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Gottesdienst an Andersorten

Oft versuchen Verantwortliche, mit einem „ganz anderen Gottesdienst“, näherhin an ungewöhnlichen Orten, neue Zielgruppen anzusprechen. Auf dem Hintergrund des philosophischen Konzepts der „Andersorte“ reflektiert, erweist sich die Liturgie als solche selbst als kreativer Andersort. Es erweist sich als eine missionarische Chance, dies für diejenigen, die am liturgischen Leben auf spezifische Weise teilnehmen, tatsächlich zu realisieren, z. B. in der Feier von Kasualien.

Gottesdienst braucht einen Ort – ganz konkret. Doch was ist, wenn der Ort nicht der gewohnte, sondern ein anderer sein soll? „Gottesdienste an Andersorten“ sind ein aktuelles Phänomen, und es lohnt sich nachzufra­gen, was denn den Andersort ausmacht und wie er sich auf die Liturgie auswirkt. Gerade die Bezeichnung „Andersorte“ könnte suggerieren, dass das Eigentliche schon darin bestünde, einen anderen Ort als den Kirchenraum aufzusuchen. Was qualifiziert diesen Ort als Andersort? Nur dass er für einen Gottesdienst möglichst kurios erscheint? Und wie wirken sich solche Orte auf die Feier des Gottesdienstes aus?

Liturgie und Andersorte – eine Verhältnisbestimmung

Die Rede von Andersorten hat ihren ursprünglichen Kontext nicht im Bereich der Liturgie, nicht einmal im Bereich der Theologie, sondern kommt aus dem Bereich der Philosophie und der Soziologie, wurde dann aber in der Systematischen Theologie bedacht (vgl. Sander 2007; 2009), in der Pastoraltheologie rezipiert (vgl. Bauer 2003; 2015) und findet nun auch über das Phänomen der „Gottesdienste an Andersorten“ Eingang in die Überlegungen zur Liturgie.

Die Rede von Andersorten geht auf den französischen Philosophen Michel Foucault zurück, der 1967 den Begriff der Heterotopien (hetero = anders; topos = Ort) prägte, und zwar in Absetzung von Utopien. Letzte­re sind nicht-existente Orte, wörtlich: Nicht-Orte. Mit diesem Begriff wer­den gemeinhin Wunschbilder und Visionen beschrieben, etwa einer perfekten Gesellschaft. Nach diesen Utopien sehnt man sich, aber ihr Kennzeichen ist, dass sie unwirklich sind und keinen realen Ort bieten. Heterotopien sind hingegen „wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegen­plazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, be­stritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können“ (Foucault 1967, 39).

Bevor von Liturgie an Andersorten zu sprechen ist, fällt auf, dass sich Liturgie bei genauer Betrachtung selbst als ein Andersort erweist. Inwie­­fern? Hinsichtlich der Liturgie ist es das Spezifikum des Zweiten Vatika­­nischen Konzils, dass es das Wesen der Gottesdienstfeiern vom Pascha­mysterium her erschließt (vgl. Haunerland 2012). Der Bezug auf das Paschamysterium zieht sich wie ein roter Faden durch die Liturgie­kon­stitution und wird zum theologischen Schlüsselbegriff. Was das Pascha­mysterium beinhaltet, akklamieren die Gläubigen in der Eucharistiefeier an zentraler Stelle, nämlich nach den Einsetzungsworten: „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir …“ Das macht nicht nur den Kern der Eucharistiefeier aus, der großen Danksa­gung für Tod und Auferstehung Jesu Christi, sondern ist der Kern eines jeden Gottesdienstes. Doch damit steht etwas im Zentrum der Liturgie, das seinerseits als Heterotopos schlechthin zu verstehen ist.

Aus christlicher Sicht gilt: Im Kreuz ist Heil. Theologisch stimmt diese Aussage, doch darf sie nicht dazu verführen, dies als allzu selbstver­ständlich hinzunehmen. Denn zunächst einmal ist das Kreuz der Ort des Scheiterns – und zwar nicht nur einer „Mission“ oder der „Sache Jesu“, sondern des Lebens. Jeder Tod beendet das Leben und stellt damit auch das Leben an sich in Frage. Das gilt auch für Jesus: Die Gläubigen beken­nen ihn als den Sohn Gottes; in ihm offenbart Gott selbst, was er für die Welt sein will, nämlich sich selbst verschenkende Liebe. Wo diese Liebe wirkt, da bricht das Reich Gottes an. Doch was bleibt noch davon, wenn Jesus am Kreuz hingerichtet wird? Dann ist die Liebe Gottes offenbar auf keine Gegenliebe bei den Menschen gestoßen. Zunächst einmal ist da­mit alles gescheitert. Das Eigentümliche liegt darin, dass Gott dieses Scheitern zulässt, denn weder lässt der Vater den Kelch vorübergehen, noch steigt Jesus vom Kreuz herab. Letzterer gibt sich vielmehr sehen­den Auges in den Tod.

