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„Was willst du, dass ich dir tun soll?“

Liturgie zwischen Tradition und Experiment oder: Über die Zukunft der Liturgie

Christliche Liturgie als Feier des gelebten Glaubens steht angesichts der men­talen, gesellschaftlichen und kirchlichen Veränderungsprozesse eben­falls unter dem Paradigma des Wandels. Wie kann eine Liturgie grundiert und gestaltet werden, die sich aus der Sendung der Kirche heraus missionarisch und dienend inspirieren lässt? In seinem Grund­satz­beitrag versucht Frank Walz einen verantworteten Blick in die Zukunft. Sein pastoraler Kontext ist Österreich, jedoch scheinen die meisten seiner Überlegungen auch in Deutschland anschlussfähig.

Vorbemerkungen

Liturgie, die Feier des Gottesdienstes, ist wahrscheinlich nach wie vor – zumindest in Europa, und darauf beschränken sich die nachfolgenden Überlegungen – einer der prominentesten Orte, an denen Kirche in be­son­derer Weise sichtbar wird. Besondere Ereignisse, freudige und tragi­sche, werden sowohl im familiären (Taufe, Hochzeit, Begräbnis) als auch im gesellschaftlichen (Staatshochzeit, -begräbnis, Katastrophenfälle) Rah­men noch immer liturgisch begangen. Die Bandbreite der Liturgie erstreckt sich dabei im Erleben der Menschen (und entgegen theologi­schen Definitionen) von Gebet über Segnungen bis zur Feier von Sakra­mentalien und Sakramenten – im persönlichen wie im öffentlichen Raum, mittelbar und unmittelbar betreffend, in unterschiedlichen Rhyth­men, zu unterschiedlichen Zeiten, in unterschiedlicher Intensität. An der Art und Weise, wie Vertreter der Kirche Liturgie feiern, wie sie ihr vorstehen, wie sie diesbezüglich Leitung ausüben, wie sie die ganze Ge­meinde zur Mitfeier einbinden, entscheidet sich oft für unsere „Zeitge­nossen“ – und zunehmend sind viele von ihnen fernstehendere Mit­fei­ernde – der bleibende Gesamteindruck von Kirche.

Liturgie und Kirche gehören also nach wie vor für die (teilweise sogar nicht mehr glaubenden, aber doch immer noch suchenden) Menschen unserer (postmodernen/postsäkularen) Zeit in gewisser Weise untrenn­bar zusammen. Dies entspricht auch dem Selbstverständnis der Kirche von der Liturgie, die sie feiert: Kirche kann nicht ohne Liturgie sein, Litur­gie soll Kirche spiegeln, sie soll als Quelle und Höhepunkt Kirche (ab-)bil­­den. Sie wird zwar von glaubenden Menschen gefeiert, aber für die ganze Menschheit! Aber wie viel Liturgie braucht die Menschheit? Wie viel Liturgie braucht Kirche? Wie viel Kirche braucht eine Gesell­schaft? Und wie viel Religiosität? Und was hat Religiosität mit Liturgie zu tun? Und wer oder was ist Kirche? Nicht zuletzt diese Fragen sind es, deren Beantwortung über die Zukunft der Liturgie bestimmt.

1. Die Klassik stirbt nicht!

Nun hat bereits Romano Guardini (1964) die ernstgemeinte Frage be­züg­lich der Liturgiefähigkeit des modernen Menschen in den Raum ge­stellt, und über diese Frage hinaus wird seitdem auch über die Men­schen­fähigkeit der modernen Liturgie diskutiert. Ist Liturgie (zumindest in der Gestalt, wie wir sie heute in aller Regel feiern) womöglich über­holt, drückt der moderne Mensch seinen Glauben in ganz anderen, neu­en (Feier-)Formen aus?

