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Kasualien-Konkurrenz: die Kirche und ihre ‚Kunden‘

Die Liturgiewissenschaftlerin Kim de Wildt zeigt die Spannungen zwischen einem traditionellen Verständnis kirchlicher Liturgie und der heutigen ge­sellschaftlichen Realität auf. Insbesondere die Offenheit kirchlicher Kasua­lien für wenig oder nicht kirchenverbundene Zeitgenossen stellt eine pasto­rale und missionarische Herausforderung, aber auch Chance dar.

Es ist allgemein bekannt, dass der sonntägliche Gottesdienstbesuch für Kirchenmitglieder schon lange keine Selbstverständlichkeit mehr ist. We­niger als 11 % der Katholiken besuchen die Sonntagsmesse. Wenn Menschen heutzutage die Kirchen besuchen, ist es oftmals außerhalb der Liturgie, beispielsweise in der Form des religiösen Tourismus; dann werden am liebsten alte Kirchen besucht, die eine Atmosphäre des Trans­­zendenten ausatmen. Der Gottesdienstbesuch ist aber noch immer beliebt, vor allem an Weihnachten, nicht zuletzt aber auch bei Kasualien und Übergangsritualen, wobei auch hier die Atmosphäre eine nicht ge­rin­ge Rolle spielt.

Die Anziehungskraft für einen Kirchenbesuch kirchenferner Menschen scheint dabei heutzutage eher auf einem ästhetisch-atmosphärischen Bedür­fnis zu beruhen und nicht auf dem Bedürfnis, als Angehöriger ei­ner Glaubensgemeinschaft wöchentlich Liturgie zu feiern. Das Bedürfnis an Übergangsritualen schließt auch bei diesem atmosphärischen Be­dürfnis an: Die geradezu märchenhafte Idee, in einem weißen Braut­kleid vom Vater an den Bräutigam übergeben zu werden, in einem schön geschmückten, wunderbar traditionell wirkenden Kirchenbau, ist der Traum vieler Mädchen. Dass diese Ritualität eher einem ‚falschen Neo- Traditionalismus‘ entspricht und mit traditioneller Liturgie nichts zu tun hat, sondern mit dem Einfluss von Hollywood-Filmen, macht es kirch­li­cherseits nicht einfach, eine sowohl menschengerechte als auch gottge­rechte Hochzeitsliturgie zu gestalten. Es ist verwunderlich, dass moder­ne Menschen, die mit der ‚traditionellen und veralteten Institution Kir­che‘ nichts mehr zu tun haben wollen, dann bei diesen Ritualen plötzlich noch frommer als der Papst sein möchten und alle Errungenschaften der Postmoderne in casu Frauensache für einen Tag vergessen möchten. Jung­fräulich, obwohl man in manchen Fällen schon Jahre als Paar zu­sam­menlebt, kehrt die Frau für eine Nacht ins Elternhaus zurück, um sich am Arm ihres Vaters am nächsten Tag ihrem Mann zu präsentieren. Dies ist ein kleines Theater, das mit der Realität nichts zu tun hat. Die brisante Frage ist hier: Sollen die Kirchen auf dieses Bedürfnis des Men­schen eingehen, um die letzte Möglichkeit, Menschen in die Kirche zu bekommen, nicht zu verlieren? Sind die Kasualien die Zukunft der Kir­che? Bevor ich versuche, diese Frage zu beantworten, ist es wichtig, erst einmal den Kontext der heutigen Kasualpraxis zu schildern.

