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Immunisierung gegen das Scheitern oder ein Fehler: das Autoritätsprinzip?

Implikationen und Nachwirkungen der Unfehlbarkeitsdefinition von 1870

Heute wird eine Fehlerkultur als Innovationsaspekt auch in der Kirche propagiert– zumindest in manchen Kreisen in ihrer Selbstdarstellung nach außen. Ansonsten tut sich Kirche eher schwer damit, Fehler einzugestehen. Insbesondere das päpstliche Lehramt wurde im 19. Jahrhundert dogmatisch für „unfehlbar“ erklärt – jedenfalls unter bestimmten Bedingungen. Die Verbindung von Jurisdiktionsprimat des Papstes und der dem Amt zugeschriebenen Infallibilität zeigt im Rahmen einer „immunisierenden“ Ekklesiologie Nachwirkungen bis heute.

Im kollektiven Gedächtnis der Katholiken wird das Erste Vatikanische Konzil vor allem mit der Erklärung der päpstlichen Unfehlbarkeit und der folgenden Abspaltung der altkatholischen Kirche in Verbindung gebracht. Diese Themen kreisen ebenso wie andere Tagesordnungspunkte des Konzils um das zentrale Thema, welche Struktur der Kirche eigentlich angemessen ist. Im Folgenden sollen daher (1.) die Hintergründe des Konzils thematisiert werden, bevor (2.) ein Überblick über das Konzil und seine Entscheidungen gegeben wird; abschließend sollen (3.) die Entscheidungen des Konzils und ihre Implikationen vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Diskussions- und Problemlagen der römisch-katholischen Kirche in Deutschland bewertet werden.

1. Bewältigung des Scheiterns? Die Vorgeschichte des Konzils

Um zu verstehen, was auf dem Ersten Vatikanischen Konzil geschah und was diskutiert wurde, müssen wir bis zur Umbruchszeit um 1800 zurückgehen. Denn in diesen Jahren, die politisch durch die Französische Revolution, die Neuordnung Europas durch und nach Napoleon sowie eine Reihe von Kriegen geprägt waren, zeigte sich auch eine fundamentale Krise der Kirche(n). Damit ist nicht nur die schon länger andauernde Strukturdebatte gemeint, die sich um die Frage drehte, ob der Papst oder das Kollegium der Bischöfe die oberste Instanz in der Kirche sein sollte. Gegen diesen sogenannten Episkopalismus wehrte man sich in Rom ebenso wie gegen andere Versuche, die strikte Hierarchie der Kirche „flacher“ zu machen und umfassendere Möglichkeiten der Mitbestimmung einzuführen: Die Synode von Pistoia (1786), die dies unter der Ägide des toskanischen Großherzogs versucht hatte, wurde einer ebenso gründlichen Prüfung wie dezidierten Verurteilung aus Rom unterzogen (mit der päpstlichen Bulle Auctorem fidei von 1794).

Ganz generell aber hatte das Christentum in Westeuropa um 1800 viel von seiner früheren Selbstverständlichkeit verloren. Das zeigt sich äußerlich daran, dass bei der Wiederherstellung der Monarchien durch den Wiener Kongress (1814/15) die Religion konsequent dem Staat untergeordnet wurde: Die äußeren Strukturen der Religionspraxis wurden staatlich reglementiert und beaufsichtigt, ansonsten wurde die Religionsausübung dem Bereich der persönlichen und privaten Frömmigkeit zugeordnet. Voraussetzung dafür war, dass sämtliche Herrschaftsfunktionen, die kirchliche Würdenträger bis 1800 ausgeübt hatten, getilgt wurden: Im Prozess der Säkularisationen (ab 1803) wurden die weltlichen Herrschaftsgebiete von Bischöfen und Klöstern in die entstehenden Flächenstaaten integriert, die entsprechenden Herrschaftsrechte fielen weg; außerdem wurden Klöster enteignet und der Besitz dem Staat zugeschlagen. Je nach Territorium konnte sich diese Maßnahme auf Land- und Forstwirtschaft oder auch auf Kunst und Wertgegenstände erstrecken. Nicht wenige Klöster wurden in diesem Zuge ganz aufgelöst.

