Dynamische Religion
Zum internationalen religionswissenschaftlichen Kongress in Erfurt
Letztlich waren es doch nicht ganz 1500 Teilnehmer. Dennoch: Der 21. Weltkongress der International Association for the History of Religion (IAHR) präsentierte vom 23. bis 29. August 2015 die heutige Religionswissenschaft in ihrer ganzen Internationalität und thematischen Breite. Dass dieser nur alle fünf Jahre stattfindende Kongress diesmal in Erfurt und damit in einer eher beschaulichen (Groß-)Stadt zu Gast war, verwundert nicht, wenn man weiß, dass die dortige Universität mit dem großen religionswissenschaftlichen Institut, dem Max-Weber-Kolleg und der Katholisch-Theologischen Fakultät einen deutschlandweit einmaligen Schwerpunkt auf religionskundlichen Studien hat.
Auch die Vielzahl außereuropäischer Teilnehmer trug dazu bei, dass in den weit über 1000 Beiträgen die verschiedensten Formen von Religion in der Vergangenheit und Gegenwart in den Blick kamen – und das unter unterschiedlichsten Aspekten und Fragestellungen: von den „Weltreligionen“ über neue religiöse Bewegungen bis hin zu Säkularisierung, Atheismus und religiösen Versatzstücken etwa in Kinderspielzeug („Spiritual Lego“ war ein Beitrag zu Produktserien des bekannten Bausteinherstellers überschrieben). Somit war es ein sehr buntes, vielfältiges Programm, bei dem einzelne Panels (mit jeweils drei oder vier Präsentationen) auch den Charakter eines „Gemischtwarenladens“ hatten.
Dennoch bildete das Tagungsthema in lockerer Weise einen roten Faden: „Dynamics of Religion: Past and Present“ (Kongresssprache war Englisch!). Also Dynamiken und Veränderung von Religion auf verschiedenen Ebenen: die Anpassung von Religionsgemeinschaften an sich wandelnde gesellschaftliche Bedingungen, Innovationen und Umbrüche innerhalb dieser Gemeinschaften, das religiöse Individuum als wesentlicher Faktor für religiöse Dynamiken – und schließlich der Blick auf Wandlungen innerhalb der Religionswissenschaft.
Doch welche Anregungen und Denkanstöße bietet der Kongress für die Theologie und für die Kirche in Deutschland, die nicht umhinkommt, sich zunehmend als Teil einer großen, dynamischen religiösen Pluralität zu begreifen? Dazu einige Überlegungen, illustriert im Blick auf vom Berichterstatter besuchte Veranstaltungen, in denen gleichermaßen renommierte Professoren wie Nachwuchswissenschaftler vielfältige Impulse gaben.
Zwar war der Berichterstatter als Theologe nur Gast beim Kongress, doch erlebte er keine Vorbehalte, kein Bemühen um strikte Abgrenzung der Religionswissenschaft gegenüber der Theologie. Vielmehr wurden die thematische Nähe und die Überschneidungen immer wieder deutlich: etwa, wenn auch einige Theologen Beiträge zum Programm lieferten. Das Panel „Theologies and Religious Studies in postwar Germany“ thematisierte sogar explizit das Verhältnis von jüdischer, islamischer und christliche Theologie zu den Religionswissenschaften; dabei wurde deutlich, dass Unterscheidungskategorien wie „Innenblick (der Theologie) – Außenblick (der Religionswissenschaft)“ höchstens begrenzt greifen. Viele Religionsgemeinschaften haben gar keine akademische oder gar universitäre Theologie – das galt sogar bis vor kurzem für den Islam in Deutschland, wo dann die Islamwissenschaft ein Stück weit eine Ersatzfunktion erhielt. Auch wenn man nicht so weit geht und die Theologien in die „religious studies“ integriert, wie in einem Beitrag vorgeschlagen, so verweist der vom Wissenschaftsrat eingeführte Sammelbegriff „religionsbezogene Wissenschaften“ doch auf eine gemeinsame Aufgabe, nämlich angesichts einer zunehmend säkularisierten und zugleich religionspluralen Gesellschaft und angesichts verbreiteter religionskundlicher Unwissenheit Kompetenz vorzuhalten und zu einer fundierten öffentlichen Diskussion beizutragen.