Kontext der Kasualien

Im 19. Jahrhundert taucht das Thema ‚Kasualien‘ als Antwort auf die Notwendigkeit auf, das pastorale Handeln mehr personen- und familien­bezogen zu gestalten. Der Begriff ‚Kasualien‘ stammt vom Lateinischen ‚casus‘, der Fall, und verweist somit auf eine konkrete Situation. Kasuali­en gehen aus von der Lebenswelt und Lebensgeschichte des Menschen und nicht von kirchlichen Lehren. Der Begriff Kasualien hat sich mitt­ler­weile ausgebreitet und bezeichnet nicht nur die klassischen Übergänge im Leben wie Taufe und Trauung, sondern auch andere Fälle, die die eigene Biographie markieren, zum Beispiel die populäre Praxis der Ein­schulung. Kasualien sind im katholischen Kontext nicht gleichzusetzen mit den Sakramenten und Sakramentalien, da diese sich im Kontext einer Beteiligung am ganzen kirchlichen Leben verstehen bzw. im Kon­text der Sonntagsliturgie (vgl. Grethlein 2007, 15–20). In Wirklichkeit ist es aber so, dass viele katholisch Getaufte sich in ihrer religiösen Praxis auf die Kasualien beschränken. In einem Geleitwort des Erzbischofs von Bamberg, Ludwig Schick, zu einer Studie über Kasualienfrömmigkeit bei KatholikInnen steht: „Die Distanz zur Kirche und das Nachlassen von Kir­chenbindung und -zugehörigkeit dürfen daher nicht als Schwinden von kirchlicher Religiosität oder Desinteresse an Glaube und kirchlichem Leben missdeutet werden. Ein Trugschluss wäre jedoch auch, die latente kirchliche Orientierung von kirchendistanzierten Menschen als Nähe zum kirchlichen Raum zu werten. Doch gerade im Erkennen dieser Nu­an­cen liegt die Chance, die kirchenfernen Christen mit ihrer Einstellung und ihren Anliegen ernst zu nehmen und den Kontakt zu ihnen besser zu gestalten. Als zweite Schlussfolgerung ist daraus zu ziehen, dass die Kir­che selbst die Kasualien in ihrem gottesdienstlichen Leben nicht gering­schätzen darf. Die Priester, Diakone und pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen die Kasualien stets gut vorbereiten und feiern, das heißt: ‚Diese müssen den Leuten etwas geben‘“ (Först/Kügler 2010, 7–9).

Der niederländische Liturgiewissenschaftler Paul Post schreibt in einem Aufsatz aus dem Jahre 2004, dass Joseph Ratzingers Buch ‚Der Geist der Liturgie‘ einen kulturpessimistischen Ansatz vertritt und Liturgie dort als eine Oase von Mysterium und Tradition verstanden wird, die konträr zur Kultur der Modernität steht (vgl. Post 2004, 31). Liturgie soll aber als solch ein Akt verstanden werden, der nicht für, aber durch die Gemein­schaft vollzogen wird, so Post. Die Idee einer Volkskirche oder einer Ge­meinschaft, die sich aktiv in die Liturgie einbringt, entspricht nicht der soziologischen Realität. Die Zahl der kirchenfernen Menschen, die sich ab und zu am kirchlich-liturgischen Angebot bedienen, ist viel größer als die der Kerngemeinschaft. Post deutet dieses Phänomen als das einer ‚Wahlkirche‘ (vgl. ebd., 32.55).

Sonntagsmesse als Freizeitangebot?