Die klassische Feier des Sonntagsgottesdienstes als Eucharistiefeier der ganzen Gemeinde mit ihrem eigenen, nur für sie zuständigen Pfarrer, als regelmäßige, gemeinsame Feier aller Generationen ist mittlerweile in aller Regel eher die Ausnahme als die Regel. Und auch dort, wo es nach wie vor ein reges „liturgisches“ Leben gibt, weicht die klassische Liturgie oft sogenannten neuen liturgischen Formen: alternativen Gottes­diens­ten, in der evangelischen Kirche als „Zweites Programm“ bezeich­net. Die offizielle Kirchenleitung hält allerdings bei zunehmendem Plausibi­li­tätsverlust durch alle Schichten der Gesellschaft hindurch nach wie vor an den klassischen Liturgien und selbstverständlich auch an der notwen­di­gen, gebotenen Mitfeier aller Getauften fest; die sogenannte „Sonn­tagspflicht“ ist ein nach wie vor bestehendes Kirchengebot. Aber was bewirkt eine solche Gebots-Taktik? Wäre es nicht besser, statt Taktiken endlich nach geeigneten Strategien zu suchen, die – und das ist meine These – der nach wie vor bestehenden Sehnsucht der Menschen nach liturgischem Ausdruck ihres Glaubens gerecht werden? Kommunikation auf und zwischen allen Ebenen der Kirche und der Gesellschaft, in der sie sich bewegt, ist dazu unabdingbar. Für die Kirche und ihre Liturgie gilt analog, was der berühmte Dirigent Franz Welser-Möst, Chef des Cleveland Orchestra, kürzlich bezüglich des durchaus verwandten Be­reiches der klassischen Musik festgestellt und bewiesen hat: „Das ist vor allem eine Frage der richtigen Kommunikation“ (Welser-Möst 2015). Die nötige Strategie, um auch klassikferne Schichten von der Wichtigkeit klassischer Musik zu überzeugen, bestand in seinem Fall darin, einen jun­gen Werbefachmann zu engagieren, der v. a. über Social-Media-Netz­werke junge Menschen für klassische Musik zu begeistern versuchte. Außerdem wurden neue und veränderte Musik-Formate eingeführt. Ein Format wie „Fridays@7“, kurze (klassische) Konzerte mit anschließen­den lockeren Begegnungsmöglichkeiten, versucht beispielsweise der Situation gerecht zu werden, dass im Unterschied zu vor 30 Jahren heu­te statt 100 % nur noch 51 % der Konzerte abonniert sind und man des­halb nach neuen Wegen suchen muss, auch spontan Konzertbesucher zu interessieren. Neue Technologien (jüngstes Beispiel aus dem Klassikbe­reich ist die Smartphone-App Indigo) versuchen darüber hinaus, alterna­tive Zugangsmöglichkeiten zu eröffnen. Das Ergebnis vier Jahre später: 20 % der Konzertbesucher des Cleveland Orchestra sind mittlerweile unter 25 Jahre alt, das Cleveland Orchester hat damit heute das jüngste Publikum Amerikas.

Greift beispielsweise das liturgische Phänomen „Nightfever“ womöglich genau diese Strategie auf? Die klassische Eucharistie-Verehrung wird in der Form der „Eucharistischen Anbetung“ neu inszeniert. Passanten wer­den spontan in die Kirche eingeladen, der Raum wird mit Kerzen­licht beleuchtet, dezente Musik im Hintergrund, Priester stehen mit dem Angebot der Beichte zur Verfügung … Liturgiewissenschaftler haben zwar berechtigte Einwände gegen diese Form der Liturgie (vgl. Gerhards/de Wildt 2015), die immer stärkere Verbreitung und Akzeptanz an der Basis spricht allerdings eine andere Sprache.

