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Was die Kirche von (ihren) digitalen Communitys lernen kann

Dezentral entstehen sie und organisieren sie sich im Netz, die neuen Formen von Community. Und sie sind eigentlich nicht steuer- und kontrollierbar, sondern entstehen in Eigenverantwortung und mit alternativen Inhalten und Ästhetiken. Der Blick auf digitale Communitys, die mehr oder weniger auf Glauben und verfasste Kirche bezogen sind, zeigt, welche Möglichkeiten, aber auch welche Konfliktfelder für eine hierarchische und auf die Wahrheit der „rechten Lehre“ orientierte Glaubensgemeinschaft daraus erwachsen. Aber die Zahnpasta ist aus der Tube gedrückt …

Spätestens seit der Nutzung von Social Media tauschen sich Christ:innen in digitalen Communitys über ihren Glauben aus. Diese kleinen spirituellen Gemeinschaften im Netz sind für die verfasste Kirche zukunftsweisend. Digitale Communitys sind dynamische Interessengruppen, die sich zum Beispiel über Social Media im Internet organisieren. Sie sind oft agiler unterwegs als institutionalisierte Gruppen wie Parteien, Gewerkschaften oder Kirchen. Was können die Kirchen von den digitalen Communitys lernen? Um das herauszufinden, möchte ich verschiedene Communitys im digitalen Raum vorstellen, die einen Bezug zu Kirche und Glauben haben. Nach jedem Beispiel werde ich resümieren, was die Kirche von der digitalen Community lernen kann.

Die Exvangelicals

2016 begann der US-Amerikaner Blake Chastain, unter dem Hashtag #exvangelical auf Twitter über seine Erfahrungen mit dem Ausstieg aus einer evangelikalen Gemeinde zu berichten. Auf Facebook und Twitter begab sich Chastain auf die Suche nach anderen Aussteiger:innen aus der evangelikalen Szene. Wenig später startete er den „Exvangelical Podcast“, um im digitalen Raum einen sicheren Ort (safe space) für die Erfahrungen der „Exvangelicals“ zu schaffen (vgl. Onishi 2019).

Die Selbstbezeichnungen #exvangelicals, Ex-Evangelikale oder Post-Evangelikale stehen für Menschen, die auf freiwillige oder unfreiwillige Weise eine evangelikale Gemeinschaft verlassen haben. Oft bedeutet das nicht nur, die Zugehörigkeit zu einer Kirche zu verlieren, sondern auch zu einem Freundeskreis, der Familie oder sogar der Ausbildungs-/​Arbeitsstätte. Auf seinem Blog erklärt Chastain, dass die Zugehörigkeit zu einer evangelikalen Gemeinschaft häufig auf der Annahme spezifischer Ansichten zu Bibelverständnis, Geschlechterverhältnis, Sexualmoral und Politik beruhe. Die Gründe zu gehen seien daher vielfältig: Liberalisierung der eigenen Theologie, Probleme mit beobachtetem Rassismus, Sexismus, mit Homophobie oder Transfeindlichkeit sowie andere, persönliche Gründe. Nach dem Verlassen einer evangelikalen Gemeinschaft bleibe oft ein Gefühl der Isolation zurück, bedingt durch das Wegbrechen des persönlichen Unterstützungsnetzwerks (vgl. Chastain 2019).

Dieser Leerstelle begegneten Chastain und seine Mitstreiter:innen mit der Schaffung einer neuen Community: den Exvangelicals. Das Besondere an dieser Community ist, dass sie nur durch soziale Netzwerke und digitale Medien entstehen konnte und sich inzwischen von den USA aus auch in andere Teile der Welt ausgebreitet hat, so auch nach Deutschland. Hierzulande sind es Podcasts wie Worthaus, Das Wort und das Fleisch, Freestyle Projekt oder Hossa Talk mit den dazugehörigen Facebook-Gruppen, Blogs und Foren, die Menschen vernetzen, die Erfahrungen mit dem Ausstieg aus einer evangelikalen Gemeinschaft gemacht haben. Sie leisten Aufklärungs-, Bildungs- und manchmal sogar Versöhnungsarbeit – vor allem aber vernetzen sie Gleichgesinnte und geben ihnen das Gefühl, nicht allein zu sein.