Trotz der verbreiteten Vorstellung, dass in der Vergangenheit Kirchenzu­gehörigkeit und Teilnahme am kirchlichen Leben eine Selbstverständ­­lichkeit gewesen seien, ist dies geschichtlich nicht immer so gewesen. Obwohl man kaum noch am kirchlichen Leben teilnimmt, ist das für viele Kirchenmitglie­der kein Grund, ihre Mitgliedschaft zu kündigen – oftmals wegen der Teilnahme an den Kasualien (vgl. Först/Kügler 2010, 17–20). Der Religionssoziologe und Theologe Michael Ebertz weist auf die enorme Kluft zwischen dem gelebten Glauben und dem, was kirchli­cherseits vorgeschrieben ist, hin. Da es der Kirche immer weniger ge­lingt, Abweichungen zu sanktionieren, verliert sie ihre Autorität. Der Abstand zwischen dem kirchlich-institutionellen Ideal und der alltäg­lichen Lebenswirklichkeit scheint unüberbrückbar. Ebertz weist darauf hin, dass die katholische Kirche eine Ritengemeinschaft ist, die abhängig von sozialen Sanktionen ist, im Gegensatz zur evangelischen Kirche, die eher auf eine ethische Kontrolle der Lebensführung setzt. Die legitime Repräsentation der katholischen Tradition liegt aber nach ‚klassischer‘ Vorstellung bei der klerikalen Hierarchie, welche die Heilsgüter verwal­tet, m. a. W.: Der Klerus legt die Normen fest für die Gläubigen, etwa die Kirchengebote: das Einhalten der Sonntags- und Feiertagsruhe und das Besuchen einer Messe an diesen Tagen, das Einhalten der Fastentage und mindestens einmal im Jahr Beichten; wenn die Sonntagspflicht mit Absicht nicht eingehalten wird, wird eine schwere Sünde begangen. Wenn man sich bewusst ist, dass von ca. 24 Millionen Kirchenmitglie­dern hierzulande 89 % nicht zur Sonntagsmesse gehen, kann davon aus­­gegangen werden, dass die Kirche als moralische Instanz auch in den Köpfen ihrer eigenen Mitglieder schon längst verloren hat. Die Sonntags­pflicht ist zur Sonntagsoption geworden: also eine Möglichkeit innerhalb einer ganzen Palette an Freizeitangeboten, die viele anscheinend attrak­ti­ver finden. Seit einigen Jahrzehnten verliert die Idee der kirchlich-geist­lichen Herrschaft an Gewicht, und auch die persönliche Religiosität ist immer weniger kirchlich gebunden: Ein Indiz dafür sind auch die ex­trem zurückgehenden Beichtzahlen. Eine wachsende Anzahl der Kir­chen­mitglieder weicht nicht nur von Glaubenspraktiken ab, sondern auch von Glaubensvorstellungen. Für sie gilt zunehmend, dass es einen Sinn des Lebens gibt, aber dieser ist individuell und nicht institutionell geprägt. Die Institution Kirche wird zunehmend als Dienstleister in den Bereichen Riten, Kasualien und Weihnachten betrachtet. Hier gilt je­doch, dass die Kirche nicht mehr der einzige Anbieter auf dem Sinnge­bungsmarkt ist und sie zunehmend in einer Konkurrenzposition zu anderen Anbietern steht (vgl. Ebertz 1999).

Abweichen vom ‚Normallebenslauf‘: Befreiung von Fesseln oder die Qual der Wahl?

Woran wird gedacht, wenn man das Wort ‚Familie‘ hört? An Vater und Mutter mit 1,4 Kindern? Die Arbeitshilfe der Deutschen Bischofskon­ferenz ‚Katholische Kirche in Deutschland. Zahlen und Fakten 2014/15‘ zeigt auf Seite 8 eine Grafik von Vater, Mutter und ihrem Nachwuchs: ein Junge und ein Mädchen (vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofs­konferenz 2015, 8). Vielleicht denken heute viele Menschen, wenn sie das Wort ‚Familie‘ hören, aber eher an die populäre Fernsehserie ‚Modern Family‘, die eine Patchwork-Familie zeigt.