2. Ein verändertes Kirchenbild verlangt nach einer neuen Liturgie

Wenn Liturgie auch immer wieder als absichtsloses Spiel vor Gott be­schrieben wird, wenn auch als „eigentlicher“ Vorsteher der Liturgie Christus und als Subjekt der Liturgie die ganze Kirche genannt werden, so lässt sich doch nicht verleugnen, dass Liturgie auch mit (Ohn-)Macht zu tun hat. Sie zeigt sich darin, dass besondere liturgische Kompetenzen „verliehen“ werden, dass es dafür Weihen, Beauftragungen und Dekrete gibt und letztlich eine Hierarchie und Ordnung dahintersteckt mit ganz bestimmten Absichten, dass es zu Fragen der liturgischen Gesten und Vorschriften Unterschiede zwischen Laien und Klerikern gibt und be­stimmte liturgische Handlungen besonderen Personengruppen vorbe­halten sind. Manches, was zu früheren Zeiten plausibel war, wird mit veränderten äußeren Rahmenbedingungen aber immer unplausibler. Ein Beispiel ist die veränderte Rolle des Gemein­deleiters, die in unseren Breiten bis vor wenigen Jahrzehnten durch die Person des Pfarrers aus­ge­füllt wurde. Mittlerweile leiten allerdings vielerorts de facto Nicht-Priester, Männer wie Frauen als Pfarramtsleiter und -leiterinnen oder Pfarrassistenten und -assistentinnen die Pfarrgemeinden, dürfen aller­dings bestimmte liturgische Aufgaben, die traditionell an den Gemein­de­leiter gebunden sind, (noch immer) nicht übernehmen (vgl. Panhofer/Schneider 2009).

Das sich verändernde Kirchenbild hat allerdings nicht nur Auswirkungen nach innen, sondern auch Konsequenzen nach außen. Menschen fühlen sich auf unterschiedliche Weise zugehörig zur Kirche, sie haben dement­sprechend auch unterschiedliche Erwartungen an die Kirche, auch an de­ren Liturgie. Die allgemeine Sehnsucht der Menschen, ihrem Glauben einen rituellen Ausdruck zu verleihen, ist nach wie vor vorhanden, nach wie vor besteht ein diesbezüglicher „Markt“, der nicht zuletzt durch das Angebot nichtkirchlicher Ritendesigner v. a. an besonderen biographi­schen Einschnitten des individuellen und familiären Lebens bedient wird. Kirche und ihre Liturgie wird allerdings zunehmend als ein Sinn­anbieter und Sinnangebot unter vielen verstanden. In dem Maße, wie die „Qualität“ der „Leistung“ stimmt, wird auch der entsprechende „Preis“ bezahlt. Anders formuliert: Das „Preis-Leistungs-Verhältnis“ muss passen, Kirche und ihre Liturgie sind dort gefragt, wo sie „gut“ und „nützlich“ sind, wo sie (zu etwas) „dienen“. Es ist bei weitem keine kul­turelle Selbstverständlichkeit mehr, den (Worship-)„Service“ der Kirche mit dem beschränkten Portfolio, das die Kirche aus ihrer Tradition her­aus anbietet, zu nutzen. Neue Situationen verlangen nach einer neuen Gestalt, nach neuen Formen und neuen Symbolen, nach einer neuen Sprache und einer neuen Form der Kommunikation, nach einer Neu-In­szenierung.

3. (Nicht) Alles ist „Liturgie“!

Nach dem Hl. Benedikt geht es bei der Liturgie ja v. a. darum, zu einer liturgischen Haltung, einer das ganze Leben umfassenden liturgischen Spiritualität, zu finden. Im Idealfall wird also das ganze Leben zu einer einzigen großen Liturgie. Nach traditioneller liturgiewissenschaftlicher Definition ist Liturgie allerdings der „Gottesdienst der Kirche“ (J. A. Jungmann), d. h. der Ausdruck des Glaubens der Kirche in der Feierge­stalt, wobei mit Kirche die ekklesia gemeint ist, das von Gott zusam­men­gerufenen Volk. Diese Definition birgt mindestens drei Problembereiche: Welches Verständnis tragen die Begriffe „Glaube“, „Kirche“ und „Feier­gestalt“? Das Verständnis variiert von Generation zu Generation, von Kultur zu Kultur, von Milieu zu Milieu (vgl. die Sinus-Milieu-Studien). Die Zugehörigkeit zur Kirche, die Intensität des Glaubens, die Vorstel­lung von Feiergestalt sind schon innerhalb der Familien, um vieles mehr aber innerhalb einer immer komplexer werdenden Gesellschaft recht unterschiedlich. Umso wichtiger ist es, miteinander ins Gespräch zu kommen, konkretes Leben und die konkrete Feier in Bezug zueinander zu setzen, aufeinander zu hören, individuelle Liturgie-Modelle zu ent­wickeln, eine „zeitkritische Ästhetik des Glaubens“ (vgl. Höhn 1998) zu finden und sich daran zu erinnern, dass nicht alles Liturgie ist, dass aber auch Liturgie nicht alles ist.