So gesehen ist das Sterben Jesu am Kreuz nichts Besonderes: Der Tod ist das Sicherste im Leben überhaupt, er ist alltäglich und zwangsläufig; und seitdem Menschen unter der Erbsünde stehen, tun sie sich und Gott „Lieblosigkeiten“ an. Doch das Besondere liegt darin, dass Gott damit kein grundsätzliches Problem hat: Er kann es nicht nur zulassen, sondern kann das äußere Geschehen des Sterbens übersteigen. Indem Christus – und dies ist die Botschaft des Abendmahls am Gründonnerstag – die Deutungshoheit über sein Sterben wahrnimmt, wird aus der bloßen Tat der Hinrichtung und aus dem äußerlichen Geschehen des qualvollen To­des eine Liebestat: „mein Leib für euch – mein Blut für euch“! Die Aufer­stehung bestätigt diese Deutung und macht deutlich, dass es nicht bei einer Absichtserklärung bleibt, sondern Gott handelt und dem äußeren Geschehen einen neuen Sinn gibt. Doch eben somit erweist sich das Kreuz als Heterotopos, als eine – um mit Foucault zu sprechen – „Gegen­plazierung“ oder ein „Widerlager“, eine „tatsächlich realisierte Utopie“ (Foucault 1967, 39).

Doch über diese erste Konkretisierung hinaus lassen sich Wesensmerk­mal der Liturgie festhalten, die diejenigen eines Heterotopos sind und die Liturgie insgesamt von ihrem Selbstverständnis her als Andersort kennzeichnen. Sie lassen sich in Anlehnung an die Grundsätze eines Heterotopos nach Foucault benennen:

