Partizipation und Vielfalt in der Liturgie
Partizipation
Ein großes Leitwort, das die Liturgiekonstitution Sacrosanctum concilium des 2. Vatikanischen Konzils geprägt und der vom Konzil angestoßenen liturgischen Erneuerung mitgegeben hat, ist die participatio actuosa der Gläubigen, im Deutschen gewöhnlich mit „tätige Teilnahme“ übersetzt und als ein aktives Mittun der Gläubigen verstanden. Gezeichnet wird das (Ideal-)Bild eines bewussten, in vielerlei Handlungen realisierten inneren und äußeren Mitfeierns: Singen und Beten der für die Gläubigen vorgesehenen liturgischen Texte, leibliches Mittun durch die verschiedenen Gebetshaltungen und Gesten, auch bewusstes Schweigen (vgl. z. B. SC 30).
Participatio, Partizipation hat allerdings auch eine andere Seite. Partizipation als Teilhabe, als Einbezogensein hat auch einen vom aktiven Mitwirken zunächst unabhängigen Aspekt des schon vor und in allem eigenen Tun Gegebenen, Geschenkten, Ermöglichten. In der Liturgie ist das Handeln des Einzelnen eingebettet und ermöglicht durch das Handeln einer konkreten Gemeinschaft oder Gemeinde; das Handeln der Gemeinde in das der Kirche jetzt und durch die Zeiten hindurch; und schließlich geht allem liturgischen Handeln der Kirche das Handeln Gottes in Jesus Christus voraus. Im Mittelpunkt der Liturgie stehen immer das Wort Gottes und in vielen Fällen Sakramente und Sakramentalien, die selbst Gaben Gottes sind, an Jesus Christus als seine größte Gabe erinnern und sie vergegenwärtigen. Teilhabe an der Liturgie ist damit erst einmal eine geschenkte und aller eigenen Aktivität vorausgehende Teilhabe an Christus.
Teilhabe an der Liturgie ist auch Teilhabe an der Gemeinschaft, die sie feiert – an der konkret zu einer Zeit an einem Ort versammelten Gemeinde, aber auch an den größeren, umfassenden Gemeinschaften, an denen diese selbst Anteil hat, bis schließlich zur ganzen Kirche Christi – und nicht nur der Kirche der Gegenwart, sondern der Gemeinschaft aller, die ihr je angehört haben. Das ist zunächst einmal eine geistliche Wirklichkeit, die sich aber auch im menschlichen Miteinander zeigen kann und sollte.
Sicherlich ist es ein Idealfall und die Vollform der Partizipation an der Liturgie, wenn der Einzelne diese geschenkte Teilhabe bewusst für sich annimmt, durch sein aktives Mittun darauf antwortet und die Liturgie so mitträgt. Diese Fülle der Teilnahme ist allerdings nicht die einzige Möglichkeit der Partizipation in der Liturgie.
Das tätige Mitfeiern, wie es im Ritus vorgesehen ist, setzt körperliche und geistige Fähigkeiten und die Kenntnis des Ritus und seiner Elemente voraus. Tätige Teilnahme muss in vielen Punkten erlernt werden – wo gebe ich welche Antwort, wie gehe ich mit einem Gotteslob um, wann ist welche Geste oder Körperhaltung vorgesehen? Auf die Schriftlesungen zu hören und sie zu verstehen, muss ebenso gelernt werden wie ein Grundverständnis der Sakramente. Wer körperlich oder geistig eingeschränkt ist, kann vielleicht manche der aktiven Elemente gar nicht vollziehen.