Liturgie ist der (Heils-)Dialog Gottes mit den Menschen, das Hören auf sein Wort (Schriftlesung), das Reden mit ihm (Gebet) und das Suchen nach Antworten auf die zentralen Fragen des Lebens, nach immer wie­der neuen Wegen, Strukturen, zum „Leben in Fülle“ (Joh 10,10). Damit Liturgie gelingt, muss sie „leidenschaftlich“ (B. Hillebrand) gefeiert wer­den, „gottvoll und erlebnisstark“ (P. M. Zulehner), „berührend, kurz, stark“ (M. Sellmann). Sie muss moderne Kommunikationsformen ken­nen und anwenden. Mit dem iconic turn, der im 19. und 20. Jahrhundert stattfand, werden Botschaften zunehmend innerhalb der Logik des Bil­des (anstatt des Wortes) weitergegeben. Zur Logik des Bildes gehören auch die Atmosphäre des Raumes, der Zusammenhang von Inhalt und Form, die Bedeutung von Ästhetik und Inszenierung. Das Schöne wird als das Wahre und Gute begriffen – insofern es „passend“ für den je Ein­zelnen erscheint, insofern es einen biographischen Bezug gibt („Das hat mit mir zu tun!“), eine ästhetische Passung darstellt („Das ist mein Raum!“), eine emotionale Gegenwelt (religiöses Gefühl statt religiöse Überzeugung) und ein personales Übertragungsmedium (durch die Be­ziehung, Begegnung mit leidenschaftlichen Menschen) anbietet (vgl. Hillebrand 2014).

Was die Pastoralkonstitution Gaudium et spes mit dem Lesen (Forschen und Deuten) der „Zeichen der Zeit“ (ein Schlüsselbegriff der Pastoral) meint, gilt auch für die Liturgie. Ein besonderer Ort, der Zeichen der Zeit sein kann, sind die (Erfahrungen der) konkreten Menschen – innerhalb und außerhalb der Kirche (GS 1; 11; 64) – und die konkreten Orte, an denen sich diese konkreten Menschen aufhalten (Weihnachtsmärkte, Museen, Einkaufszentren, Bahnhöfe …). Liturgie muss wieder vermehrt von den Menschen her gedacht werden, v. a. von jenen Menschen, die unseren Gottesdiensten fernbleiben. Wie müssten Gottesdienste gestal­tet sein, dass man sie gerne mitfeiert, dass jene, die daran nicht teilneh­men, das Gefühl haben, etwas zu verpassen? Wo und wann müssen die­se Gottesdienste gefeiert werden? Nicht immer sind die Pfarrkirche und der Sonntagmorgen der günstigste Ort und der beste Zeitpunkt zur Feier der Liturgie. Die Akzeptanz von Kapellen und Gebetsräumen an Bahn­höfen, in Flughäfen, in Einkaufszentren oder auch an besonders schönen Orten in der Natur und die Akzeptanz der dort gefeierten Liturgien lässt anderes vermuten.

