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Studientag Nähe und Weite statt Enge und Ferne

Zu den Chancen großer pastoraler Räume für eine missionarische Pastoral

2015 hat sich die Katholische Arbeitsstelle für missionarische Pastoral (KAMP) in einer Ausgabe der Reihe KAMP kompakt dem Thema der gro­ßen pastoralen Räume gewidmet. Dabei geht es um die Herausforde­run­gen, in Großpfarreien bzw. Seelsorgeverbünden nicht die „herkömmli­che“ Form der Seelsorge beizubehalten, sondern zu neuen Bildern und neuen Formaten von Kirche zu kommen. Die vorgelegte Pilotstudie fragt exemplarisch nach den Erfahrungen sowie den Kriterien und Bedingun­gen, unter denen die neue Struktur der größeren pastoralen Räume als zukunftsfähig wahrgenommen wird. Was braucht es, damit in den grö­ßeren pastoralen Räumen eine Pastoral gelingen kann, die das Evange­lium deutlicher zum Tragen bringt? Konkret wurden Fusionspro­zesse von ehemals selbständigen Pfarreien zu größeren Einheiten in deut­schen (Erz-)Bistümern untersucht. Dafür wurden in neun Pfarreien aus unterschiedlichen Regionen Deutschlands Interviews durchgeführt, um Hypothesen für Bedingungen und Kriterien gelingender Pastoral in diesen großen Pfarreien zu formulieren. Um die Ergebnisse dieser Stu­die zu diskutieren, hatte die KAMP am 10. November 2015 zu einem Studientag nach Frankfurt/M. geladen, dem ca. 40 Fachvertreter, Prak­tiker und Interessierte gefolgt sind.

Zu Beginn wies Dr. Hubertus Schönemann, Leiter der KAMP, in seiner Vorstellung der Pilotstudie darauf hin, dass die in den Interviews gestell­ten Fragen die Interviewpartner in den Pfarreien z. T. erstmals zur einer Reflexion über die im Hintergrund der Fusionsprozesse stehenden pas­to­­ralen Grundfragen anregt hatten. Darüber hinaus wurde immer wieder deutlich, dass zumeist Priestermangel, Gläubigenmangel und Geldman­gel als (von hauptamtlicher Seite kommunizierte) Begründungen für die Fusionen angegeben werden. Dass soziokulturelle Veränderungen oder eine neue Art, Kirche zu sein, im Hintergrund der „Fusionen“ stehen, wurde nicht aufgeführt – oder aber nicht geglaubt. Wahrgenommen wur­de eher eine Verwaltung des Mangels. Im Anschluss an Papst Fran­zis­kus warb Schönemann für einen pastoralen Mentalitätswandel, in der die Pfarrei, gerade weil sie eine große Formbarkeit besitzt, keine hinfälli­ge Struktur ist (Evangelii gaudium 28). Diese Überlegungen finden wie­derum Anknüpfungspunkte im Papier der deutschen Bischöfe Gemein­sam Kirche sein (2015), das u. a. die gemeinsame Berufung aller Christen zur Heiligkeit und die vielen Charismen als Reichtum der Kirche betont.

Die Studie mache darüber hinaus, so JProf. Dr. Bernhard Spielberg (Frei­burg) in seinem anschließenden pastoraltheologischen Kommentar, die Versuchungen deutlich, den „Hereinforderungen“ der neuen Strukturen zu erliegen und eben diese Strukturen zum Selbstzweck zu machen. Auch wird die Unklarheit der Rollen aller Mitarbeiterinnen und Mitar­bei­ter, der leitenden Pfarrer, der nichtleitenden Priester und der haupt­beruflichen Laien dokumentiert: „Sie alle müssen sich neu erfinden.“ Leider zeigt sich zumeist, dass die „großen pastorale Räume“ nur kleine Spielräume für kreativ Unzufriedene bieten. Insgesamt ist die Studie so ein Beleg dafür, dass eine entscheidende Frage vor Ort oft nicht gestellt wird: Wozu ist die Kirche da? In einem solchen Blick auf die „Kirche in der Welt von heute“ wies Spielberg im Anschluss an Markus Gabriel darauf hin, dass von „der Welt“ nicht mehr ausgegangen werden kann. Vielmehr gibt es „unendlich viele Welten, die sich teilweise überlappen, teilweise aber in jeder Hinsicht voneinander unabhängig sind“.

