Hoffnungsträger, nicht Lückenbüßer. Ehrenamtliche in der Kirche
Das seit dem II. Vatikanischen Konzil stark zugenommene Engagement Ehrenamtlicher in der Kirche ist einem Wandel unterworfen. Es geht nicht mehr darum, als „Lückenbüßer“ bereits im Vorfeld definierte Aufgaben zu erledigen, sondern als „Hoffnungsträger“ „Verantwortung zu übernehmen, an Entscheidungsprozessen mitzuwirken und sich mit [seinen] Fähigkeiten ein[zu]bringen und [diese] weiter[zu]entwickeln“ (7), so Gabriele Denner, Referentin für das Ehrenamt im Bistum Rottenburg-Stuttgart und Herausgeberin des vorliegenden Sammelbandes. In diesem Sinne sind Ehrenamt und Kirchenentwicklung zusammenzudenken, denn es stellt sich die Frage, was die durch Taufe und Firmung von Gott selbst Bevollmächtigten für die Gestalt der Kirche bedeuten. Um diese Frage abzuschreiten, hat Denner eine Vielzahl von Autoren, vor allem aus dem Ordinariat und den Caritasverbänden der Diözese Rottenburg-Stuttgart, versammelt, die in kurzen und größtenteils gut lesbaren Beiträgen unterschiedliche Perspektiven des Themas ausleuchten.
Bernd Jochen Hilberath nimmt in seinem grundlegend ekklesiologischen Beitrag ein Wort von Papst Franziskus aus Evangelii gaudium auf: „Ich bin eine Mission“ (EG 273). Eine solche Mission – Christsein – kann nicht als Ehrenamt betrieben werden. Vielmehr fordert Hilberath eine Anerkennungskultur und auch einen neuen Sprachgebrauch, denn die Kategorie „Ehrenamt“ ist als unbrauchbar, weil irreführend zu kritisieren, u. a. da häufig der Verdacht entsteht, Ehrenämtler werden nur dadurch wichtig, weil die Zahl der Hauptamtlichen zurückgeht. Aufgrund der Taufe und Firmung sind aber alle Christen berufen und gesendet, die Gemeinde aufzubauen (1 Kor 14,5.12.26), auch wenn nicht in der gleichen Weise und der gleichen Aufgabe. Hierbei verweist er eindringlich auf Lumen gentium 10, das in seiner Unterscheidung zwischen dem „gemeinsamen Priestertum“ und dem „Priestertum des Dienstes oder dem hierarchischen Priestertum“ zwei priesterliche Vollzugsformen benennt, die suo peculiari modo am Priestertum Jesu Christi Anteil haben.
Michaela Tholl fragt konkret nach charismenorientierter Ehrenamtsentwicklung als Kirchenentwicklung und weist auf einen fundamentalen Punkt hin: „Wer … von charismenorientierter Ehrenamtsentwicklung spricht, sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass damit eine neue Formel vorläge, mit deren Hilfe Kirche in ihrem bestehenden Modus gerettet werden könnte“ (16). Die damit einhergehende Kirchenentwicklung ist in gewisser Weise ergebnisoffen, auch wenn Charismenorientierung nicht bedeutet, dass „jeder macht, was er will“, denn es gibt ein zentrales und deutliches Kriterium: Wenn es nicht zum Aufbau der Gemeinde dient, dann ist es kein Charisma. Doch darf dies nicht verstanden werden als ein „Stopfen der Löcher“, was letztlich nur wieder auf ein pastorales Versorgungsdenken und den Selbsterhalt kirchlicher Strukturen abzielen würde. Es geht vielmehr um ein verändertes Kirchenverständnis, man könnte auch sagen: ein sehr ursprüngliches Kirchenverständnis. Eine solche charismenorientierte Kirche überschreitet vorgegebene Muster und ist aufmerksam für das Wirken des Geistes, auch und gerade dort, wo es zunächst „unpassend“ erscheint. Hauptamtliche sind daher verantwortlich „für die Gewährleistung von guten Entwicklungsbedingungen im Sinne einer Kirche, die ‚Zeichen und Werkzeug‘“ (23) sein soll. Ergänzt wird dies durch Überlegungen zu einer dienenden Führung (Servant Leadership).