Die (pastorale) Grund-Frage, die wir auch bezüglich der Liturgie und der Menschen, die zur Feier der Liturgie zusammenkommen, immer stellen müssen, sollte lauten: „Was willst du, dass ich dir tun soll?“ (Lk 18,41). Erst dann gewinnt Liturgie (auch) wieder für den (modernen) Menschen an (Handlungs- und pragmatischer) Relevanz. Und wenn daraus weiter­führendes Interesse am Glauben bzw. am liturgischen Ausdruck des Glaubens erwächst („Meister, wo wohnst du?“), so lautet die daran an­schließende Einladung: „Kommt und seht!“ (Joh 1,38 f.). In diesem Sin­ne wird die Liturgie der Zukunft wohl verstärkt eine im wörtlichen Sinne alltägliche, beiläufige sein, anlassbezogen, persönlich und gleichzeitig provokativ, auf jeden Fall anders, performativ statt perfekt, anrührend und partizipativ, annehmend, wertschätzend, authentisch, sie wird zu einer „kreativen Provokation mit dem Evangelium“ (Rainer Bucher) und führt zu verschiedenen kontextabhängigen Formen.

4. Kommunikation in unterschiedlichen „Zeit-Räumen“

Liturgie ist der Dialog Gottes mit seinem Volk, wobei er alle Menschen zu seinem Volk ruft, dieser Ruf aber unterschiedlich be- und verant­wor­tet wird. Somit ist auch nicht jede Form der Liturgie für jeden Menschen in jedem Kontext die angemessene. Es gibt schlichtweg Situationen und Kontexte, in denen Sakramente noch nicht bzw. nicht mehr möglich und neue – manchmal auch alte, vergessene – Formen der Liturgie angemes­sener sind: katechumenale Stufenriten, Feiern der Lebenswende, Tauf­erinnerungsfeiern, Segensfeiern, Abendlob, Mittagsgebet, Stadtgebet, Weihnachtslob, Touristengottesdienste, Namensgebungsfeier, Verab­schiedungsfeier, (säkulare) Hochzeit (vgl. Kranemann/Richter/Te­bartz-van Elst 1999, 16–87).

Freilich klaffen in vielen konkreten Fällen der liturgische Anspruch der Kirche und die Erwartung der Menschen weit auseinander. Vielleicht braucht es dann sowohl bei den Liturgie-Verantwortlichen als auch bei den Mitfeiernden wieder eine stärkere Sensibilisierung für das eigent­liche Wesen der Liturgie, eine liturgische Haltung, die davon weiß, dass Christus selbst der eigentliche Liturge ist, dass Liturgie kein (menschli­ches) Machwerk, sondern (göttliches) Ereignis ist, das in dem Maße er­fahrbar wird, in dem es als „Erlebnis“ inszeniert wird. Ganz wesentlich geht es schließlich in der Liturgie (neben der Verherrlichung Gottes) um die Heil(ig)ung des Menschen, um Menschwerdung. In dieser Haltung und aus dieser Haltung heraus wird der Gottesdienst dann ganz von allein zur missionarischen Liturgie mit einer zeitgemäßen Sprache und Musik, in einem zeitgemäßen Raum, verknüpft mit und eingebunden in zeitgemäße Kunst.

Liturgie will glaubenden Menschen Räume öffnen. Wenn Sacrosanctum concilium, die Liturgiekonstitution des Konzils, in Nr. 42 von den Kir­chen­räumen verlangt, dass sie für die liturgische Feier und Teilnahme der Gläubigen geeignet sein sollen, dann gilt dies in gleicher Weise für die Feier-Räume der Liturgie, wobei sich liturgische Räume oft ganz unvermutet auf dem weiten Feld der Pastoral öffnen. Der Begriff der „Riten-Diakonie“ beschreibt den engen Zusammenhang von Liturgie und Diakonie und stellt beide Aspekte unter den Begriff der Pastoral. Citypastoral beispielsweise ist eng mit liturgischen Feiern wie Andacht zur Mittagsstunde, Gottesdienst zur Marktzeit, Feierabend-Vesper o. Ä. verknüpft; Jugendkirchen er-finden sich ihre eigenen Gottesdienst-Formen.