Und noch eine andere Entwicklung verbindet die Religionswissenschaften zunehmend mit der Theologie: War Religionswissenschaft früher die Beschäftigung mit dem Exotischen, den religiösen Traditionen fremder, außereuropäischer Kulturen, denen man im Zuge des Kolonialismus begegnet ist, so nimmt sie heute ebenso zeitgenössische und „einheimische“ Formen von Religion in den Blick. In diesem Zuge etabliert sich auch eine Christentumsforschung, die allerdings zumindest im deutschen Kontext gegenüber den christlichen Theologien nur marginal ausgeprägt ist. Dennoch erlaubt dies eine wertvolle, ergänzende Perspektive, einen Fremdblick, der das Eigene mit neuen Augen sehen lassen kann. So befassten sich beim Kongress einige Beiträge auch mit Aspekten des Katholizismus, etwa mit katholischen Webforen und den darin vorfindlichen Argumentations- und Autoritätsstrukturen oder mit katholisch-esoterischen Grenzgängen. Aber auch der Arbeitskreis „Evangelikale, Pentekostale und Charismatische Bewegungen“ der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft stellte sich beim Kongress vor – dort wird derzeit überlegt, sich in Arbeitskreis Christentumsforschung umzubenennen.
Religion ist unglaublich vielfältig und nuancenreich und in fortwährendem Wandel – was gerade gegen alle fundamentalistischen Strömungen festgehalten werden muss. Diese Fülle und Dynamik hat auch der Kongress abgebildet. Und Kirche, Theologie und christlicher Glaube bewegen sich in dieser Fülle und Dynamik, wobei fortwährend Grenzen zwischen Religionen und religiös-weltanschaulichen Vorstellungssystemen überschritten werden. Das ist kein neues Phänomen, wie etwa ein Beitrag zur Rezeption des Mesmerismus (der Vorstellung eines „Heilmagnetismus“) im Katholizismus des frühen 19. Jahrhunderts schön illustriert hat. Doch in einer globalisierten Welt sind Gläubige noch viel stärker und häufiger der Begegnung mit anderen Religionen und fremden Religiositäten ausgesetzt – manchmal auch unbewusst oder beiläufig, etwa in Werbung und Produkten, die religiöse Versatzstücke aufgreifen. Religion ist auch in unserer zunehmend säkularisierten Gesellschaft ubipräsent. Eine Pastoral, die nicht nur die Zeichen der Zeit wahrnehmen, sondern die alltägliche (und außeralltägliche) Lebenswelt der Menschen unvoreingenommen als locus theologicus begreifen möchte, kommt nicht umhin, sich differenziert und tiefgehend mit dieser religiös-weltanschaulichen Vielfalt zu befassen – zu dem auch die religiös-weltanschauliche Vielfalt des Katholizismus gehört. Die Religionswissenschaften sind dafür eine unentbehrliche Hilfe.
Die ubipräsente Religion ist aber auch (wieder) ein öffentliches Thema – in zweierlei Hinsicht: zum einen ein Thema, das viele Menschen bewegt (leider oftmals gerade wegen bedrohlicher Erscheinungsformen, etwa religiös geprägter Terrorismus), zum anderen aber auch ein Thema, mit dem man sich in der Öffentlichkeit „sehen lassen kann“, weil unsere Gesellschaft offensichtlich trotz aller Säkularisierungstendenzen doch nicht ohne Religion auskommt (und das gilt erst recht, wenn man auf die Welt-Gesellschaft blickt!). Ein eindrucksvolles Beispiel dafür bot der Eröffnungsvortrag von Hubert Seiwert mit dem Beispiel eines Tempels in der Volksrepublik China, in dem (eigentlich religionsdistanzierte bis religionsfeindliche) staatliche Organe traditionelle Riten rezipieren und wiederbeleben und sich somit deren symbolische Macht aneignen. Die vielfältige Funktionalität von Religion (Kontingenzbewältigung, Sinnstiftung, soziales Engagement …) ist somit keineswegs obsolet. Vielmehr bricht Religiöses an den unterschiedlichsten und unerwartetsten Stellen immer wieder auf – und verbleibt keineswegs nur (wie von Säkularisten gewünscht) im privaten Raum: Im akademischen Raum bzw. mit wissenschaftlichem Anspruch begegnen uns heute nicht nur esoterisch-alternativmedizinische Vorstellungen, sondern auch – wie ein Kongressbeitrag thematisierte – die Matriarchatsbewegung mit Akteurinnen wie z. B. Heide Göttner-Abendroth, die aber mit ihren religiös-weltanschaulichen und politischen Vorstellungen deutlich die Grenzen des wissenschaftlich Fundierten überschreitet. Angesichts dieser Ubiquität und Unverzichtbarkeit von Religion darf auch Kirche sich durchaus im öffentlichen Raum zeigen und betätigen – selbstbewusst, aber auch im Bewusstsein darum, nur ein Akteur neben vielen anderen zu sein.