Dennoch kann – nach seinen jeweiligen Möglichkeiten – auch jemand an der Liturgie teilhaben, dem solche Voraussetzungen ganz oder zum Teil fehlen: ein Kind kann lauschen, schauen und staunen; wer zum ersten Mal einen Gottesdienst erlebt, kann von dem, was er sieht und hört, vielleicht gerade wegen seiner Fremdheit tief angerührt sein; ein Christ, der in einem anderen Ritus beheimatet ist oder die Sprache nicht versteht, kann die Liturgie oft trotzdem in Grundzügen erfassen und mitvollziehen. Die Atmosphäre, die Musik, die Ästhetik des Raums und der Feier, die sprechenden Symbole, die Erfahrung von Gemeinschaft, natürlich auch die gehörten Worte der Schrift, der Gebete oder der Verkündigung können Elemente sein, die auch jene Anwesenden berühren, die das tätige Mitfeiern (noch) nicht kennen und gelernt haben.
Andere möchten vielleicht gar nicht „aktiv“ teilnehmen, auch wenn sie es könnten. Ein waches und bewusstes, aber stilles Mitvollziehen ist ebenso möglich und eine Form der Teilhabe wie eine eher distanzierte Anwesenheit: einfach dazusitzen, seinen Gedanken nachzuhängen und das Geschehen eher an sich vorbeiziehen zu lassen.
Teilhabe an der Liturgie bleibt nicht beschränkt auf die Gläubigen allein. Auch wer nicht glaubt, kann einen Gottesdienst als einen guten Ort empfinden, als etwas Schönes, Tröstliches, Stärkendes erfahren – und manchmal als etwas, was für den Glauben öffnet und den Weg dafür bereitet. Aus eigener Erfahrung kann ich [Andrea Imbsweiler] erzählen, dass ich in den Jahren meines Suchens die Liturgie zunächst als eine Art „schönes, wohltuendes Schauspiel“ für mich entdeckt habe – lange bevor ich sie irgendwann tatsächlich als Ort der besonderen Begegnung mit Gott erfahren konnte, hatten mich ihre Atmosphäre und Ästhetik angesprochen, immer mehr hineingezogen und zu dem Punkt geführt, wo diese Erfahrung möglich wurde.
Art und Umfang der Teilhabe und Teilnahme müssen für den Einzelnen also auch nicht immer gleichbleiben, sondern können sich im Lauf des Lebens wandeln, können intensiver oder auch entfernter werden.
Teilhabe kann aber sogar ganz ohne die Anwesenheit bei der Liturgie geschehen: Der Gläubige, der nicht zum Gottesdienst kommen kann – oder auch fernbleibt in Zeiten, wo die Mitfeier innerlich schwierig wird –, darf sich dennoch mitgenommen und mitgetragen wissen von denen, die dort zusammenkommen. Dass der Großteil der Gemeindemitglieder zum Gottesdienst kommt, ist heute selten geworden. Wenn nur noch ein kleiner Teil zusammenkommt, werden die Mitfeiernden, in gewisser Weise, immer mehr auch zu Stellvertretern derer, die nicht (mehr) kommen. Im monastischen Stundengebet etwa hat die Bitte „für unsere abwesenden Brüder und Schwestern“ ihren festen Platz; so werden jene, die nicht beim gemeinschaftlichen Gebet dabei sein können, in die Gemeinschaft der Betenden ausdrücklich hineingenommen. Das fürbittende Gebet der Gemeinde und des Einzelnen bezieht sogar weit über den Kreis der Kirche hinaus Menschen in die Liturgie ein und erbittet von Gott, sie auch für diese wirksam zu machen.
Und schließlich: Wenn Liturgie die Quelle ist, aus der die Kraft der Kirche strömt (SC 10), dann wirkt sie in alles kirchliche Handeln hinein und gibt dadurch vermittelt auch dem Anteil an der Liturgie, der mit der Kirche zum Beispiel durch ihr soziales und karitatives Handeln in Berührung kommt: Wer eine kirchliche Einrichtung aufsucht und dort Unterstützung erfährt, wird vielleicht nie auf die Idee kommen, das mit dem Gottesdienst in Verbindung zu bringen, und hat doch Anteil an dem, was dieser bewirkt.