Die liturgischen Spiel-Räume gilt es dabei zum Heil der Menschen zu nutzen. Dies braucht gelegentlich eine gewisse „liturgische Kreativität“, ohne freilich leichtfertig die liturgischen Regeln (die ja Sinn machen!) außer Kraft zu setzen. Liturgie lebt allerdings aus der Spannung zwi­schen Tradition und je Neuem, und die je neue und aktuelle heilsame Zuwendung Gottes darf nicht durch das Übersehen der „Zeichen der Zeit“ verhindert werden. Auch für die (Weiter-)Entwicklung der Liturgie gilt der Dreischritt Sehen – Urteilen – Handeln im Dialog, in Solidarität, im Austausch mit den konkreten Menschen einer konkreten (Um-)Welt. Die aristotelische Unterscheidung zwischen poiesis (instrumentell, manipulativ) und praxis (dialogisch, kommunikativ, am Einverständnis orientiert) muss auch bezüglich des liturgischen Handelns vorgenom­men werden. Ziel ist auch hier eine eu-praxia, eine gute, womöglich sogar bessere liturgische Praxis.

5. Prognose

Das Phänomen der „Modernisierung“ unserer Gesellschaft mit seinen Be­gleiterscheinungen der Säkularisierung, der Domestizierung der Na­tur, gesellschaftlicher Ausdifferenzierungen, Rationalisierung, Plurali­sie­rung, Individualisierung und Biographisierung beinhaltet, durch mehre­re soziologische Studien mittlerweile auch empirisch belegt, auch eine Respiritualisierung der Gesellschaft und eine Transformation von Reli­giosität. Dieses Phänomen, kombiniert mit dem „Kehrvers“ der Litur­giekonstitution, der participatio actuosa, lässt sich auch für die Frage nach der Zukunft der Liturgie, nach einer Liturgie zwischen Tradition und Experiment fruchtbar machen. Ob participatio nun mit „Teilhabe“ oder mit „Teilnahme“ übersetzt wird, letztlich geht es dabei um die Sensibilisierung der Kirche und jedes Einzelnen ihrer Mitglieder für die (liturgische) Verantwortung, die wir alle füreinander haben. Es ist die (liturgische) Verantwortung für das Heil unseres Nächsten als Antwort auf seine sehnsuchtsvolle Frage nach einem Leben in Fülle.

Meine Prognose: Die Liturgie der Zukunft wird sich in einer großen Viel­falt mehr und mehr aus einem längst begonnenen Inkulturationspro­zess, aus dem intensiven Gespräch zwischen Kult und Kultur und der ebenso intensiven Kommunikation nach innen (Kirche) und nach außen (Welt) herauskristallisieren. Die Kirche wird die Ritual- und Feierkom­petenz des modernen Menschen ernst nehmen und als Voraussetzung für ihre Liturgie integrieren. Veränderte Rhythmen und Zeiten, unter­schiedliche Milieus und Grade von Kirchlichkeit werden unterschiedliche Sprachen und Ausdruckformen (er-)finden. Ein erweitertes (liturgisches) Dienst- und Amtsverständnis wird – ausgehend von der Taufkompetenz – neue Ämter und Beauftragungen kreieren. Durch die weiter zuneh­men­de Globalisierung und Mobilität wird interkulturelles Lernen zuneh­mend auch liturgisches Lernen prägen, Kirchenstrukturen werden sich weiterhin verändern, Pfarreien lösen sich auf, Kirchengebäude werden umgewidmet, neue liturgische Räume entstehen.

In all diesen Umbruchsszenarien heißt das bleibende Ziel der gesamten Pastoral und damit auch der Liturgie: Menschen befähigen, selbstverant­wortlich (die Feier) ihr(es) Leben aus dem Glauben zu gestalten, und ih­nen so zu einem „Leben in Fülle“ verhelfen. Dazu will Liturgie anleiten und darauf will Liturgie immer wieder neu Lust machen. Wenn dies ge­lingt, macht es auch in Zukunft Lust, Liturgie zu feiern – und wie im Un­tertitel dieses Beitrages bereits angedeutet: Es geht um die Zukunft der Liturgie als liturgia semper reformanda, die Fortführung des immerwäh­renden Heilsdialoges Gottes mit den Menschen, es geht nicht um eine Liturgie der Zukunft, die erst neu erfunden werden müsste.