Die Säkularisationen und die ihnen folgenden Strukturveränderungen waren freilich nur Symptome eines umfassenderen gesellschaftlichen Phänomens, der Säkularisierung: Christliche Glaubensüberzeugungen und christliche Glaubenspraxis schwanden in den Gesellschaften und ihren Institutionen, der Alltag war mithin weniger von Religion geprägt als noch hundert Jahre zuvor. Und so lassen sich um 1800 einerseits leerer gewordene Kirchen, andererseits ein hohes Interesse an kirchenkritischer Literatur beobachten – zwei Indizien für eine tiefe Krise.

Auf katholischer Seite gab es grundsätzlich zwei Arten, sich mit dieser Kirchenkrise auseinanderzusetzen. Die eine bestand in einer durchaus kritischen, aber auch produktiven Aufnahme aufklärerischen Gedankenguts in die Theologie, aber auch im Nachdenken über Kirchenstrukturen. Dies schlug sich etwa in Rezeptionen der Philosophie Immanuel Kants oder in Reformforderungen nieder (z. B. zur Reduktion von Feiertagen und Prozessionen, zur Abschaffung des Pflichtzölibats oder zur Relativierung der monarchischen Strukturen der Kirche). Die andere Antwort war bereits erprobt und bestand in einer dezidierten Konzentration auf Rom und das Papsttum: Von dort aus erwartete man sich Richtungsweisung in der Auseinandersetzung mit einem von Aufklärung und Revolution beeinflussten Staatsdenken sowie mit den geistigen Strömungen der Zeit und ihren Angriffen auf die Kirche. Zur Romorientierung trat also eine antiaufklärerische und antimoderne Haltung, da beides mit Revolution verbunden wurde, sowie eine klare konfessionelle Profilierung – damit ist ungefähr umrissen, was als Ultramontanismus den Katholizismus des 19. Jahrhunderts prägen sollte. Vor allem für diese ultramontane Partei waren die Umwälzungen um 1800 eine Art „Urschock“, der im Lauf der kommenden Jahrzehnte auf verschiedene Weise bewältigt werden musste.

Tatsächlich erlebte die katholische Kirche im Lauf des 19. Jahrhunderts einen Prozess der „Ultramontanisierung“, der im Ersten Vatikanischen Konzil 1869/70 kulminierte. Damit ist die grundsätzliche Ausrichtung von Theologie und Kirche auf Rom und das Papsttum gemeint, und zwar auf dem Gebiet der kirchlichen Lehre ebenso wie in religiöser Praxis und kirchlichem Recht. Und so fallen so unterschiedliche Vorgänge unter diese Überschrift wie die Lehrverfahren gegen lebende und verstorbene Theologen und die Aufnahme ihrer Werke in den Index der verbotenen Bücher, die Feierlichkeiten zu Ehren der Päpste (v. a. Pius’ IX.) oder die Lehrschreiben der Päpste Gregor XVI. (1831–46) und Pius IX. (1846–78).

Die beiden großen Lehrentscheidungen Pius’ IX. können als exemplarisch im päpstlichen Kampf gegen die als feindlich wahrgenommene moderne Welt gelten: der Syllabus errorum (8. Dezember 1864) und die Verkündung des Dogmas von der unbefleckten Empfängnis Mariens exakt zehn Jahre zuvor (1854). Mit dem Mariendogma entschied Pius IX. einen theologischen Streit des Mittelalters: Maria, die Mutter Jesu, war demzufolge selbst im Augenblick ihrer Empfängnis im Leib ihrer Mutter von der Erbsünde bewahrt geblieben – als einzige Ausnahme unter den Menschen. Dieses Dogma, das keinen biblischen Glaubensinhalt, sondern eine fromme Tradition enthält, zeigt nicht nur die Marienfrömmigkeit des Papstes (mit Maria gegen die Moderne!), sondern auch seine Auffassung vom kirchlichen Lehramt: Der Papst entscheidet, allenfalls auf einen Teil der Bischöfe gestützt, was Katholiken zu glauben haben. Insofern war das Mariendogma durchaus ein „Probelauf“ für die Lehre vom unfehlbaren Lehramt des Papstes 1870.