Vielfalt
Die vorangegangenen Überlegungen zur participatio in der Liturgie führen weiter in die Thematik, wie in einer zunehmend pluralen Gesellschaft Partizipation in und an der Kirche (von den Partizipanten) grundsätzlich vielfältig wahrgenommen und gestaltet wird und (von den Verantwortlichen) akzeptiert und in pastorales Handeln überführt werden muss und was dies für die Kirche und ihre Pastoral – eben auch in der Feier des Glaubens, der Liturgie im weitesten Sinne – bedeutet. Gleichzeitig wird das Verständnis von Partizipation über den Bereich des Liturgischen hinaus geweitet auf das Verständnis von der Teilhabe am Gottesvolk insgesamt. Gegenüber einer verengten Vorstellung von „Mitgliedschaft“ oder „Kirchenbindung“ können theologisch und pastoral vielfältige Weisen, dem Gottesvolk anzugehören, beschrieben werden.
So begründet theologisch einerseits die Taufe als Hineinnahme in den Leib Christi die Zugehörigkeit zu Christus und seiner Kirche. Andererseits kennt die Tradition der Kirche die Vorstellung, dass Menschen, auch wenn sie (noch) nicht durch die Taufe hineingenommen sind in das österliche Mysterium, zu diesem in unterschiedlichen Weisen und Graden hingeordnet sein können, so beispielsweise die Katechumenen und die Glieder getrennter Kirchen und kirchlicher Gemeinschaften. Die Kirche sieht Funken der göttlichen Wahrheit auch in den nicht-christlichen Religionen und sogar in den (möglicherweise auch nicht-glaubenden) Menschen „guten Willens“. Im Hintergrund steht Justins Konzept vom logos spermatikos, von der göttlichen Vernunft und dem göttlichen Wort, das sich in kleinen Samenkörnern u. a. in der paganen griechischen Philosophie findet und von Justin für seine Glaubensverantwortung bemüht wird.
Nachdem bis in die Neuzeit – und bei manchen noch heute – das Heil Gottes exklusiv mit der „Mitgliedschaft“ in der „wahren“ Kirche gegeben ist (extra ecclesiam nulla salus), so kann die Kirche in AG 7 formulieren, dass letztlich der gütige und menschenfreundliche Gott die Menschen zu sich führt auf Wegen, die nur er kennt. In GS 22 wird erwähnt, dass der Heilige Geist allen die Möglichkeit anbietet, in einer Gott bekannten Weise dem österlichen Mysterium (sic!) zugesellt zu werden. So entsteht Kirche als kyriakä, „die dem Herrn gehört“, in neuen Formen der Bewusstwerdung der Berufung durch Christus und der verleiblichten Antworten der Menschen in der Nachfolge, die ihrerseits verschiedene Formate annehmen kann. Die Begrifflichkeit der „flüssigen Moderne“ (Bauman 2003: liquid modernity) wurde von P. Ward so auf die „fluide“ Kirche übertragen (vgl. Ward 2002, 17 ff.), er will damit andeuten, dass deren Grenzen fließend (geworden) sind.
Die mentalen und gesellschaftlichen Kontexte der Gegenwart führen zu neuen Parametern in der „Konstruktion der religiösen Identität“ und zur Aufsplitterung des Religiösen in der Gesellschaft. So entstehen neue Typen der Gemeinschaftsbildung und neue Verfahren zur Legitimierung (Validation) des Glaubens. In dieser sich fundamental verändernden pastoralen Situation, in der sich die Kirche in Deutschland befindet, muss sich die Vielfalt unterschiedlicher Bezüge somit auch in liturgischen Vollzügen wiederfinden. Immer weniger hat es die Kirche mit einem oder einer „Normal-Gläubigen“ zu tun. So kann die Kirche immer wieder den interkulturellen Austauschprozessen, in denen sich der Glaube unbeschadet seines Ursprungs und seiner Wurzel und seiner geschichtlichen Gestaltung immer wieder neu inkulturiert, Raum geben. Und zu diesem Raumgeben gehört eben im Gefüge der kirchlichen Vollzüge auch die Feier des (zumindest anfanghaften) Glaubens der auf das Heil in Christus hingeordneten Menschen.