Der Kultursoziologe Günter Burkart betrachtet den menschlichen Le­benslauf als eine soziale Konstruktion: Einerseits wird das Leben durch institutionelle Vorgaben strukturiert, andererseits interpretiert durch kulturelle Deutungen. Eine zyklische Zeitvorstellung ist längst zugun­sten einer linearen Zeitvorstellung, gegliedert durch Lebensphasen, ab­ge­löst worden. In der linearen Zeitvorstellung ist die Idee der Lebenspla­nung aufgekommen. In der Moderne entwickelte sich zunehmend die Vorstellung von einem standardisierten lebenszeitlichen Ablaufplan: der ‚Normallebenslauf‘ von der Schulpflicht bis ins Rentenalter. Diese Ent­wicklung hat zu einer Homogenisierung der Lebensläufe geführt. In der heutigen Lebensplanung gibt es aber eine bemerkenswerte Spannung zwischen Standardisierung und Individualisierung: Der von Institutions­seite her stark geregelte Lebenslauf soll möglichst individuell gestaltet werden. Im Mittelpunkt des sogenannten Normallebenslaufs steht die Erwerbsphase. Es ist ein Mo­dell, das von der Situation der 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts ausgeht und das den Mann als Ausgangs­punkt nimmt, wobei die Frau als Unterstützung des Mannes gilt und für die Erziehung der Kinder zuständig ist. Für viele trifft das veraltete Mo­dell heute selbstverständlich nicht mehr zu. Das Gestalten des eigenen Lebens und das Reflektieren auf die eigene Biographie hat in den letzten Jahren zugenommen. Das ist nicht alles ausschließlich positiv zu bewer­ten: Der Leistungs- und Entscheidungsdruck nimmt durch die Individua­li­sierung auch zu. Hinzu kommen noch Faktoren wie die zunehmende Flexibilität, die im Berufsleben erwartet wird. Dass jemand wie mein Vater 40 Jahre beim selben Arbeitgeber bleibt, wird immer ungewohn­ter. Auch im privaten Bereich ist die Normalbiographie nicht mehr die Normalität: Die letzten Trauungen, die ich miterlebt habe, waren von Paaren, die schon Jahre zusammenlebten und die die Trauung nicht als ein Initiationsritual, als einen Schritt ins Erwachsensein verstanden haben, sondern als ein Bestätigungsritual, das meistens auch eine aktive Rolle des eigenen Nachwuchses als ‚Brautkinder‘ beinhaltete (vgl. Burkart 2008).

Die Kirche orientiert sich in ihrem rituellen Angebot noch immer am ‚Normallebenslauf‘ und gerät in Verlegenheit, wenn diese Normalbio­gra­phie nicht der Realität entspricht. Die bereits genannte Arbeitshilfe der Bischofskonferenz zeigt einige Aussagen der Befragten zur Familien­synode 2015, die darauf hinweisen, dass die Kirchenmitglieder sich angesichts der veränderten Realität ein anderes Verhalten ihrer Kirche wünschen (vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2015, 10–11).

Lebensfern und lebensnah: eine unmögliche Gratwanderung?

Die österreichischen Pastoraltheologen Christian Friesl und Regina Polak analysieren den Zustand der Kirche folgendermaßen: Einerseits ist Reli­gion ein Megatrend, aber andererseits befindet sich die Kirche in einer Kri­se und ist im Leben der Menschen immer weniger präsent. Diese Krise verorten die Autoren im Bedeutungsverlust klassischer Glaubens­vermittlungsinstanzen, etwa der Familie, sowie in dem Faktum, dass Religion rein auf Moral reduziert wird, und in der daraus resultierenden Unglaubwürdigkeit der Kirche, da sie lebensfern ist und ihre morali­schen Grundsätze nicht einhaltbar sind. Nicht zuletzt sehen Friesl und Polak auch eine Organisationskrise, in der Probleme nicht schnell, offen und effektiv gelöst werden, Veränderungen nur langsam geschehen, die Kirche zu sehr um sich selbst kreist und wenig gesellschaftspolitische Bedeutung hat. Dieser Aufsatz belässt es aber nicht nur bei Kritik an der Kirche, sondern sieht auch positive Möglichkeiten für die Zukunft. Reli­gi­on hat sich nicht abgeschafft, ihr Ansehen hat sich gewandelt. Men­schen wünschen sich keine Dogmen, sondern eine Art therapeutischen Glauben, weil das Bedürfnis nach Sinn und Halt zunimmt. Gefragt ist hier eine Annahme der Welt und der heutigen Menschen (vgl. Friesl/ Polak 1999). Einerseits soll die Kirche nah am Leben der Menschen sein: als Wegweiser und Hilfe, speziell in Lebensübergängen; andererseits ak­zeptiert der heutige Mensch einen allwissenden, immer Recht habenden moralischen Gesetzgeber in Sachen Lebensführung nicht mehr und be­trachtet die Kirche als eine weltfremde Instanz. Es ist nicht zu erwarten, dass die heutigen Menschen sich einem Glaubensgehorsam unterwer­fen. Die Kirche befindet sich daher in einer schwierigen Lage: Sie kann und will sich nicht den Bedürfnissen des heutigen Menschen beliebig anpassen, weil sie ansonsten ihre eigene Identität verliert; wenn sie sich aber nicht anpasst, verliert sie nicht nur ihre eigene ‚Kundschaft‘, son­dern auch ihre Glaubwürdigkeit als lebensnahe Institution.