Ebenso war der Syllabus errorum als Abgrenzung der Kirche gegenüber der Moderne und als Akt des päpstlichen Lehramts gedacht. Publiziert als Anhang zu einem Lehrschreiben, der Enzyklika Quanta cura, verurteilt dieses Dokument 80 Irrtümer der Moderne: Vom Atheismus über den Rationalismus, die religiöse Indifferenz, den Sozialismus und Kommunismus bis hin zu Liberalismus und Freiheitsrechten wird ein unsystematisches Panoptikum der „feindlichen Moderne“ des 19. Jahrhunderts aufgemacht. Den Höhepunkt bildet der 80. Satz, in dem die Ansicht verurteilt wird, der Papst könne und solle sich mit Fortschritt, Liberalismus und moderner Kultur versöhnen und anfreunden. Mochte der Syllabus auch unterschiedlich interpretiert werden, seine grundsätzliche Bedeutung in den Augen der Zeitgenossen zeigt sich schon daran, dass er die offizielle Ausgabe der Dokumente des Ersten Vatikanischen Konzils eröffnet – und daran, dass nicht wenige künftige Konzilsteilnehmer vom Konzil eine Bekräftigung des Syllabus erwarteten. Dieser papstzentrierten Sicht und Praxis der Gesamtkirche entsprach die Zentrierung der Bistümer und Pfarreien auf die rechtliche und dogmatische Autorität der Bischöfe und Pfarrer hin, die sich etwa in der Praxis der Synoden in den Jahren vor 1870 und in der Literatur über Priester finden lässt.

2. „Autorität“ als Leitmotiv des Konzils

Als das Konzil am 8. Dezember 1869 eröffnet wurde, stand der Syllabus zwar nicht auf dem Programm, wohl aber eine Fülle anderer Themen: vom Ehe- und Ordensrecht über das Verhältnis zu den östlichen Kirchen bis zur Frage nach einem „Weltkatechismus“ zur Lehre von der Offenbarung und von der Kirche. Dabei zeigte sich, dass sich die Frage nach der Unfehlbarkeit zwar (noch) nicht auf der Tagesordnung fand, dass sie jedoch schon das Potential zur Spaltung des Konzils hatte – denn sie war in den zurückliegenden Jahren bereits in der katholischen Presse verhandelt worden. Freilich schieden sich die Geister weniger am „Ob“ als am „Wie“ der Unfehlbarkeit: Sollte der Papst quasi absolutistisch Glaubenslehren definieren können oder sollte er irgendwie an die Lehrtradition und das Glaubenszeugnis der Kirche gebunden werden?

Zuerst jedoch wurde ein anderes Thema behandelt, nämlich die Frage nach Offenbarung, Glaube und Vernunft, die in die Konstitution Dei Filius (24. April 1870) mündete. Darin wird zwar die Rolle der Vernunft für den Glauben durchaus gewürdigt, der Glaube beruht dem Konzil zufolge letztlich aber auf der Autorität Gottes; er wurde der Kirche übergeben, „um treu bewahrt und unfehlbar erklärt zu werden“. Daraus folgt, dass die Kirche in Gestalt ihrer Amtsträger eine Autorität ausübt, die letztlich die Autorität Gottes repräsentiert und durch sie legitimiert wird. Zugleich zeigt sich darin ein statisches Verständnis des Glaubens, der gewissermaßen als „Paket“ erscheint, das nur in der gegebenen Form angenommen werden kann. Glauben als Akt des Vertrauens und der (individuellen und gemeinschaftlichen) Aneignung, mithin Momente geschichtlicher Dynamik, kommen hier nicht vor.