Genau das hatte Blake Chastain mit #exvangelical im Sinn: „It helps to know you aren’t alone […] One of the most common refrains from people who’ve discovered exvangelical community and content online is ‘I felt like I was the only one; now I don’t feel so crazy.’“ (Chastain 2019). Es sei aber nicht das Ziel, dass dabei eine neue Kirche entstehe, die wiederum Loyalität oder Leistungen von ihren Mitgliedern abverlangt, so Chastain. Es handele sich vielmehr um eine lockere Community, in die man beliebig kommen und gehen kann. Manche Exvangelicals sind noch immer Christinnen und Christen, andere Agnostikerinnen, Atheisten oder spirituell auf der Suche. Was die Community neben den geteilten Erfahrungen zusammenhalte, seien Werte wie Chancengleichheit, LGBTQ-Freundlichkeit, Antirassismus und soziale Gerechtigkeit (vgl. Chastain 2019).

Evelyne Baumberger schreibt in einem Blogbeitrag bei RefLab, einem Projekt der Reformierten Kirche Zürich, über die Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit in einer freikirchlichen Gemeinde: „In meinen Zwanzigern fühlte ich mich in dieser Situation noch sehr alleine. Mittlerweile gibt es Social Media und sehr viele Podcasts, Blogs und Instagram-Accounts von Post- und Ex-Evangelikalen. Es sind so viele, dass sich innerhalb der evangelikalen Welt Gegenbewegungen formieren […] Tatsächlich hängt es maßgeblich damit zusammen, wie das Umfeld auf die Fragen, Zweifel und Kritik reagiert, ob die Dekonstruktion einen zur «Post-» oder zur «Ex-Evangelikalen» macht. Ob man also nach der Krise eine neue Art von Glauben findet, oder sich ganz vom Christentum verabschiedet“ (Baumberger 2021).

Das kann die Kirche von den Exvangelicals lernen: Sichere Räume (safe spaces) offen zu halten, um Zweifel zu äußern, Strukturen zu hinterfragen, Opfer anzuhören und ihre Geschichten zu würdigen – digital und lokal. Die Exvangelicals haben solche Räume in ihren Kirchen und Gemeinschaften vergeblich gesucht und sie darum selbst gegründet.

Ökumenische Netzgemeinden

Christliche Gemeinschaft, Gottesdienste und Seelsorge im Netz – das gibt es nicht erst seit der Corona-Pandemie. Drei Netzgemeinden zeigen, wie der digitale Raum dazu verhilft, Ökumene zu leben.
 

Die Netzgemeinde da_zwischen

Die Netzgemeinde da_zwischen ist nach eigenen Angaben ein „Erprobungsraum für digitales, zeitgemäßes Christsein“. Diakon Tobias Wiegelmann ist einer der Mitinitiatoren der Community und erklärt bei DOMRADIO.DE: „Das Grundkonzept ist, dass wir montags und freitags einen Impuls über die klassischen Messenger senden. Montags gibt es einen Impuls, der so ein bisschen zum Nachdenken über den Glauben anregt. Freitags sammeln wir das zusammen. Wir haben in der Coronazeit Gottesdienstformate entwickelt, das heißt, wir feiern Gottesdienste am Smartphone. Das funktioniert tatsächlich sehr wortbasiert, wie es in den Messengerdiensten so möglich ist: mit Wortbild, Audioimpulsen, manchmal mit Liedern. Da regen wir die Nutzerinnen und Nutzer an, sich selber einzubringen, zu antworten. Es ist im Grunde dialogisch“ (Wiegelmann 2021).