Freie Ritualanbieter

Im Bereich der freien Ritualanbieter trifft man weniger ‚Geburtsriten‘ an – im Gegensatz zu Hochzeits- und Beerdigungsriten. Die Situation in den alten und neuen Bundesländern ist sehr unterschiedlich: In den al­ten Bundesländern wird ein Großteil der Kasualien noch von den Kirchen angeboten, in den neuen Bundesländern sind weltliche Rituale keine Aus­nahme. Der Begriff ‚frei‘, womit sich freie RednerInnen, freie Theo­lo­gInnen usw. bezeichnen, deutet deren Nicht-Verbundenheit mit einer kirchlichen Institution an. Das Bedürfnis an nicht-kirchlichen Kasualien nimmt in den letzten Jahren zu, u. a. aufgrund zunehmender Individua­lisierung. Nicht das Anpassen der eigenen Lebensbiographie innerhalb einer christlichen Glaubensgemeinschaft ist zentral, sondern den Mit­telpunkt bildet zunehmend die eigene Lebensbiographie. Diese Wand­lung passt zu den heutigen menschlichen Empfindungen, für die die eigene Biographie eine zentrale Rolle spielt, wie oben schon angemerkt. Der evangelische Theologe Andreas Fincke stellt die wichtige Frage, ob es wirklich so ist, dass kirchlicherseits angebotene Bestattungen unper­sönlicher sind als Bestattungen von nicht kirchlich gebundenen Ritual­anbietern. In seinem Aufsatz macht er deutlich, dass es schwierig ist, von freien Ritualanbietern zu reden, da es eine Vielzahl an Orientierun­gen innerhalb der ‚freien‘ Praxis gibt (vgl. Fincke 2004). Der Liturgie­wis­senschaftler Benedikt Kranemann beschreibt die von freien Ritual­an­bietern angebotenen Rituale als Phänomene, die speziell darauf abzie­len, individuell und nicht institutionell gestaltet zu werden. Er ist kri­tisch gegenüber diesen Angeboten: „Eine Vielzahl von Handbüchern signalisiert Misstrauen gegenüber Tradiertem und Suche nach Neuem, weist aber zugleich auf fehlende rituelle Kompetenz und schieres Un­vermögen hin. Höchst bedenklich ist, dass manche dieser Bücher mini­male theologische Standards außer Acht lassen sowie in Sprache und rituellem Habitus problematisch sind.“ Der Unterschied zwischen dem kirchlichen Angebot und dem Angebot der freien Ritualan­bieter ist kirch­licherseits die Traditionsverbundenheit, während auf Seiten der freien Ritualanbie­ter das Individuum mehr im Zentrum steht (Kranemann 2006). Die Theologin und freie Trauerrednerin Birgit Janetzky bestätigt, dass nicht-kirchliche Feiern für sich in Anspruch nehmen, „persönlicher zu sein als kirchliche. Damit werben die meisten freien Redner. Der Bio­graphie des Verstorbenen, der Erinnerung an wichtige Wendepunkte seines Lebens und seiner Persönlichkeit wird wesentlich mehr Raum gegeben“ (Janetzky 2003, 235). In einem Beitrag über nicht-kirchliche Hochzeitszeremonien beschreibt Janetzky die Gründe, warum Paare nicht kirchlich heiraten können oder wollen. Diese Gründe sind vielfältig: z. B. der Pfarrer möchte nicht zum Wunschort des Paares kommen, Gleichgeschlechtlichkeit des Paares, schon einmal katholisch verheiratet gewesen oder das Bedürfnis nach einer einzigartig gestalteten Hochzeitszeremonie (vgl. Janetzky 2006, 75–77).