Das Motiv der Autorität wird wieder aufgegriffen in der Konstitution über den Papst, Pastor aeternus (18. Juli 1870), in der der Jurisdiktionsprimat und die Unfehlbarkeit des päpstlichen Lehramtes definiert werden. Jurisdiktionsprimat bedeutet zunächst, dass der Papst von allen Gläubigen, Laien ebenso wie Priestern und Bischöfen, Gehorsam einfordern kann. Päpstliche Entscheidungen – unabhängig davon, ob es sich um Fragen des Glaubens, der Ethik, der Disziplin oder der Rechtsgestalt der Kirche handelt –, sind damit zwar nicht der Diskussion entzogen, haben aber höchste Verbindlichkeit. Obwohl der Papst damit das Recht bekommt, auf alle Ebenen der Kirche „durchzuregieren“, und dies sogar in der Lehre verankert wurde, sorgte der Jurisdiktionsprimat für wenig Diskussionen in der Konzilsaula – zu lange war er schon geübte Praxis.

Dem Jurisdiktionsprimat entspricht die Unfehlbarkeit auf dem Gebiet der Glaubens- und Moralfragen. Hier werden für eine unfehlbare Definition drei Voraussetzungen formuliert: (1) Der Papst spricht explizit als oberster Hirte der gesamten Kirche, nicht z. B. als privater Theologe oder „nur“ als Bischof von Rom; (2) er erklärt seine Entscheidung als verbindlich für die gesamte Kirche; (3) er spricht „kraft seiner höchsten Apostolischen Autorität“ und beendet damit eine theologische Debatte. Solcherart ausgesprochene Definitionen sind dann „aus sich heraus“ unabänderlich, nicht, weil irgendjemand seine Zustimmung gegeben hätte. Freilich ergaben die Diskussionen um die Interpretation des Dogmas in den Monaten und Jahren danach wichtige Klärungen, mit denen sich auch Pius IX. einverstanden zeigte: Der Papst bleibt an die Lehrtradition der Kirche gebunden und soll die Unfehlbarkeit einsetzen, um die Offenbarung auszulegen und den Glauben der Kirchen zu bewahren. Insofern zielt die Lehre von der Unfehlbarkeit gerade nicht auf die willkürliche Produktion neuer Dogmen ab, sondern hat grundsätzlich konservativen Charakter. Entsprechend bewahrheiteten sich Hoffnungen oder Befürchtungen, der Papst werde nun regelmäßig mit unfehlbaren Entscheidungen aufwarten, gerade nicht; seit 1870 gab es nur eine unfehlbare Definition, diejenige der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel durch Pius XII. im Jahr 1950.

3. Nachwirkungen im 20. Jahrhundert und in der Gegenwart

Vielleicht ist es bezeichnend, dass das Erste Vatikanische Konzil nie formell abgeschlossen wurde – aufgrund der Einnahme Roms durch die Truppen der italienischen Einigungsbewegung infolge des deutsch-französischen Krieges wurde es im Herbst 1870 ausgesetzt und nie wieder aufgenommen. Die Beschlüsse des Ersten Vatikanischen Konzils legten den Katholizismus weltweit auf die ultramontane Linie fest: Die Betonung des Autoritätsprinzips und die Konzentration auf den Papst prägten die Kirche fortan. Überspitzt formuliert sollte die Kirche zum einheitlichen antimodernen „Kampfverband“ unter der monarchischen Leitung des Papstes werden. Gerade die strikte Betonung von Autorität und Gehorsam dienten dabei der (beabsichtigten) Immunisierung gegen eine Krise wie die eingangs beschriebene der Epoche um 1800.