Die „treuen Kirchenfernen“ oder „Kasualienfrommen“
So können in einem ersten Schritt Menschen in den Blick kommen, die der Kirche zwar formal angehören, aber ihre Partizipation so gestalten, dass sie an bestimmten wichtigen Punkten ihres Lebens von der Kirche eine (zumeist rituelle) Dienstleistung erwarten. In einer nun einige Jahre zurückliegenden, auf dem Gebiet des Erzbistums Bamberg erarbeiteten Studie (Först/Kügler 2008) wurde deutlich, dass die Menschen die Bestimmung ihres eigenen ekklesiologischen Orts ebenso wie die Art und Weise ihrer Partizipation an der Liturgie der Kirche selbst entscheiden. Die punktuell nach Kasualien Fragenden wollen sich zumeist gar nicht in einer aktiven oder regelmäßigen Weise in und an der Kirche beteiligen. Sie verstehen ihre Partizipation als eine vollgültige und zeigen dies dadurch an, dass sie die Frage nach einem möglichen Kirchenaustritt für sich negativ beantworten. Sie hinterfragen so das (übliche) Bild von der Art und Intensität der kirchlichen Partizipation, das wohl viele Gläubige und viele pastoral Verantwortliche oder Seelsorgende mehr oder weniger reflektiert im Hinterkopf und als Zielstellung ihrer Arbeit haben. Deren Bilder von (der liturgisch feiernden) Gemeinde, kirchlicher Partizipation und Glaubensvollzug werden somit kritisch hinterfragt. Oftmals besteht das Ideal der Seelsorgenden in einer sich nicht nur in der liturgischen Feier äußernden intensiven Beziehung zu den „ihnen Anvertrauten“ und einer persönlichen Begleitung einer überschaubaren „Herde“. Sie sind oftmals Priester oder Pastoralreferentin geworden, um Menschen über lange Phasen oder gar über Generationen hinweg zu begleiten. Wenn viele Menschen, die nur punktuell liturgische Feiern und Kasualien intendieren, dies nicht möchten, erleben viele Seelsorgende das als Kränkung. Es ist immer noch schwer, die kirchlichen Vollzüge (auch) als Ritendiakonie und sich selbst und andere Beteiligte positiv als (in der Sicht der Nachfragenden möglichst professionelle) Service-Dienstleister zu verstehen.
Immerhin spricht das Konzil in GS 4 von der Kirche als communio und ministratio, qualifiziert also – wenn beides nicht gegeneinander auszuspielen ist – die Gemeinschaft als Dienst(-leistung) und umgekehrt. Die Herausforderung besteht also in der positiven Annahme dessen, dass auch über kurze Begegnungen so etwas wie ein deutender „Zugang“ (access, vgl. Partizipationsformen in der Internet-Community) zu Christus gestaltet und eröffnet werden kann. Des Weiteren besteht die pastoral-liturgische Herausforderung in der Gestaltung von Situationen, die eher auf qualitätsvolle Kurzkontakte rekurrieren, wobei die Qualität auf der Ebene der authentischen Beziehungsgestaltung, der professionellen Vorbereitung und Gestaltung der Feiern (oft unter Einbezug der Partizipanten), besonders auf der Qualität der Ansprache, der Musik, der Ästhetik insgesamt liegt. Es bleibt zu hoffen, dass Seelsorgende diese missionarischen Situationen identifizieren und dann angemessen professionell reagieren können, ohne die Anfragenden an ihren (der Seelsorgenden) eigenen Bildern von Teilhabe und Christsein zu bemessen. Dabei ist es wohl wichtig, den je eigenen Sprachgebrauch zu überprüfen: ob man die Anfragenden als „Abständige“, „Taufschein-“ oder „U-Boot-Christen“ bezeichnet, als „Fernstehende“ oder „Gelegenheitschristen“ – oder ob man diese Begegnungen als eine positive Chance annimmt, das Verhältnis