Als pastoralpraktische Ergänzung folgten Repliken aus verschiedenen Bistümern. So wies Andreas Fritsch, Münster, darauf hin, dass die Verän­de­rung der Pfarrstrukturen oft dem Versuch der Aufrechterhaltung einer alten Territorialstruktur im Sinne des absolutistischen Raumverständ­nisses geschuldet ist. Wichtiger als alle Strukturen aber sind für eine missionarische Pastoral, deren Anliegen es ist mitzuhelfen, dass Leben gelingen kann, dementsprechende Haltungen. Auch konstatierte Fritsch, dass „der Mehrwert von Zusammenführungen erhofft, aber nicht erlebt wird“. Dies hänge damit zusammen, dass dem Klostermannschen Ideal der Pfarrfamilie „bestenfalls rhetorisch, aber (noch) nicht pastoralprak­tisch ein neues Bild von Pfarrei und Gemeinde“ entgegengesetzt werden kann. Wenn sich der erhoffte Mehrwert doch realiter bewahrheitet, dann dort, wo größere Pfarreien sich als Teil eines Netzwerkes verstehen, in dem es primär um die Themen und Bedürfnisse der Menschen am Ort geht. Aufgabe der Ordinariate sei es dann, so Fritsch, diese Erfahrungen und Prozesse öffentlich zu machen, zu vernetzen und „massiv zu unter­stüt­zen“. Martin Wrasmann, Hildesheim, bezeichnete die Bezeichnung „große pastorale Räume“ in der Sache als nicht sinnvoll, da die Men­schen nicht in solchen Gebilden leben würden. Sie leben vielmehr im Nah­bereich, in Nachbarschaft. Dort ordnen sich auch die Hildesheimer Er­fah­rungen in den Prozess lokaler Kirchenentwicklung ein, der u. a. ver­sucht, Kirche nicht in schlechthinniger Abhängigkeit von der Zahl der Priester zu denken: „Priester sind wichtig, grundlegend ist die Taufe“ (Bischof Norbert Trelle). So finden sich bereits heute im Bistum ca. 70 lokale Leitungsteams sowie eine Vielzahl von Hauptamtlichen, deren Aufgabe es ist, diese ehrenamtlichen Leitungsteams zu begleiten. Die Bistumsleitung gibt hierfür einen Vertrauensvorschuss. So verändert sich insgesamt das Bewusstsein des Kircheseins, was sich beispiels­wei­se in der Frage ausdrückt, „ob die Armut auf dem Gebiet der Pfarrei ge­ringer geworden ist“, statt immer nur die Zahl der Gottesdienstbesucher in den Blick zu nehmen. Dr. Thomas Kiefer zog sein Resümee auf dem Hin­tergrund des Speyrer Seelsorgekonzeptes „Gemeindepastoral 2015“. Als Kriterien für die Erneuerung der Pastoral werden dort genannt: Spiri­tualität, Evangelisierung, Anwaltschaft und die weltweite Kirche. Für die Struktur der Seelsorge bedeutet dies eine Unterscheidung zwischen Pfar­rei, Gemeinde und Gemeinschaften, wobei die Pfarrei als „territoria­le Organisations- und Verwaltungseinheit, als Erfahrungsraum von Fül­le, als Garant für die Bereitstellung von Dienstleistungen und Standards für die Grunddienste“ betrachtet wird. Gemeinde aber ist so „zu verste­hen als Versammlung von Christinnen und Christen um Jesus Christus. Dort leben und feiern sie ihren Glauben, geben Zeugnis in Tat und Wort und sind so nahe bei den Menschen in und für die Gesellschaft.“ Im Rah­men der Entstehung des Seelsorgekonzeptes „Gemeindepastoral 2015“ wurde zudem deutlich, dass die Wichtigkeit der Visionsarbeit nicht zu unterschätzen ist. Jedoch besteht oft die Gefahr, in der Analyse „stecken zu bleiben“, ohne die notwendigen weiteren Schritte zu gehen.

Im An­schluss an die Repliken aus den Bistümern widmeten sich vier Arbeits­gruppen den Fragen und Erfahrungen nach neuen Rollenanfor­derungen in den großen pastoralen Räumen, nach den Entstehungs­bedingungen neuer pastoraler Orte, nach neuen Formaten der Glau­bens­teilhabe und -verkündigung und schließlich der Frage der pastoralen Qualität.

Insgesamt bleibt die Frage einer gelingenden pastoralen Umsetzung in den „Welten von heute“ auch nach diesem Studientag Aufgabe und Lern­­weg der Kirche. Deutlich geworden ist aber, dass die Frage nach gro­ßen pastoralen Räumen nicht allein als Strukturfrage diskutiert werden kann, was auch die Gefahr einer ekklesialen Selbstreferenzialität bannen könnte. Die Frage der Pastoral in großen Räumen ist nur im Rahmen ei­ner Kirchenentwicklung zu stellen und zu beantworten, die den Zeichen- und Werkzeugcharakter der Kirche (Lumen gentium 1) ernst nimmt und sich mit Gelassenheit und im Vertrauen auf Gott auf den Weg macht, um auszuloten, warum und wozu die Kirche eigentlich da ist. Dass die­ser Weg aber kein gemütlicher sein kann, daran hat schon Karl Rahner in seiner bekannten Auslegung der Perikope vom Sturm auf dem See (Mt 8,23–27) hingewiesen. Er fragte: „Sind nicht die guten Knechte des Herrn an Deck des Schiffes manchmal … zu nervös? Meinen sie nicht oft zu schnell und im letzten irrig, der Sturm wäre keine Bedrohung des Schiffes mehr, wenn an Bord alles in Ordnung wäre? … Der Sturm gehört zur Fahrt der Kirche durch die Geschichte. Friedliche Stille hat sich hin­ter­her allemal als die gefährlichste Zeit der Kirche herausgestellt. Es wurde dann noch mehr geschlafen als sonst.“ Und so fährt er fort: „Nur der soll die Kirche bessern wollen, der sich über den Sturm nicht wun­dert und seine Hoffnung auf nichts Irdisches setzt.“ In diesem Sinne ver­langt der Auftrag zur Gestaltung großer pastoraler Räume sicher auch eine geistliche Kompetenz, sich in eben diesen dem Neuen, bisher nicht im Blickfeld Befindlichen auszusetzen und die Welten von heute mit „ei­nem Blick des Glaubens [zu betrachten], der jenen Gott entdeckt, der in ihren Häusern, auf ihren Straßen und auf ihren Plätzen wohnt“ (Evangelii gaudium 71).

Download: KAMP kompakt 3: Nähe und Weite statt Enge und Ferne. Zu den Chancen großer pastoraler Räume für eine missionarische Pastoral