Dies belastete das Verhältnis der Kirche zu den Staaten; in Preußen etwa fragte Otto von Bismarck, ob ein Katholik nach dem Konzil seinem Kaiser oder einer auswärtigen Macht gehorchen werde. Diese Frage stand – neben anderen Aspekten – am Beginn des Kulturkampfs in Preußen. Die innerkirchliche Opposition wandte sich ebenfalls gegen die Papstdogmen; hierin spiegelte sich die Position der Minderheit auf dem Konzil. Nur teilweise konnten diese Skeptiker mit den Ergebnissen des Konzils versöhnt werden, andere fanden sich in der christ- bzw. altkatholischen Kirche zusammen, die sich im Lauf der 1870er Jahre formierte.

Mit Blick auf seine Nachwirkungen seien jedoch drei andere Aspekte des Konzils benannt: Erstens wurde schon das Konzil von dem scharfen Kontrast zwischen den Parteien für und gegen die Unfehlbarkeitsdefinition geprägt, Vermittlungen durch eine dritte Partei hatten keine Chance. Zweitens prägte und normierte das Konzil zumindest implizit den Zugang zu theologischen Fragen, indem die neuscholastische Theologie seiner Ausrichtung angemessen schien und seine Tendenz zur theologischen Abschottung sich mehr und mehr durchsetzte. Drittens – und hauptsächlich – prägte das Konzil ein Kirchenbild, das Kirche exklusiv vom Amt her dachte: Kirche konnte mit ihren Amtsträgern gleichgesetzt werden; erst das Zweite Vatikanische Konzil (1962–65) sollte diese Schieflage zumindest theologisch zurechtrücken: Es definierte Kirche in erster Linie als Gemeinschaft der Glaubenden und ordnete das Amt in diese Gemeinschaft ein.
 

a) Ein Indiz: Bewertungen der Diözesansynode von Meißen (1969–71)

Die Kirche durch ein striktes Autoritätsprinzip gegen die „feindliche Welt“ zu immunisieren, diese Strategie dürfte nur in der Auseinandersetzung mit den Totalitarismen des 20.  Jahrhunderts wirklich fruchtbar gewesen sein. Dass sie ansonsten nicht aufging, zeigt sich an der länderübergreifend zu beobachtenden Krise der kirchlichen Autorität seit den 1960er Jahren. Von ihr waren vor allem die Priester betroffen, zumal das Zweite Vatikanische Konzil bezüglich des Priesteramtes den Akzent vom eucharistischen Opfer als zentraler Kulthandlung zu Verkündigung und Leitung verschoben hatte – und damit nicht unschuldig an einer priesterlichen Identitätskrise war. Von den nachkonziliaren Synoden, die sich um 1970 mit dem Thema auseinandersetzten, sei hier die Diözesansynode von Meißen (1969–71) herausgegriffen. Das Priesteramt wurde hier anhand der Leitbegriffe „Brüderlichkeit“ und „Partnerschaftlichkeit“ beschrieben, was für die Autorität des Priesters (und jedes Amtsträgers) zweierlei Folgen hat: Erstens ist sie eingebettet in ein System von wechselseitiger Information, Beratung und Kritik, der Priester also nicht als autoritärer Einzelkämpfer konzipiert, sondern in die Gemeinde eingebettet. Wer in diesem kommunikativen System Autorität genießen will, muss sie sich verdienen, denn die Qualität eines Arguments hat mehr Gewicht als die Position dessen, der es äußert. Zweitens soll die Ausübung jeder Autorität auf Christus als Quelle jeder Autorität in der Kirche verweisen, so dass sie ebenso wie das Gehorchen eine zutiefst geistliche Dimension bekommt.