von je anders begriffener Berufung und (Lebens-)Antwort und damit je verschiede Formate der Nachfolge wahrzunehmen. Dann wird man auch so manches Lied, was zu einer Beerdigung des Vaters von einer CD gespielt werden soll, nicht als ein un-christliches abqualifizieren und zugunsten von Liedern aus dem Gesangbuch, die die Teilnehmenden oft gar nicht kennen und singen können, ablehnen, sondern vielmehr im Vorbereitungsgespräch dem nachspüren, was für den Verstorbenen (oder seine Hinterbliebenen) an Erfahrungen und an eigener (oftmals im Kontingenten vermittelter) religiöser Lebensdeutung mit diesem Lied verknüpft ist. Ein guter Prediger/eine gute Predigerin wird hier immer Anknüpfungspunkte für seine/ihre eigene einladende Verkündigung finden …
Gerade bei der Gestaltung von Kasualien ergeben sich Differenzen zwischen den Vorstellungen der Menschen und dem, was der Ritus vorsieht. Oftmals ist es möglich, den Brautpaaren zu verdeutlichen, dass das Hereinführen der Braut durch den Vater und die Zuführung zum künftigen Ehemann wohl zwar in amerikanischen Streifen so gezeigt werden, jedoch der Lebenssituation nicht gerecht werden, dass die Braut nicht vom Besitz des Vaters in den Besitz des Mannes übergeht und dass dieser Ritus angesichts längerer Phasen des partnerschaftlichen Zusammenlebens hohl ist, kurz: dass der kirchliche Ritus eher die gleiche partnerschaftliche Würde der Ehepartner und ihren gemeinsamen Weg darstellt als die Filmvariante.
Heiligabend mit dem zunehmenden Interesse von Menschen, hier die Krippenfeier oder einen anderen der weihnachtlichen Gottesdienste zu besuchen, scheint sich mehr und mehr zu einer entsprechenden Kasualie zu entwickeln. Und sicher besser, als den Versammelten „die Hölle heißzumachen“, weil sie nicht jeden Sonntag zur Eucharistiefeier kommen, ist es, in der Verkündigung kurz und knapp, einladend und erschließend zugleich zu sprechen und ernst zu nehmen, dass sie jetzt da sind. Das kann Ausgangspunkt und Anlass sein, gemeinsam dem Geheimnis von Weihnachten nachzuspüren und Lebensrelevantes zur Deutung anzubieten.
Liturgische Feiern mit einem größeren Kreis von Nicht-Christen oder Nicht-Glaubenden
In einer Hochschulgemeinde entwickelte sich, da am Hochschulstandort eine größere Zahl afrikanischer Studierender präsent war, ein spezieller Ritus anlässlich des Versterbens von nahen Verwandten im heimatlichen Kamerun. Die Studierenden unterschiedlicher Bekenntnisse und Religionen hatten, da sie weit weg von den sie tragenden Familienstrukturen im fernen Deutschland waren, das Bedürfnis, den Tod ihrer Verwandten – oft auch bestimmte Jahrtage – in einer bestimmten Weise zu begehen, die sich sicherlich an der in Afrika weit verbreiteten Familiensolidarität und an der Bedeutung des Ahnenkults entzündete. So entstand im Laufe der Zeit ein kleiner „Ritus“, der den Verstorbenen kommemorierte; es wurden französischsprachige Osterlieder gesungen, eine kleine Ansprache durch den/die Studierende/n über sein/ihr verstorbenes Familienmitglied gehalten. Die Feier wurde mit Tanz und Musik und biblischen Worten begleitet, vor dem Bild des Verstorbenen wurden Kerzen angezündet, am Ende stand immer eine Sammlung von Geld, teils zur Unterstützung der Hinterbliebenen, teils, um eine Reise des Familienangehörigen in die Heimat zu ermöglichen. So entwickelte sich ein spezifischer Kasualritus, der der spezifischen Situation der afrikanischen Studierenden angemessen war.