Das Bistum Speyer hat da_zwischen 2016 gegründet, mittlerweile sind 3.500 Personen verschiedenster Konfessionen Teil der Community und die Bistümer Würzburg, Köln und Freiburg haben sich dem Projekt angeschlossen (vgl. Wiegelmann 2021). Zuletzt war da_zwischen für den „Smart Hero Award“ nominiert, eine Auszeichnung für Engagement und Social Media der Stiftung digitale Chancen und Facebook. „Die Netzgemeinde macht eindrucksvoll vor, wie tradierte Konzepte und Rituale in den digitalen Raum übertragen werden können“, so die Nominierung für den Award (Netzgemeinde da_zwischen 2021).
 

Brot & Liebe – Geschichten aus dem Leben

Das Projekt „Brot & Liebe – Geschichten aus dem Leben“ aus Berlin und Zürich sagt von sich: „Brot & Liebe ist gelebte Ökumene im digitalen Raum: zwei Länder, zwei Kirchen, ein Projekt“. Jede zweite Woche findet am Sonntag um 20 Uhr ein Zoom-Gottesdienst statt, dort werden Geschichten erzählt und Brot gebrochen. Die Einladung lautet: „Wer auch immer du bist und was auch immer dich ausmacht: So, wie du bist, bist du genau richtig. Gesehen, geliebt, willkommen. Wir freuen uns auf dich!“ Zu den Initiator:innen zählen unter anderen Theresa Brückner, Pfarrerin im Digitalen Raum aus Berlin, und Simon Brechbühler, Ecclesiopreneur in Zürich.
 

Das Feministische Andachtskollektiv [fAK]

Das Feministische Andachtskollektiv [fAK] ist eine Gruppe junger Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen, die seit 2020 Andachten aus feministischer Perspektive auf Instagram feiert. Die Leerstelle, die die Gruppe beim Thema Netzfeminismus, Body-Positivity und Gender-Gap in der Kirche spürte, motivierte sie dazu, gemeinsam etwas Neues zu schaffen, eine eigene Community (vgl. FAK 2021). „Die intersektional feministische Stimme der Kirche, die uns vertritt, war für viele von uns kaum hörbar. Also fingen wir an, sie laut und stark zu machen“, so Lisa Quarch und Veronika Rieger von [fAK] auf feinschwarz.net (Quarch/ Rieger 2021).

Danach gefragt, warum Instagram der richtige Ort für sie ist, antworten [fAK]: „Instagram händigte uns ohne Fragen nach Konzept und ohne Pflicht uns festzulegen einen Kirchenschlüssel aus, wir sperrten auf und unsere Verbündeten kamen neugierig herein. Am Altar stehen wir alle, gleichzeitig und parallel und niemand steigt sich dabei auf die Füße, denn es gibt wenig hierarchische Strukturen, wenn man sie sich nicht selbst auferlegt“ (ebd.).

Dass das Kollektiv ökumenisch ist, war nicht einmal geplant, für die Initiator:innen ist es inzwischen eine Selbstverständlichkeit. „So einfach kann Ökumene sein, wenn es keine Regeln gibt und der gemeinsame Antrieb groß genug ist. Dabei gibt es natürlich immer wieder mal Differenzen und unterschiedliche Ansätze, in denen auch unsere konfessionelle Prägung sichtbar wird. Das bereichert unseren kreativen Prozess und bremst ihn nicht aus, denn unterschiedliche Perspektiven auf religiöse Themen ist eine Stärke, die uns groß macht“ (ebd.).
 

Das kann die Kirche von ökumenischen Netzgemeinden lernen: Hier wird im digitalen Raum zeitgemäßes Christsein gelebt und dazu gehört für die Initiativen ganz selbstverständlich die ökumenische Ausrichtung ihrer Communitys und die ökumenische Zusammensetzung ihrer Teams. Der digitale Raum hilft dabei, hinderliche Strukturen zu überwinden und Barrieren zur Gottesdienstgemeinde abzubauen. Den ökumenischen Netzgemeinden gelingt es, Christ:innen überregional und überkonfessionell zu vernetzen und die Vielfalt ihrer konfessionellen Hintergründe in den digitalen Formaten zu feiern.