  • Heterotopien haben sich wahrscheinlich in jeder Kultur auf der Welt etabliert. In den sogenannten Urgesellschaften sind es v. a. Krisen­hete­rotopien, die Individuen in Krisen (z. B. menstruierenden Frauen, Wöchnerinnen, Alten) einen Ort geben. Heute treten eher Abwei­­­chungs­heterotopien hervor, in die man Menschen „steckt“, die von der Norm abweichen (Psychiatrie, Gefängnis, Altenheim). Die Liturgie bietet Menschen in bestimmten Krisen einen Ort. Ein Beispiel hierfür ist der Muttersegen, dessen heutige liturgische Texte den Dank für die Geburt und die Bitte um Schutz in den Vordergrund stellen (Benedik­tionale 1979, 91–95). Damit reagiert der Segen auf die Sondersi­tua­tion, in der sich die junge Mutter befindet, und die auch angesichts des freudigen Ereignisses durchaus als eine Krise erfahren wird. Post­partale Stimmungskrisen weisen darauf hin. Der liturgische Segen ist eine Möglichkeit darauf zu reagieren. Er eröffnet in diesem Sinne ei­nen Krisenheterotopos. In diesem Sinne kann auch die Krankensal­bung gedeutet werden: Sie wird in der Krisensituation der Krankheit gefeiert. Dabei erhebt sie gar nicht den Anspruch, die Krankheit an­stel­le von Medizin zu heilen, doch spricht sie dem Kranken die Gegen­wart Christi und damit Heil zu und wird damit zum Heterotopos.
  • Heterotopien können ihre Funktion im Laufe der Geschichte verän­dern. Beispielsweise ist der Friedhof ein anderer Ort im Verhältnis zu den gewöhnlichen kulturellen Orten, doch inmitten der Stadt oder dem Dorf gelegen ist er eng mit den Bewohnern verbunden. Mit der Individualisierung des Todes im 18./19. Jahrhundert entsteht ein Kult um den einzelnen Verstorbenen. Zugleich wird der Friedhof aus der Stadt heraus an den Rand verlagert und etabliert sich als „andere Stadt“, weil man befürchtet, die Nähe der Toten verbreite den Tod. Vor diesem Hintergrund wäre es reizvoll, weiter zu überlegen, wie der Trend zur Bestattung im naturbelassenen Waldstück zu deuten ist. Verliert der Friedhof nun seine Bedeutung als Heterotopos? Wird nun die Natur zu einem neuen Heterotopos? Solche Funktionsänderungen sind der Liturgie nicht fremd, nicht einmal in ihrem innersten Kern, wie ein Blick auf die Eucharistiefeier zeigt. Auch ohne behaupten zu wollen, die Deutung der Eucharistie sei der Beliebigkeit ausgesetzt, kann man doch nicht umhin festzustellen, dass das Verständnis der Eucharistiefeier im Laufe der zweitausendjährigen Geschichte der katholischen Kirche – um nur diesen Teilaspekt anzuführen – nicht unverändert geblieben ist. Vielmehr sind je nach kultur-, geis­­tes-, theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichem Kontext verschie­dene Aspekte des Sinngehalts der Eucharistie in den Vordergrund getreten (vgl. Angenendt 2014; Saberschinsky 2015, 49–133).
  • Heterotopien können – obwohl sie selbst nur ein einziger Ort sind – mehrere Räume und verschiedene Platzierungen zusammenlegen, die sonst unvereinbar scheinen. Beispielhaft sind hierfür das Theater und das Kino. Aber auch Gärten können dies leisten, wenn sie Teile der Welt oder bestimmte Orte repräsentieren wollen. Dieses Kenn­zeichen gilt für die Liturgie nicht nur im übertragenen Sinne, sondern ganz konkret für bestimmte Orte im liturgischen Raum. So wird der Altar, an dem das Heilige Messopfer gefeiert wird, traditionell als der Ort gedeutet, an dem sich der Himmel auftut. In neuerer Zeit hat u. a. Rudolf Schwarz den Altar als Schwelle, als Ort des Übergangs zwi­schen Erde und Himmel gedeutet: „Lichtvolle Leere reicht herein bis auf den Altar. So gehört dieser Altar wohl der Gemeinde zu, denn er steht mitten in ihr; aber gerade dort, im Herzpunkt des Volksraumes, beginnt die unterbrechende Lücke. So ist er beides, Mitte und Über­gang, Scheitel und Schwelle. […] am Altar endet der begehbare Weltteil“ (Schwarz 1947, 45 f.).
  • Heterotopien arrangieren auch Zeitabschnitte in ungewohnter Weise: „Die Heterotopie erreicht ihr volles Funktionieren, wenn die Men­schen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen“ (Foucault 1967, 43). Auch hier ist der Friedhof ein passendes Beispiel als ein Ort, an dem Zeit und Ewigkeit sowie Tod und ewiges Leben konfrontiert werden. Museen und Bibliotheken sind in diesem Sinne Heterotopien, weil sie alles zusammentragen und versuchen, einen „Ort aller Zeiten“ zu schaffen. Doch auch Flüchtigkeit kann zeitliche Heterotopien prägen: Festwiesen und Feriendörfer heben auf ihre je eigene Weise die Zeit auf, nicht auf Dauer, sondern um wieder in die Zeit (des Alltags) zu­rückzukehren. An diesem Punkt erweist sich vielleicht am deutlich­sten die Liturgie als Heterotopos, ist es doch ihr Kennzeichen, dass sie die Feiernden in neue zeitliche Zusammenhänge stellt. Im Unter­schied zu mythologischen Religionen nimmt das Christentum nicht auf eine Dimension außerhalb der Zeit Bezug, sondern auf konkrete und irreversible geschichtliche Ereignisse, in denen es das Handeln Gottes erkennt. Die Liturgie bezieht sich auf diese Ereignisse jedoch nicht in einem rückwärtsgewandten, sondern in einem vergegenwär­tigenden Erinnern, das die Feierenden in die Heilsgeschichte hinein­stellt. Dieses Konzept der Anamnese (vgl. Wahle 2006) liegt auch der Schriftverkündigung im Gottesdienst zugrunde, denn die Lesungen wollen nicht belehren oder informieren, sondern verorten die Mitfei­ernden im Kontext der Heilsgeschichte, machen sie zu Zeitgenossen des Heilshandeln Gottes.
  • Heterotopien sind nicht frei zugänglich. Entweder wird man zum Ein­tritt gezwungen (Wehrpflichtiger in der Kaserne, Insasse im Gefäng­nis), oder man muss sich Riten, z. B. Reinigungsriten, unterziehen. Li­tur­gie ist ebenfalls nicht ohne weiteres zugänglich. Dazu muss man nicht auf das eher historische Beispiel der Arkandisziplin, sondern kann auch auf den Eröffnungsteil der Eucharistiefeier verweisen. Hier müssen die Gläubigen gewissermaßen beim Eintritt in den Hetero­to­pos der gottesdienstlichen Feier mit dem Schuldbekenntnis erst inne­halten und sich bereiten.
  • Heterotopien entfalten schließlich eine Differenz zu dem verbleiben­den Raum. Entweder sie erschaffen einen Illusions- (ehemals be­­rühm­­te Bordelle) oder einen Kompensationsraum, der im Unter­schied zur übrigen Welt perfekt geordnet ist (Kolonien, v. a. Jesuiten­kolonie in Paraguay). Ersterer gibt der Illusion einen Ort und ruft die Möglichkeiten hervor, die innerhalb der Gesellschaft nicht realisiert werden können. Letzterer thematisiert, was an der Ordnung der Ge­sellschaft noch fehlt (nicht über sie hinausgeht) und kompensiert die unvollkommene Realität durch eine neue idealisierte. Auch Liturgie schafft gewissermaßen einen Illusionsraum, denn sie ist nicht nur vergegenwärtigendes Gedächtnis, sondern blickt zugleich auch auf die zukünftige Vollendung aus. Das kommt in Beschreibungen zum Aus­druck, die die gottesdienstliche Feier als „Anteil an der himmlischen Liturgie“ charakterisieren, aber auch im liturgischen Text selbst, etwa wenn im Tagesgebet an Fronleichnam die Eucharistie als „Unterpfand künftiger Herrlichkeit“ beschrieben wird.