Wohin die Kirchenentwicklung führen kann, wird von Christian Hennecke in den Blick genommen. Er nimmt das Volk Gottes zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen und bestimmt die gewohnte, aber unglückliche Begrifflichkeit der Ehren- und Hauptamtlichen als obsolet, da sie auf eine „bestimmte Kirchengestalt und fokussiert auf eine klassische Versorgungskirche“ (30) verweist, die unter dem Stichwort Dienstleistungskirche auch unter modernen und postmodernen Bedingungen ihren Versorgungs-Kurs beibehält. Ein auf den vielfältigen Charismen aufbauendes Kirchenverständnis des Volkes Gottes aber kennt die Unterscheidung von Haupt- und Ehrenamt nicht. Kirche ist so ein „lebendiges Miteinander der Gaben, die ein Zeugnis sind für die Gegenwart Christi, die Gegenwart hingegebener Liebe in der Welt“ (33) – und dies eben nicht im Blick auf Bestandssicherung und -entwicklung, sondern im Blick auf die eigentliche Sendung: Kirche für die anderen (Bonhoeffer). Wenn es aber darum geht, als Kirche den Menschen zu dienen, so ist „der Begriff des Ehrenamtlichen … in diesem Kirchenverständnis obsolet“ (34). Priester und Hauptberufliche dienen somit allen Christen zum Heil – sind wirklich Dienstämter. Damit liegt der Hauptakzent eines so verstandenen Hauptamtes auf der „Ermöglichung des Lebens aller Getauften“, also Dienst am ganzen Leib Christi – durch das Wort genährt und durch die Sakramente gestärkt.
Gabriele Denner beleuchtet die Differenzen zwischen „altem“ und „neuem“ Ehrenamt, ohne dabei jedoch für eine Ablösung zu plädieren. Vielmehr sieht sie ein notwendiges Nebeneinander beider Engagementformen, in dem das „neue“ Ehrenamt v. a. durch Selbstbestimmung und Partizipation charakterisiert und in einen notwendigen Paradigmenwechsel – in eine neue Art, Kirche zu sein – eingebettet ist.
Nach diesen eher grundsätzlichen Überlegungen kommen verschiedenste Perspektiven zu Wort: So beschreibt Matthäus Karrer Mitbestimmung und Mitverantwortung im Geist des II. Vatikanischen Konzils anhand der Kirchengemeindeordnung der Diözese Rottenburg-Stuttgart, die sich u. a. in der besonderen Rolle der Räte widerspiegelt, welche wiederum im „Rottenburger Modell“ des Kirchengemeinderates (KGR) seinen konkreten Ausdruck findet. Elke Langhammer lernt für das kirchliche Ehrenamt aus den Entwicklungen anderer gesellschaftlicher Teilbereiche, namentlich der Wirtschaft (Stichwort „interaktive Wertschöpfung“), Wissenschaft (Stichwort „Citizen Science“) und Kultur (Stichwort „Bürgerbühnen“), dass alle Bürgerinnen und Bürger des Gottesvolks auf vielfältige Weise kompetent und wissend sind; „sie sind Expert/innen des Alltags, Expert/innen des Lebens und Expert/innen des Glaubens“ (67). Max Himmel greift das von Karrer beschriebene Gremienmodell auf, charakterisiert es jedoch als „nicht hinreichend, um alle im Volk Gottes vorhandenen Charismen … fruchtbar werden zu lassen“ (70). Im Blick darauf, dass die Beteiligung der Laien am Dienst der Leitung noch Entwicklungspotential hat, verweist er auf weltkirchliche Lernerfahrungen, v. a. auf das Bistum Poitiers, das mit seinen pastoralen, aus Ehrenamtlichen bestehenden Basisequipen vielfältige Erfahrungen gesammelt hat, die bereits im deutschsprachigen Raum rezipiert wurden (v. a. Linz, Hildesheim, Osnabrück, Aachen, Münster). Als wichtige Gestaltungselemente benennt Himmel die Unterscheidung von Pfarrei und Gemeinde, den