Fazit

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass ich in beiden Bereichen, den von der Kirche angebotenen, ritualisierten Kasualien als auch den von frei­en Ritualanbietern ritualisierten Übergangsritualen, sehr unter­schied­liche Qualitäten erlebt habe. Es ist nicht so, dass kirchliche Riten nur einen vorgefertigten Ritualverlauf abarbeiten und die freien Ritual­anbieter immer kreative, maßgefertigte rituelle Feiern inszenieren. Ich erlebte katholische Requien, die sich kaum der Biographie des Verstor­benen widmeten sowie der Trauer der Hinterbliebenen annahmen, son­dern einem quasi ‚normalen‘ Messablauf folgten, und kirchliche Bestat­tungen, die sich durch eine sowohl gott- wie auch menschengerechte Liturgie auszeichneten und die schwierige Gratwanderung zwischen Objekt- und Subjektorientierung aushielten, indem den Angehörigen auch eine große aktive Teilnahme an der Liturgie zuteilwurde. Auch bei den freien Ritualanbietern habe ich durchaus gelungene Abschiedsfeiern miterlebt, die die Biographie des Verstorbenen und den Verlust der Trau­ernden in eine sinnvolle Harmonie und Bedeutungszuschreibung einfü­gen konnten, doch auch in diesem Bereich gibt es weniger gelungene Angebote.

Am Anfang dieses Beitrags habe ich über das atmosphärische Ambiente des Kirchenraums geschrieben, das heutzutage viele kirchenferne Men­schen anzieht. Die Kirchenräume sind ein nicht zu vernachlässigender Schatz der Kirche; sie ziehen freilich oftmals nur durch eine historisch wirkende Atmosphäre den heutigen Menschen an. Die Kunsthistorikerin Monika Schmelzer beschreibt, dass die meisten Menschen heute histori­sche Kirchen als ‚rich­tige Kirchen‘ wahrnehmen, auch wenn diese von der Qualität eher als qualitätslos zu bezeichnen sind, im Gegensatz zu modernen Kirchenbauten, die, wenn auch qualitätsvoll, nicht als ‚rich­tige Kirchen‘ wahrgenommen werden (vgl. Schmelzer 2013, 118 f.). Das Bedürfnis, eine Feier, sei es an Weihnachten oder anlässlich einer Hoch­­zeit, in solch einem historisch wirkenden Kirchenraum zu erleben, ha­ben die kirchenfernen Besucher weiterhin. Hier liegt die Möglichkeit der Kirche, diese kirchenfernen Menschen nicht zu marginalisieren oder als störendes Element wahrzunehmen, das ab und zu auftaucht, nur das ‚Schöne‘ erleben möchte und dann wieder unverbindlich verschwindet. Diese Menschen – ohne Biographien, die an ein klassisches Familienide­al anschließen, und die sich vielleicht auch gerade deswegen von der Kirche ausgeschlossen fühlen – finden trotzdem ihren Weg zur Kirche, wenn es darauf ankommt: Wenn sie Kontingenzerfahrungen erleben, wenn sie in den dunklen Jahreszeiten ihre Einsamkeit spüren und sich in einer ansprechenden Atmosphäre doch wieder einmal, sei es auch noch so kurz, als Teil eines größeren Ganzen, sei es der Gemeinschaft, sei es Gott, fühlen möchten. Hier liegt die Möglichkeit der Kirche, sich bei sol­chen Gelegenheiten von ihrer diakonischen Seite zu zeigen und eine Stütze für all jene zu sein, die sich ihr zuwenden.