Diese kurze Übersicht über die Einzelaspekte liturgischer Feiern macht deutlich, dass Liturgie selbst ihrem Wesen nach ein Hetero­to­pos ist. Da­mit ist Liturgie freilich nicht mittels einer soziologischen Betrachtung erschöpfend erfasst. Denn der Raum, der von der Liturgie als Heteroto­pos eröffnet wird, ist zwar äußerlich von Menschen so arrangiert, doch im Selbstverständnis derjenigen, die diesen Raum betreten, also der Liturgie feiernden Gläubigen, ist es Gott selbst, der diesen Raum ordnet. Nicht der Mensch selbst muss die göttliche Ordnung garantieren.

Liturgie an Andersorten – eine kritische Sichtung

Die bisherigen Bestimmungen eines Andersortes und der Liturgie haben mehr geleistet, als lediglich die Begriffe zu klären; es ist bereits Wesent­li­ches zum Verhältnis von Andersorten und Liturgie deutlich geworden. Vor allem ist offenbar, dass es einen Andersort nicht wesentlich aus­macht, dass er einfach in einer aus einer bestimmten Perspektive unkon­ventionellen Ortswahl besteht – konkret: Ein Andersort für eine liturgi­sche Feier wird nicht dadurch zu einem solchen Andersort, dass aus der Perspektive der Gottesdienstfeiernden anstelle des regulären Kirchen­rau­mes ein anderer, ungewohnter Ort als der reguläre Kirchenraum ge­wählt wird. Chr. Bauer bringt es auf den Punkt: „Es stellt sich die Frage: Was ist hier eigentlich für wen anders? In der Wahrnehmung der meis­ten unserer Zeitgenossen sind nämlich […] kirchliche Orte reichlich fremdartigere Andersorte und gerade nicht der Hauptbahnhof, das Tattoo-Studio oder der Bio-und-Regional-Kiosk im Stadtpark“ (Bauer 2015, 140).