charismenorientierten Einsatz von Teams (und nicht Einzelpersonen), ein differenziertes Verständnis von Leitung, v. a. im Sinne des Empowerments, eine „Kultur des Rufens“, eine zeitliche Befristung sowie eine offizielle Beauftragung. Ein so gestaltetes Ehrenamt bzw. so gestaltete „beauftragte Dienste“ (81) stellen keine Gefahr für hauptberufliche Dienste dar, nicht für den Priester und nicht für die hauptberuflichen Laien. Himmel nimmt dafür ein Wort von Bischof Albert Rouet (Poitiers) auf: „je stärker die Glieder sind, desto solider müssen die Gelenke sein. Die den Laien anvertrauten Aufgaben machen … die Verantwortung des Priesters noch unverzichtbarer“ (82). Teresa Reinke untersucht die Beauftragungspraxis von Ehrenamtlichen in den deutschen Diözesen und ordnet diese in den Prozess lokaler Kirchenentwicklung ein. Dabei stellt sie u. a. fest, dass weder Form noch Benennung der Beauftragungspraxis – obwohl insgesamt sehr verbreitet (vor allem in Rahmen eines Gottesdienstes) – einheitlich geregelt sind. Rosa Geiger-Wahl beleuchtet die Frage der Konsequenzen einer möglichen stundenbezogenen Vergütung des Ehrenamts (in Abgrenzung zum selbstverständlichen Auslagenersatz wie z. B. bei Fahrtkosten). Eine so geartete Bezahlung als Anerkennungs- oder Förderinstrument richte Schaden an, u. a. da sich finanzielle Vergütung und soziale Anerkennung in puncto Ehrenamt ausschließen und auch das Problemfeld „Niedriglohnsektor“ zum Thema wird – Geld bedroht, so Geiger-Wahl, den Kern des Ehrenamts.
Peter Adolf fragt nach dem Ehrenamt im Konzept des „Petrus-Wegs“. Dieser ist benannt nach der Bonner Pfarrei St. Petrus, die eine von neun Experimental-Pfarreien im Erzbistum Köln darstellt. Sie umfasst vier ehemals eigenständige Pfarreien und machte sich im Prozess der Fusion auf den Weg der Umkehr und umfassenden Erneuerung kirchlichen Lebens. Dabei nahmen die Beteiligten Impulse aus dem französischen Bistum Poitiers auf und versuchten, diese in ihrer Situation zu inkulturieren. Im Zuge dessen hat sich gezeigt, dass der Begriff „Ehrenamt“ im Kontext des gemeinsamen Priestertums aller Getauften wenig geeignet ist, vielmehr schlägt Adolf in Anschluss an Poitiers vor, von „Akteuren des Evangeliums“ zu sprechen. Im Weiteren werden die Gemeinde-Equipen (= Basis-Equipen), die veränderten Rollen der Priester und hauptberuflichen Laien, des Pastoralteams, der Gremien etc. beschrieben und die zu Grunde liegende „Kultur des Rufens“ ausgefaltet. Es geht bei den Akteuren des Evangeliums nicht um eine Zuarbeit für den Pfarrer, sondern um Partizipation. Der Priester steht in diesem Sinne im Dienst der Gemeinde und schenkt den Verantwortlichen Vertrauen. Auf diese Weise erscheint eine Kirche im Nahbereich auch in Zeiten starker Strukturveränderungen möglich, gerade weil eine pastorale „Neuformatierung der Pfarrei“ geschieht. Der „Petrus-Weg“ kann mit seiner Umsetzung des Volk-Gottes-Gedankens des II. Vatikanischen Konzils sicher auch für andere in puncto Kirchenentwicklung ein Vorbild sein. Silke Obenauer, Autorin des in der Badischen Landeskirche entstandenen Materials „Ich bin dabei. Gaben entdecken – Akzente setzen – Welt gestalten“, vergleicht für die Frage nach konkreten Schritten zum charismenorientierten Ehrenamt neben ihrem Material das D.I.E.N.S.T-Material der Willow-Creek Community Church und Christan A. Schwarz’ „Drei Farben deiner Gaben“. Sie