Öffentlich präsente Religion erfordert aber auch die Fähigkeit in der Gesellschaft, damit umzugehen, und somit entsprechende Kenntnisse über Religion. Religionswissenschaft produziert zwar entsprechende Wissensbestände und hält diese vor – diese in die Medien als Vermittler einfließen zu lassen, ist aber nicht nur wegen mangelnder Medienfähigkeit vieler Wissenschaftler, sondern auch wegen der Eigengesetzlichkeiten heutiger Medien schwierig, wie bei einer Podiumsdiskussion deutlich wurde. Wenn Journalisten teilweise einen defizitären impliziten Religionsbegriff und vorgeprägte Wertungen von Religion haben, so liegt dies wohl auch an Narrativen, wie sie Wouter Hanegraaff in einem Hauptvortrag dargestellt hat: Erzählungen, die zwar historische Fakten aufgreifen, aber daraus eine eingängige Fiktion stricken – etwa die „Aufklärungserzählung“, die den Aufstieg der heilsamen Erleuchtung durch Renaissance-Humanismus und Aufklärung nach dem finsteren, durch Religion geistig verengten Mittelalter imaginiert. Das Image von Religion im Allgemeinen und von einzelnen Religionen im Speziellen steuert also die öffentliche Wahrnehmung und Behandlung von Religionsgemeinschaften und Gläubigen wesentlich – die darauf teilweise mit einer bewussten Steuerung ihrer öffentlichen Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit reagieren (z. B. durch Zeigen oder Verbergen von religiösen Symbolen), wie Kim Knott in einem weiteren Hauptvortrag aufzeigte.
Im Interesse des gesellschaftlichen Zusammenhalts und des friedlichen Zusammenlebens in Deutschland und in Europa, das durch Radikale verschiedenster Couleur gerade aktuell stark gefährdet ist, ist nicht nur ein theoretisches, sondern auch ein praktisches Wissen für einen guten Umgang mit religiös-weltanschaulicher Pluralität dringend erforderlich. Hier liegt meines Erachtens trotz aller Unterschiedlichkeit und unter Wahrung der jeweiligen Eigenständigkeit eine gemeinsame Aufgabe für Religionswissenschaft und für Theologie und Kirche. Dabei darf auch die Konflikthaftigkeit von Religion nicht ausgeklammert werden. Diese Konflikthaftigkeit nimmt durchaus auch Religionswissenschaft in den Blick, obwohl sie um den neutralen Außenblick bemüht ist. So befassten sich beim Kongress Beiträge z. B. mit Islamisten, mit Rindfleischgenuss bei indischen Christen vor dem Hintergrund der hinduistischen Mehrheitsbevölkerung oder mit Spaltungen in der I-AM-Bewegung und daraus hervorgegangenen Gruppen. Von gesellschaftlicher Relevanz können soziale Dysfunktionalitäten von Religion (wie etwa beim islamischen Terrorismus), interreligiöse Konflikte, aber auch Konflikte innerhalb von Religionsgemeinschaften sein, wie sie etwa durch fundamentalistische Gruppierungen hervorgerufen werden können. Die beiden großen Kirchen als quasi „systemrelevante“ religiöse Akteure in Deutschland haben hier eine besondere Verantwortung: zur Vermittlung, aber auch zur nötigen Unterscheidung. Kirchliche Weltanschauungsarbeit leistet dafür wesentliche Arbeit – eine Arbeit, die gerade von Religionswissenschaft viel profitieren (und auch manche Erkenntnisse beisteuern!) kann.