Ein Ort für eine Gottesdienstfeier, der ein anderer als der gewohnte ist, kann ein Andersort sein, doch die Abweichung vom Gewohnten ist noch kein hinreichendes Kriterium. Siedelt man aber die Gottesdienstfeier an einem anderen Ort als dem konventionellen an, bestehen zwei Möglich­keiten. Die erste Möglichkeit ist, dass der Ort nur von den auch ansons­ten Mitfeiernden oder denen, die den Gottesdienst vorbereitet haben, als fremd wahrgenommen wird. Doch das gilt keineswegs zwangsläufig für die Menschen, die sich regulär an diesem Ort aufhalten. Ein Beispiel hierfür wäre ein Gottesdienst in der S-Bahn (vgl. KNA 2015): Es ist selbstre­dend ungewöhnlich, in einem öffentlichen Verkehrsmittel im Alltagsge­schehen einen Gottesdienst anzusetzen, doch für beispiels­weise Berufs­pendler ist die S-Bahn eher kein Andersort.

Doch was kann sich in der Begegnung zwischen den Welten der S-Bahn und des Gottesdienstes für die Beteiligten ereignen? Hier sind zwei Perspektiven denkbar: Aus der Perspektive derjenigen, die in die S-Bahn einsteigen, um einen Gottesdienst zu erleben, kann der für sie fremde Ort eine Sehhilfe werden, Altes neu oder gänzlich Neues zu entdecken, weil bekannte Vollzüge und Deutungen mit dem ungewohnten Ort kor­respondieren, vielleicht von ihm her kontrastieren. Umgekehrt kann sich aus der Pers­pektive derjenigen, die sich ganz regulär an diesem Ort auf­halten, aber an dem für sie fremden gottesdienstlichen Geschehen dort beteiligt werden, eine neue Dimension oder Sichtweise am bekannten Ort eröffnen, weil Gewohntes hinterfragt oder in einem neuen Licht ent­deckt wird. Zweierlei ist für beide Perspektiven zu bedenken: Erstens werden beide Perspektiven nur wirksam, wenn man den Ort ernst nimmt. Sie eröffnen sich beispielsweise nicht, wenn man den Ort nach den Maßstäben des regulären Got­tesdienstortes umgestaltet und damit überlagert, etwa, indem man eine Messehalle nach dem Vorbild der Kir­che in Taizé umdekoriert. Und zweitens gilt für beide Perspektiven, dass hier die Liturgie selbst als Andersort fungiert, weniger der Ort des Got­tes­dienstes. Genau besehen und gemessen an den oben erschlossenen Kriterien eines Andersortes handelt es sich um keine Liturgie an einem Andersort.

Dies wäre jedoch die zweite Möglichkeit, nämlich dass der Ort der Got­tesdienstfeier tatsächlich die Qualität eines Andersortes hat, und zwar für alle Beteiligten. Solche Andersorte können das Kino sein, eine Bundes- oder Landesgartenschau, unter bestimmten Umständen ein Bahnhof oder eine Autobahnkirche. Das Kino kann – unabhängig vom Gottes­dienst – Vorstellungsräume eröffnen, die über den Alltag hinaus­gehen. Für eine Gartenschau gilt Ähnliches. Der Bahnhof ist für die Rei­senden (weniger für die Berufspendler) ein Andersort, so wie für Fou­cault das Reisemittel, speziell das Schiff, der Inbegriff der Heterotopie ist, „ein schaukelndes Stück Raum, ein Ort ohne Ort, der aus sich selber lebt, der in sich geschlossen ist und gleichzeitig dem Unendlichen des Meeres aus­geliefert ist“ (Foucault 1967, 46). Auch auf eine Autobahn­kirche trifft dies insofern zu, als sie ein Ort für Menschen auf Reisen ist und ihren Standort an Rastplätzen hat. Der Autobahnrastplatz mit seiner Betrieb­samkeit ist seinerseits schon eine Sonderwelt, doch die Autobahnkirche eröffnet noch einmal einen besonderen Raum in Ab­setzung vom Rast­platzbetrieb. Bedenkt man mit, dass Liturgie ihrer­seits ein Andersort ist, ergibt sich daraus, dass Liturgie an Andersorten zu feiern bedeutet, an einem Andersort einen Andersort zu eröffnen. Was sich prima vista wie eine Spiegelfechterei anhört, muss näher betrachtet werden. Und auch hier ergeben sich zwei Möglichkeiten.

