Relevanz und Mehrwert – wozu braucht Gesellschaft Kirche?
4. Kongress des Vereins „Strategie und Entwicklung in Kirche und Gesellschaft“
Der vierte Kongress des Vereins „Strategie und Entwicklung in Kirche und Gesellschaft“ Ende November in Bensberg – bereits inhaltlich vorbereitet durch die Ausgabe 2-2015 der Zeitschrift futur2 – vollzieht mit seinem Kongressthema einen Perspektivwechsel: Man geht nicht von der kirchlichen Binnenperspektive aus, die fragt, wie die christliche Botschaft in die Welt getragen werden kann, sondern von der Fremdperspektive: Welchen Wert oder Mehrwert hat Kirche für die Gesellschaft heute? Welchen Beitrag kann und soll Kirche für die Gestaltung der Gesellschaft leisten? Durchgespielt wurden diese Fragen anhand der Themen „Werte und Ethik“, „soziale Verantwortung/Teilhabe“ sowie „Sinn und Glück“.
Eine erste Antwort gab die Soziologin und Systemtheoretikerin Maren Lehmann (Friedrichshafen). Sie beschrieb die Frage „Wozu Kirche?“ als prekär, insofern es frustrierend ist, über Wozu-Fragen definiert zu werden: In solchen Fragen wird die Zukunft bereits als abgeschlossen insinuiert – und was passiert, wenn das Ziel erreicht ist? Lehmann riet der Kirche, einfache Funktionalisierungen und damit aktivistische Entscheidungs- und Handlungsorientierungen zu vermeiden. Der Glaube passe nicht zu der alteuropäischen modernen Strategie des Bewirkens. Kirche hat vielmehr andere Ressourcen, auf die niemand sonst trainiert ist, nämlich die Beziehungsgestaltung. Es geht in der Kirche, v. a. in der Seelsorge darum, Begegnungen zu arrangieren und zu gestalten, ohne dass es um die Qualität der beteiligten Personen geht (sondern um die Qualität der Beziehungen). Dass Seelsorger belastet oder überlastet sind, liegt aus systemtheoretischer Sicht in der Natur der Sache. „Dann ist man eben erschöpft – das macht aber nichts, denn dann kann man weitermachen. Wo steht eigentlich geschrieben, dass man fröhlich durch die Welt gehen muss?“ Es soll der Kirche also nicht um Ziele und Zwecke gehen, nicht um das Wozu, sondern um das Wie.
Harald Walach, Psychologe und Philosoph aus Frankfurt/O., vertrat die These, die Weiterführung der Aufklärung bringe Spiritualität als natürliche Basis von Religiosität zum Vorschein. Spiritualität definiert er als erfahrungsmäßigen Bezug des Individuums auf eine transzendente Wirklichkeit, die über seine unmittelbaren Bedürfnisse hinausgeht. Das Bedürfnis nach spiritueller Erfahrung versteht Walach als anthropologische Konstante, die gesellschaftlich jedoch mit einem Tabu belegt ist und auch kirchlicherseits skeptisch beäugt wurde und wird, was sich z. B. im kirchlichen Umgang mit mystischen Bewegungen widerspiegelt. Spirituelle Erfahrung ist mehrwertig und besitzt eine paradoxale Struktur, lässt sich also nicht propositional ausdrücken. Auch wenn Kirche und Theologie sich dieser Dimension eher schlecht angenommen haben, muss nach Walach spirituelle Erfahrung zur Basis kirchlicher Verkündigung und Praxis werden, wenn Kirche in der gegenwärtigen Gesellschaft noch eine nennenswerte Relevanz behalten soll.
Der religionspolitische Sprecher der bündnisgrünen Bundestagsfraktion, Volker Beck, sah den Mehrwert der Kirche für die Gesellschaft fraglos als gegeben an. Die Existenzberechtigung der Kirche leite sich nicht aus ihrer Wohlfahrtstätigkeit ab, sondern bestehe im Glauben: Der (christliche) Glaube vermittelt Gelassenheit und Zuversicht, den Wert des Menschen nicht an seiner Leistung festzumachen, sondern an sich zu sehen. Mission gehöre dabei zur Ausübung der (positiven) Religionsfreiheit. „Man muss sich seines Glaubens nicht schämen!“ Kirche soll aber keine Politik von der Kanzel betreiben; genauso wenig soll in der Politik mit der Bibel argumentiert werden, das wäre antidemokratisch. Kirche könne zwar für politische Ziele werben, dürfe dafür aber keine politischen Mittel einsetzen. Vor allem kann sie Sprachrohr für diejenigen sein, die keinen Anwalt haben.