Einen viel größeren Kreis an Menschen spricht die alljährliche Martinifeier am 10. November auf dem Erfurter Domplatz an. Die Motive zur Gestaltung und zum Besuch dieser Feier durch Katholiken, die den heiligen Martin von Tours feiern, durch Protestanten, die des Reformators Martin Luther gedenken, wie auch durch Konfessionslose, die aus anderen Gründen mit ihren Kindern an der Feier teilnehmen, sind sehr unterschiedlich. Nicht unterschätzt werden sollten Aspekte von Kultur, Tourismus und Stadtmarketing. Christen und Nicht-Christen zeigen sich vereint in einer Feier, die irgendwie die Erfurterinnen und Erfurter verschiedener Weltanschauungen und Bekenntnisse unter dem geteilten Mantel des Martin vereint, denn dieser ist seit Jahrhunderten der Stadtpatron Erfurts. Aus einem bestimmten Verständnis von Liturgie könnte mancher natürlich einwenden, dies sei keine Liturgie im christlichen Sinne. Könnte eine solche Feier, so zivilreligiös sie auch sein mag, jedoch nicht doch im Augenmerk einer Kirche liegen, die ihre Vollzüge als Dienst an den Zeitgenossen im Sinne einer kulturellen oder rituellen Diakonie versteht? Können Christen hier nicht einen Beitrag leisten zur Stärkung eines bestimmten sozialen Zusammenhalts, in diesem Falle einer Stadt?
In solch ritendiakonischem Kontext kann auch ein Biker-Gottesdienst verstanden und gestaltet werden. Wer einmal erlebt hat, wie die rauen Biker auf einem zentralen Platz zusammenkommen und wie still es dann wird, wenn die Namen der im vergangenen Jahr im Straßenverkehr zu Tode Gekommenen verlesen werden, dann kann man einen Eindruck von der „Wirkmächtigkeit“ von Kasualien erhalten. Ohne zu wissen, was beim Einzelnen passiert, kann eine gut „inszenierte“ Feier Menschen berühren. Das Feld solcher „öffentlicher Gottesdienste“ ist bislang noch wenig erforscht. Liturgien angesichts von Großkatastrophen wie im Kölner Dom nach dem vom Copiloten herbeigeführten Absturz des Germanwings-Flugzeuges und der Gottesdienst auf den Erfurter Domstufen nach dem Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium zeigen, dass zumindest in Deutschland die Möglichkeit der Kirchen, solche Feiern auszurichten, nicht nur von den politisch Verantwortlichen, sondern auch von den betroffenen Angehörigen und vielen anderen sich solidarisierenden Menschen nachgefragt wird. Während in der civil religion in den USA der Staat der Akteur und der Präsident der „oberste Liturge“ ist, ist in Deutschland hier die Bedeutung insbesondere der beiden großen Kirchen sehr hoch. Mag man solche zivilreligiösen Feiern auch ablehnen, so ist es doch eine pastorale Chance – und manchmal auch eine Kunst –, diese Situationen zu identifizieren, durch eine positive Gestaltung anzunehmen und dabei immer wieder die Chance und Gelegenheit zu nutzen, christliche Verkündigung in (mehr oder weniger) vermittelter Weise auszudrücken zu versuchen, nämlich die Botschaft von dem in Jesus Christus nahe gekommenen Gott, der den Menschen ein Leben in Fülle verheißt. Kasualienkompetenz bei Feiern mit „Fernstehenden“ und mit „Menschen guten Willens“ meint, die entsprechenden Situationen wahrzunehmen und qualitätvoll zu gestalten. Diese Qualität erweist sich in Vorbereitung und Begleitung, Gestaltung und ggf. Nachbereitung von Kasualfeiern. Sie kann als Beziehungs-, Feier- und Predigtqualität betrachtet werden und beinhaltet wertschätzende und zugewandte Aufmerksamkeit, personale Präsenz und Authentizität der Beteiligten.