Die erste Möglichkeit besteht darin, dass sich die beiden Andersorte, also der Ort der Gottesdienstfeier und die Liturgie ihrerseits sich gewisserma­ßen im Gleichklang befinden bzw. die gleiche Ausrichtung haben. Dann würde die Liturgie die Situation der Mitfeiernden an dem Andersort auf­greifen und deuten. Für einen Gottesdienst in einer Autobahnkirche kann das bedeuten zu fragen, was es heißt, auf Reisen zu sein – in der konkreten Situation, metaphorisch im Hinblick auf das Leben usw. Doch der Gottesdienst kann auch – und das wäre die zweite Möglichkeit – im Verhältnis zu dem Ort der Feier widerstrebend sein. Ein Beispiel hierfür gibt Thomas Erne, wenn er nach der Rolle von Kapellen in Justizvoll­zugs­­­an­stalten fragt (vgl. Erne 2013). Gefängnisse werden schon von Foucault selbst als ein Beispiel für Andersorte benannt, näherhin als ein Beispiel für Abweichungsheterotopien. Hier werden von der Gesellschaft Men­schen verwahrt, deren Verhalten von der Norm abweicht, und zwar, um das abweichende Verhalten zu unterbinden. Auch wenn im moder­nen Strafvollzug der Aspekt mitgegeben ist, dass das abweichende Verhalten therapiert werden soll, also das Gefängnis zusätzlich eine Krisenhetero­to­pie ist, so ist doch ein entscheidendes Merkmal dieses Andersortes, dass – wie schon oben erwähnt – der Eintritt nicht freiwillig erfolgt, son­dern erzwungen wird, ebenso wie der Verbleib.

Doch nun sind Kirchenräume ebenfalls Heterotopien, Orte, an denen sich im Hier und Jetzt ganz neue raum-zeitliche Zusammenhänge er­öffnen und sich in der Zeitgeschichte Heilsgeschichte ereignet – ohne die Zeitge­­schich­te aufzuheben. Das gilt auch für Kapellen in Justizvoll­zugs­anstal­ten. Doch damit handelt es sich – wie Erne sagt – um „Hetero­topien zweiter Ordnung, um eine Gegenwelt in einer Gegenwelt, um einen Ort religiöser Freiheit an einem Ort des weitgehenden Freiheits­entzuges“ (Erne 2013). Welche Funktion erhält damit der Kirchenraum im funk­tional ausdifferenzierten Strafvollzug? Als Gegenwelt zur Welt des Ge­fängnisses sind religiöse Räume – und damit auch die in ihnen gefeier­ten Gottesdienste – einerseits Illusionsräume, die Möglichkeiten aufwei­sen, die innerhalb der Grenzen der Gesellschaft (hier innerhalb des Sys­tems des Gefängnisses) nicht realisiert werden können, z. B. indem der beschränkte Gefängnisalltag in den Horizont der Unend­lich­keit gestellt wird. Andererseits sind die Kapellenräume und die Gottesdienstfeiern in ihnen Kompensationsräume, die eine Ordnung thematisieren, die so im Gefängnis nicht existiert, „einen Schutzraum des Friedens, der Gleich­­heit aller und der Gewaltlosigkeit“ (Erne 2013).

Die bisher in diesem Abschnitt vorgestellten Beispiele bezogen sich tat­sächlich auf Gottesdienstfeiern an unkonventionellen Orten. Doch an­hand der hier reflektierten Kriterien, was einen Andersort und Liturgie auszeichnet, wird man jeden Gottesdienst anlässlich von sogenannten Kasualien als einen Gottesdienst an einem Andersort, oder vielleicht bes­ser: in einer Anderssituation bezeichnen können. Geburt (Taufe), Ehe­schließung (Trauung) und Tod (Bestattung) sind Situ­ationen im Leben, denen bei aller Unterschiedlichkeit gemeinsam ist, dass für die Betrof­fenen – bildlich gesprochen – die Zeit stehen zu bleiben scheint oder doch zumindest alles in einem ganz neuem Licht gesehen wird und alle bisherigen Maßstäbe neu bewertet werden. Die Liturgie in diesen Si­tuationen erfüllt eine doppelte Funktion: Sie greift die Ereignisse deu­tend auf, aber sie bürstet sie auch in gewisser Weise gegen den Strich. So dankt die Taufliturgie für das Geschenk des neuen Lebens und bestätigt insofern die frohen Empfindungen der Eltern. Doch zugleich wird die Taufe von der Liturgie als Sterben und Begrabenwerden mit Christus gedeutet. Das widerstrebt dem erstgenannten freudigen Aspekt, doch eben darin erweist sich Liturgie als ein Andersort, der mehr vermag, als das ohnehin schon Empfundene nur zu bestärken und religiös zu über­höhen, nämlich als Gegenlager eine neue Qualität einzuführen. Denn es geht nicht länger nur um den Beginn des irdischen Lebens, das Sterben mit Christus eröffnet vielmehr den Zugang zum ewigen Leben. Auch die kirchliche Begräbnisfeier hat diese Doppelfunktion: Sie nimmt die Trau­­­er der Hinterbliebenen ernst und greift somit die Situation auf. Doch zugleich deutet sie den Tod als Vollendung dessen, was Gott in der Taufe an diesem Menschen begonnen hat. An einer anderen Stelle der Begräb­nisliturgie erfahren die Mitfeiernden sehr intensiv, dass die gottesdienst­­lichen Vollzüge den Finger auf den heterotopen Charakter der Erfahrung des Todes legen, nämlich in der Bitte für den- bzw. diejenige, die als Nächster bzw. Nächste dem/der Verstorbenen folgen wird.