Gamechurch

Laut „game“, dem Verband der deutschen Games-Branche, spielen rund 34 Millionen Deutsche Video- und Computer-Spiele über das Internet (vgl. Echtler 2019). In so manchen christlichen Gemeinschaften wird dem Thema Online-Gaming allerdings mit Skepsis oder Ablehnung begegnet. Diese Erfahrung machten die Gründer der Gamechurch in den USA. Die Mission der Gamechurch ist es, als Gamer:innen innerhalb der Christenheit sichtbar zu werden (vgl. Baumann 2019): „Gamechurch exists to bridge the gap between the gospel and the gamer“ – das geschieht online z. B. durch eine Facebook-Gruppe, einen Discord- und einen Minecraft-Server sowie auf lokalen Veranstaltungen wie Spielemessen (Gamechurch 2021).

Der deutsche Zweig der Gamechurch wurde 2014 von Daniel Schmidt gegründet. Heute leitet er den daraus hervorgegangenen Verein Main Quest Ministries. Die Initiative ist auf Computerspielmessen wie z. B. der Gamescom in Köln, betreibt eine Online-Community und das soziale Projekt „Arena“, einen offenen Spielertreff mit PCs und Spielkonsolen (vgl. Baumann 2019).

Main Quest Ministries bezeichnet sich als „Community für nerdige Christen“, die Initiator:innen wollen die Relevanz der sogenannten Nerdkultur im christlichen Kontext stark machen und sagen: „Lass dich ermutigen und ausrüsten, damit noch mehr Nerds hören, dass Gott sie liebt“ (Main Quest 2021). Zu ihren Angeboten gehören verschiedene Community-Spaces auf Discord-Servern (die von Gamer:innen präferierte Vernetzungsplattform), die Gaming-Konferenz „Level Up“ in Kooperation mit dem CVJM, Toolguides z. B. dazu, wie man ein Videospielturnier und Andachten als #MidweekMeditation auf Instagram organsiert (vgl. ebd.). Daniel Schmidt geht es bei seiner Initiative „nicht ums Missionieren, sondern darum, Vertrauen aufzubauen. Kirche und Spielen geht für viele nicht zusammen. Dass es doch funktionieren kann, wollen Daniel Schmidt und seine Mitstreiter zeigen“ (Echtler 2019).

Das kann die Kirche von der Gamechurch lernen: Jesus hätte sich wahrscheinlich für die „Nerds“ an den Rändern der (kirchlichen) Mainstream-Kultur begeistert. Das kann Kirche also von der digitalen Community ihrer Gamer:innen lernen, diese Kultur einzubeziehen, verstehen zu lernen, spielerisch auszuprobieren und nicht auszuschließen, „damit noch mehr Nerds hören, dass Gott sie liebt“, wie es sich der Verein Main Quest Ministries zur Aufgabe gemacht hat (Main Quest 2021).

Fazit

Es gibt noch viele weitere Beispiele digitaler Communitys, von denen Kirche lernen kann. Etwa „Anders Amen“, die auf YouTube einen Ort für Christ:innen in der LGBTQ-Community geschaffen haben, oder die @insta_diakoninnen, ein Gemeinschafts- und Unterstützungsnetzwerk von Diakon:innen der digitalen Kirche auf Instagram. Doch bereits an den Communitys der Exvangelicals, der ökumenischen Netzgemeinden und der Gamechurch zeigt sich, wo Chancen und Inspiration für die Kirche liegen: an den Rändern des kirchlichen Mainstreams, in der Ermöglichung sicherer Räume (safe spaces), wo Kirche sich öffnet und verletzlich zeigt, in der Durchlässigkeit und Barrierefreiheit der Angebote und in der ökumenischen Gemeinschaft von Christ:innen.