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Tradition und Experiment (II)

Von der Sache mit dem Selbstzweck. Liturgische Experimente und die Frage nach dem Warum

Oft bieten besondere und außergewöhnliche Gottesdienstformen auch beson­dere Anknüpfungspunkte für Menschen, die zu den gängigen Litur­gie­for­men der Gemeinden wenig Zugang finden  –  sowohl für schon Gläu­bige als auch für Suchende. Zu den beiden Polen „Tradition“ und „Experi­ment“ haben wir jeweils einen unserer Autoren gefragt:  Was macht für Sie persön­lich die Faszination und den Reichtum dieser Gottesdienste aus?

Maria Herrmann schildert in ihrem Beitrag, wie experimentelle Gottes­dienst­formen in unterschiedlichsten Kontexten eine Vielfalt möglicher Zugänge zu geistlicher Erfahrung eröffnen.

Es war ein eindrucksvoller Moment: Wir hatten Haupt- und Ehrenamt­liche einer größeren Pfarrei für ein paar Tage in einem Zukunftswork­shop begleitet. Die ganze Bandbreite der Kirchenentwicklung kam dabei zur Sprache. Zwischen Aufbruch und Abbruch, Umbau und Neubau. Ge­meinsam haben wir Akteure, Prozesse und Grundvollzüge in den Blick genommen, aber eben auch Frust und Zweifel, Hoffnung und Vertrauen nachgespürt. Den Abschluss unserer gemeinsamen Zeit sollte eine klei­ne Liturgie bilden, um den mit dem Workshop eingeleiteten Prozess der Pfarrei unter Gottes Segen zu stellen.

Weil wir bemerkt hatten, dass sich die Mitglieder des Pfarreiteams wäh­rend der zurückliegenden Tage, gerade auch durch das Teilen von Hoff­nung und Zweifel, neu kennenlernen konnten, wollten wir das Segens­geschehen bewusst innerhalb der Gruppe ermöglichen.

So leiteten wir eine Segenskette ein: Dabei stellen sich alle in einem Kreis auf, einer oder eine tritt hervor und beginnt damit, die Menschen hintereinander der Reihe nach zu segnen, um sich abschließend am En­de wieder anzustellen und so den Segen selbst zu empfangen. Der oder die auf diese Weise zuerst Gesegnete schließt sich an und folgt dem ersten Beispiel, daraufhin auch der oder die zweite, so dass eine Segens­kette beginnt, bei der jeder durch jeden gesegnet wird.

Wir erlebten in dieser einfachen Liturgie einen sehr zerbrechlichen Mo­ment, aber auch – oder vielleicht genau deswegen – einen voller Stärke und Klarheit. Man spürte dem einen oder der anderen ab, dass es Mut kostete, jedem anderen im Team und auch Gott auf diese Weise zu be­gegnen. Für alle war es das erste Mal in dieser Form gewesen: gemein­sam einander Segen zu schenken und Segen zu empfangen.

Das Segnen hat eine lange Tradition, die weit über den Beginn des Christentums hinaus- und in die Entstehung monotheistischer Religio­nen hineinreicht. Es dürfte also zunächst ungewöhnlich wirken, im Zu­sammenhang mit dem Experimentieren und dem Entwickeln neuer liturgischer Formen diesbezüglich ein Beispiel anzuführen.

Wir können hier ja im Wesen wirklich nicht von einer Neuerung, von einem Experiment selbst sprechen. Und doch tue ich es bewusst, weil dieser Workshopabschluss exemplarisch dafür steht, in welchem Be­zugsrahmen die Frage nach dem liturgischen Experimentieren zu stellen ist. Dafür muss man den größeren Rahmen kirchlichen Handels in den Blick nehmen:

Warum experimentieren wir? Experimente und Versuchsreihen finden wir vor allem in Innovationsprozessen. Und Innovationen sind nicht (nur) Erfindungen, die möglicherweise gut funktionieren. Innovationen sind nicht selten ganz einfache, kleine, vielleicht schon im Wesen be­kannte Dinge, die (zu einem bestimmten Zeitpunkt) durchgeführt oder „auf den Markt gebracht“ einen Haltungswechsel auslösen. Aus einer Erfindung, einer Invention wird eine Innovation, wenn sich durch sie ausgelöst Grundlegendes verändert. Es geht also nicht um die Größe oder den Umfang der Erfindungen, die Innovationen werden, sondern vielmehr darum, was sie für einen Effekt erzielen, was sie bewirken.

Experimente dienen diesem Prozess der Erneuerung, indem sie ihn mit Erfahrungen anreichern und im Ergebnis zeigen, ob sie selbst Innova­tionspotential entfalten können. Ohne Experimente würden Innova­tions­prozesse stoppen oder gar nicht erst starten.