Dennoch wird man unter dem Stichwort „Liturgie an Andersorten“ tat­sächlich an besondere Orte denken. Soviel ist deutlich geworden: „An­dersort“ ist – entgegen dem häufigen Missverständnis – keine ästheti­sche Kategorie, sondern ist ein Ort des Fremden und Widerstrebenden. Dabei handelt es sich in der Regel nicht um Charakteristika, die einem Ort an und für sich zukommen. Ob ein Ort fremd und widerstrebend ist, entscheidet sich aus der Perspektive der Gottesdienstfeiernden. Für viele Gläubige wird eine Bergmesse unter freiem Himmel ein Gottesdienst an einem fremden Ort sein. Doch für Menschen, die in den Bergen wohnen, handelt es sich um einen Ort des alltäglichen Lebens. Sie werden eine Messfeier in der freien Natur der Bergwelt anders erfahren als ein Ur­lauber, der die Bergwelt exotisch findet und sich für sie als Urlaubswelt entschieden hat.

Abschließend sei unter der Überschrift „Liturgie an Andersorten“ noch eine Frage gestellt: Muss es immer Gottesdienst sein? Mit dieser Nach­frage soll keineswegs einer Ängstlichkeit das Wort geredet werden, die davor zurückscheut, das Sakrale der Liturgie an profanen Orten „preiszu­geben“. Doch wenn es wirklich um Liturgie an Andersorten gehen soll, dann sind auch die Gesetzmäßigkeiten der Liturgie zu beachten. In die­sem Zusammenhang sei noch einmal abschließend auf den schon er­wähnten Gottesdienst in der S-Bahn Bezug genommen. Die Berichter­stattung in der Katholischen Nachrichtenagentur titelt: „Berliner Ju­gend­liche feiern Gottesdienst in der Ringbahnlinie“ (KNA 2015). Es wird berichtet, dass liturgische Elemente wie Fürbitten oder das Evangelium in ein anderes Format übersetzt werden sollten. Doch im Wesentlichen sitzen die Teilnehmer offenbar mehr oder weniger für sich allein in der S-Bahn und hören „akustische Anregungen aus dem mp3-Player“. Zu hören sind Geschichten aus wechselnden Perspektiven (Kontrolleur, mit­fahrender Musiker, Obdachloser). Das Fazit des zuständigen Jugendrefe­renten: „Auch wenn sich der Ort nicht verändert hat, gehen vielleicht die Gottesdienstteilnehmer mit einer anderen Haltung nach draußen.“ Allein: War das tatsächlich ein Gottesdienst? Kann man von Gottesdienst sprechen, wenn keine wechselseitige Kommunikation stattfindet, son­dern ein einseitiger Input aus den Kopfhörern kommt? Wesentliche Ele­mente, die einen Gottesdienst ausmachen, kommen hier überhaupt nicht zum Tragen. Das schmälert die „Kreuzfahrt-Gottesdienst“ genann­te Aktion nicht, doch sollte man redlicherweise von einer Meditation sprechen. Damit muss das Angebot erst gar nicht leisten, was die Einstu­fung als Gottesdienst verheißt. Diese kritische Nachfrage zum Schluss will einladen, sich Rechenschaft geben, was eigentlich gewollt ist. Denn das vorgestellte Konzept von Liturgie an Andersorten ist komplexer als der Anspruch „Gott im Alltag sichtbar zu machen“ (KNA 2015).