Verurteilung? Wo sind die Räume, in denen Menschen die Erfahrung machen können, ihr Leben in seiner ganzen Ambivalenz anschauen zu können – ohne Angst, sondern unter den liebenden Augen eines Gottes, der nicht relativiert, aber mit offenen Armen empfängt? Solche Räume, sich der Wahrheit des Lebens zu öffnen – im Gespräch, in der Liturgie, im Gebet, in Gemeinschaft – und darin gemeinsam nach den Zukunft eröffnenden Spuren der Verheißung Gottes zu suchen, wären wahrhaft christliche Gemeinde.

Statt allein die Erwartungen an Orthodoxie und Orthopraxie in den Vordergrund zu stellen, so als würden wir immer schon als die „Erlösten“ leben können, die wir theologisch längst sind, wünschte ich mir pastorale Räume in einer Kirche, die mit mir den Transitus vom Unerlöstsein zum Erlöstsein mitgeht, die sich mit mir auf die dafür notwendigen befreienden, aber mitunter auch schmerzhaften Lernprozesse einlässt – und dabei auch ihrer eigenen geschichtlichen Gebrochenheiten, ihrem „Scheitern“, ansichtig wird – anstatt die eigenen Anteile zu vertuschen, zu tabuisieren, zu verdrehen, zu bagatellisieren, auf andere zu projizieren, zu rationalisieren und spirituell zu überhöhen. Hier wie dort gilt immer noch: „Die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8,32), wenn wir bei uns selbst anfangen.

Es gehört zu den psychologischen Binsenweisheiten, dass man aus Fehlern lernen kann. Aber auch das muss man erstmal lernen, und dafür braucht es Vorbilder und eine Kultur der Anerkennung und eine Kultur des Fehler-machen-Dürfens, die mit Wahrhaftigkeit und Mut, Vergebung und Versöhnung, aber auch mit Einsicht und Verantwortung einhergeht. „Deine Maßstäbe sind womöglich nicht meine“, so könnte eine entsprechende pastorale Haltung vielleicht angedeutet werden, „dennoch sind wir als diejenigen, die gemeinsam auf den Herrn schauen, in einer Gemeinschaft verbunden.“ Immer im Wissen, uns könnte ein Rollenwechsel auch treffen. Und dann kommt es darauf an, in welcher Rolle wir uns wiederfinden: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein!“ (Joh 8,7).