weist dabei darauf hin, dass Charismen zu entdecken sowohl ein geistlicher als auch sozialer und lebenslanger Prozess ist, der schließlich in die Frage mündet, wie die entdeckten Charismen eingesetzt werden, denn sie zielen ja darauf ab, „ihre Wirkung im Leib Christi zu entfalten“ (142). Die Antwort verlangt ein „Augen auf“ für bereits Engagierte, bei der Neubesetzung von Aufgaben und im Entdecken neuer Aufgabenbereiche. Im Anschluss finden sich karitativ ausgerichtete Projektbeschreibungen, die an das bisher Gesagte anknüpfen. So beschreiben Achim Wicker und Kim Hartmann die von Carlo Maria Martinis „centri d’ascolto“ inspirierten Orte des Zuhörens, von denen sich bereits über 30 Standorte in der Diözese Rottenburg-Stuttgart finden. Sie stellen ein niederschwelliges Angebot für Menschen in persönlichen Notlagen dar, denen von Ehrenamtlichen Zeit und Bereitschaft zuzuhören zur Verfügung gestellt wird. Anita Knauß und Barbara Hoffmann stellen das Projekt „Gemeinsam Besonderes schaffen“ der Caritas Freiwilligen Agentur dar, das für Menschen mit Handicap Teilhabe ermöglichen will. Sigrid Schorn beschreibt die Initiative Solidarische Gemeinde Reute-Gaisbeuren, die sich der Frage nach dem Leben und Wohnen im Alter verschrieben hat.
Der vorliegende Band macht, auch wenn dies nicht als Alleinstellungsmerkmal gelten kann, grundsätzlich und praktisch ernst mit der durch das II. Vatikanische Konzil bezeichneten Wende in der Pastoral, die vorkonziliar v. a. als das heils- und moralorientierte Seelsorgehandeln der Priester an den Laien beschrieben werden kann. Dabei waren die Subjekte der Pastoral alleine die Priester, sie allein erschienen als Kirche im Vollsinn. Die Frage nach der alle Unterschiede aufhebenden, in Taufe und Firmung gründenden Würde aller Glieder des Volkes Gottes (vgl. Gal 3,28) wurde so nicht gestellt. Lumen gentium aber zielt auf die gemeinsame Berufung aller zur Heiligkeit, die Teilhabe aller in der Kirche an den Ämtern Christi ab und hebt damit das hierarchische Verständnis nicht auf, sondern führt es näher aus. Doch auch wenn es in der laufenden Ehrenamts-Diskussion, in die sich Denners Buch einfügt, manchmal so scheinen mag, dass mit dem Begriff Charismenorientierung eine Art Zauberformel für die anstehende kirchliche Entwicklung gefunden ist, so leistet der vorliegenden Band doch den Verdienst klarzustellen, dass es sich dabei um eine Versuchung handeln würde, wenn es nur darum ginge, die bisherige Gestalt kirchlichen Lebens zu bewahren und die dahinterstehende Ekklesiologie nicht zu hinterfragen. Doch genau dies geschieht hier im Sinne eines Ineinanders von Kirchenentwicklung und Charismenorientierung. Leider – und da liegt sicher auch eine pastorale Herausforderung – spiegeln sich die zu Beginn findenden grundsätzlichen Überlegungen in ihrer Tiefe und Bedeutung nicht immer in den konkreten, zum Teil auch im Band selbst zu Wort kommenden Umsetzungsversuchen wider. Aber in der Gesamt-Stoßrichtung wird die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels im Kirchenbild und dessen an unterschiedlichen Stellen (Charismenkurse, Gemeindeleitung durch Laien und Gemeinde-Equipen etc.) ansetzende Umsetzung deutlich herausgearbeitet. Und so ist der Band, auch wenn es aufgrund der Vielzahl der Beiträge und ähnlich gelagerten Fragestellungen bisweilen zu Doppelungen kommt, sehr lesenswert.
Markus-Liborius Hermann