Das gemeinsame Spenden und Empfangen eines Segens zum Abschluss eines Workshops zum Beispiel in Form einer Segenskette ist dem äuße­ren Anschein und Kern nach nicht unbedingt eine Erfindung, die wir uns auf die Fahnen schreiben konnten. Vielleicht ist es – gerade unter rö­misch-katholischen Vorzeichen? – ungewöhnlich, dem Segen in dieser Form der Inszenierung Raum zu geben, aber das Etikett „neu“ würde hier wohl kaum einer vergeben.

Es zeigte sich allerdings im erwähnten Beispiel, dass das dezente, aber bewusste Experimentieren mit einer einfachen Liturgie dem Gesamt­pro­zess der Dienstgemeinschaft eine Wendung gab: Das Erleben ermög­lichte einen spürbaren Zugang zu einer gemeinsam getragenen Vision einer erneuerten partizipativen Kirchengestalt und übte diesen Hal­tungs­wechsel damit bewusst ein. Der Auslöser mag an sich per se nichts Neues darstellen, der Einsatz und die Inszenierung jedoch wurden zu einer Intervention, die einen Wandel einleitete.

Liturgische Experimente sind, wie man hier auf wunderbare Weise se­hen kann, für die und in der Kirche kein Selbstzweck. Sie erfüllen einen Dienst an einer größeren Dynamik, nämlich einem Wesenskern kirch­lichen Seins: Wenn wir von Experimenten der Kirche sprechen, egal ob in liturgischer Form oder in anderen Vollzügen, müssen wir dazu auch die Frage nach dem Warum stellen: Warum sollten wir diese Versuche wagen, warum bedarf es dieser Innovationsprozesse?

Die Frage nach dem Warum heiliger Experimente ist die Frage nach der Mission, nach der Sendung der Kirche.

Wenn wir das mit dieser Mission ernst meinen (und wenn sie es mit uns ernst meint!), wenn Mission nicht nur Aufgabe, sondern Wesenszug der Kirche ist, wenn wir Christen wirklich „mit Mission geladen“ sind, wie es Madeleine Delbrêl beschreibt, dann muss sich das auch ganz ernst­haft in einer Vielzahl an liturgischen Zugängen und Formen für die je­weils unterschiedlichen Kontexte – seien es Milieus, seien es Regionali­täten, seien es Fragenkomplexe o. Ä. – widerspiegeln. Eine Vielfalt, die sich durch neue Versuche im Prozess der ständigen Wandlung, Regene­ra­tion und Erneuerung der Kirche auch aus ihren Erfahrungen und Tradi­tionen speist. Eine Vielfalt, die sich eben auch in neuen Kontexten zei­gen kann.

Liturgische Experimente, wie die Segenskette, sind sinnenfältige mis­sio­narische Interventionen – auch und gerade – in neuen Räumen, die in der Kirche neue Haltungen einüben können. Sie sind damit aber nicht nur im Zusammenhang mit der Innovationsdynamik der Kirche als Gan­ze beschreibbar, sondern werfen uns auch als einzelne Christenmen­schen zurück auf die ureigene Frage nach dem Warum: dem Warum un­se­res Christseins und unserer Sendung. Mission fängt bei und mit uns an.

Gerade bei der unterschiedlichen Gestalt von Segensfeiern wird dies deutlich: Benediktionen leben geradezu von Kontextualisierung. Sie sprechen in eine konkrete Geschichte Gottes mit einem oder mehreren Menschen hinein. Bei einem Einzug in eine neue Wohnung. Bei einer Tiersegnung. Bei einem Tischgebet in einer Kneipe. Man kann sich kaum verstecken dabei. Und sich dem ebenso wenig entziehen.

Liturgische Experimente zeigen damit der Kirche: Es braucht den Mut, nicht nur über das Was und das Warum ihrer Vollzüge nachzudenken, sondern auch (besonders) über das Wie. Und ich würde auch hinzufü­gen: in einer ganz besonderen Weise auch über das Wer und das Wann und das Wo.

Ob bei einer virtuellen Komplet, ökumenisch gefeiert auf Twitter, bei einer Segnung von 20 Fahrzeugen bei einer Porsche-Club-Ausfahrt, bei einer Whiskeyliturgie, bei der Wiederentdeckung und Weiterentwick­lung von traditionsreichen Formen wie dem Herzensgebet oder der Tagzeitenliturgie:

Das eigentliche Experiment, die eigentliche Innovationskraft, schafft doch an sich nichts Neues. Sondern verweist im Tasten und Suchen und Finden vor allem in neuen Kontexten auf den, der stetig alles erneuert.