Da die Grundlagentexte und Beschlüsse der Synode auf Skepsis stießen, gab man Gutachten bei einigen westdeutschen Theologen in Auftrag. Während u. a. Walter Kasper und Joseph Ratzinger ihre Übereinstimmung mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil feststellten, argumentierten Leo Scheffczyk und Georg May deutlich skeptischer. Bezeichnend ist eine Passage aus Mays Gutachten: „Die Ausdrücke ‚Partnerschaft‘ und ‚öffentliche Meinung‘ […] bleiben in all der gefährlichen Unbestimmtheit stehen, die der Ansatzpunkt für Schwätzer, Gschaftlhuber [sic!] und Diversanten ist. Daß ‚aus Einsicht und Urteil aller Glieder der Kirche eine öffentliche Meinung wachsen‘ könne, die ‚dem Geist Christi Raum‘ gebe (Beschluß 13), ist eine der ärgsten Utopien dieses an krassen Verzeichnungen der Lage gewiß nicht armen Dokumentes. Was der Herr Jedermann denkt und will, das wissen wir Seelsorger sehr genau. Wir sollen ihn lehren, was er denken und wollen soll“ (Grande/Straube 2005, 139). Hier wird also das Autoritätsprinzip des 19. Jahrhunderts konsequent angewandt und als Maßstab für die Kirche propagiert.
 

b) Das Erste Vatikanische Konzil und der Synodale Weg

Die Parteiungen, die sich im 19. Jahrhundert zeigten und die beiden vatikanischen Konzilien prägten, scheinen in der Gegenwart keineswegs verschwunden, wie sich an den Debatten um den Synodalen Weg ablesen lässt. Es sei an den Auslöser erinnert: Der Skandal des massenhaften geistlichen und sexuellen Missbrauchs in der Kirche besteht nicht nur in dem Missbrauch an sich, sondern gerade auch in den begünstigenden Strukturen: Die Überhöhung des Priesters und seiner Autorität, die sich im Ersten Vatikanischen Konzil nur implizit andeutet, aber fest zum Bestand ultramontaner Theologie gehört, gehört ebenso dazu wie unzureichend eingehegte Leitungsmacht in Gesamt- und Ortskirchen. Die Grundfragen, die sich aus all dem ergeben, weisen über die Situation eines Landes deutlich hinaus, stehen aber in einem engen Zusammenhang mit den Festlegungen des Ersten Vatikanischen Konzils: Wie viel Einheitlichkeit braucht die Einheit der Kirche? Ist kirchliche Lehre wandelbar – und wo liegen Grenzen von Wandelbarkeit? Inwieweit kann, darf und muss die an sich durchaus legitime und im Amt begründete Machtausübung von Amtsträgern begleitet, kontrolliert und begrenzt werden?

Während die Zentrierung der Kirche auf die Autorität der Amtsträger im 19. und in Teilen des 20. Jahrhunderts zweifellos zur inneren Festigung des Katholizismus beigetragen hat, erweist sie sich in der Gegenwart als Krisenbeschleuniger. Die Partei derjenigen, die Kirche – zugespitzt formuliert – als vom Klerus zu dirigierende Institution zur Weitergabe eines feststehenden Glaubensgutes aufgrund von Autorität konzipieren, zeigt ihre tiefe geistige Verbundenheit mit den Konzeptionen des Ersten Vatikanischen Konzils deutlich. Ihre Ablehnung von Reformideen als „Protestantisierung“ der Kirche belegt dies obendrein – denn auch dieser Vorwurf stammt aus dem 19. Jahrhundert. Umso wichtiger erscheint es, die Texte von 1870 konsequent im Licht des Zweiten Vatikanischen Konzils zu lesen: Kirche ist nicht nur der Klerus – Kirche besteht in erster Linie aus denen, die in Taufe und Firmung mit Christus zu Priestern, Königen und Propheten gesalbt sind. Die Autorität ihrer Amtsträger ist dann nicht Herrschaft über Untertanen, sondern Dienst an der Gemeinschaft.