Inhalt

Spirituellen Missbrauch verstehen

Wissenschaftliche Essays zu Selbstverlust und Gottentfremdung

Der vorliegende Band versteht sich als eine Art Fortsetzung zu „Selbstverlust und Gottentfremdung. Spiritueller Missbrauch an Frauen in der katholischen Kirche“ (Patmos 2023), in dem betroffene Frauen von spirituellem Missbrauch berichten. Auf dieser Grundlage liefern Ute Leimgruber, Professorin für Pastoraltheologie und Homiletik an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg, und Barbara Haslbeck, wissenschaftliche Mitarbeiterin ebenda, einen detaillierten wissenschaftlichen Einblick in ihre Arbeiten zum Thema, ergänzt werden diese durch Essays weiterer Wissenschaftlerinnen.

Der Band besteht aus insgesamt sieben Essays und einem Geleitwort von Bischof Heinrich Timmerevers, Bischof von Dresden-Meißen. In diesem Geleitwort wird bereits die Dringlichkeit und Bedeutung des Themas klar, denn spiritueller Missbrauch habe fatale Folgen für den/die Einzelne/n, aber nicht auch zuletzt für die gesamte Kirche. Aus diesem Grund seien die „Bischöfe […] auf die Expertise von Betroffenen von geistlichem Missbrauch und von wissenschaftlich ausgewiesenen Theologinnen zum Thema angewiesen“ (8). Damit verweist der Bischof auf die Arbeitshilfe „Missbrauch geistlicher Autorität. ­ Zum Umgang mit Geistlichem Missbrauch“.

Ute Leimgruber und Barbara Haslbeck leiten den Band ein mit „Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Betroffenenberichten über spirituellen Missbrauch in der katholischen Kirche“. Sie weisen darauf hin, dass mittlerweile klar sein sollte, dass Frauen Opfer von Missbrauch in der Kirche sind und dass sexuelle Gewalt häufig von spiritueller Manipulation vorbereitet wird. Damit stelle spiritueller Missbrauch ein eigenes, aber rechtlich nicht geklärtes Vergehen dar, das von einer Reihe von systemischen Faktoren begünstigt werde wie z. B. Ausbeutung, erzwungener Rechenschaftspflicht, Geheimhaltung, Kontrolle, Isolation und elitärem Denken. Spirituelle Gewalt sei mitunter zu finden in Neuen Geistlichen Gemeinschaften und charismatischen Bewegungen sowie spiritualisierte Machtausübung in Form von Dark Leadership vorwiegend im Ordensbereich. Anhand der Berichte betroffener Frauen erstellen Leimgruber und Haslbeck eine Liste von zwölf Merkmalen spirituellen Missbrauchs, darunter Rollenunklarheit, Einordnung in eine elitäre Gegenwelt, Leistungsdruck, Verlust der eigenen Wahrnehmung, Entfremdung im Glauben, Ausnutzen krisenhafter Situationen der Betroffenen, Manipulation spiritueller Inhalte.

Doris Reisinger („Selbstbestimmung im Keim erstickt. Spirituelle Vernachlässigung als Kategorie“) spricht von spiritueller Vernachlässigung, wenn „Menschen nicht einmal ahnen, dass sie ein Recht auf spirituelle Selbstbestimmung haben“ (21). Ausgehend von dem Begriff der Würde, aus dem sich unveräußerliche Rechte auch für die religiöse Praxis ergeben, die aber im Falle eines Missbrauchs in einer Mitanklage der Betroffenen und in Schuldumkehr münden, entwirft sie anhand von Beispielen aus Betroffenenberichten Voraussetzungen spiritueller Selbstbestimmung und Kriterien für eine gelingende Präventionsarbeit.

Magdalena Hürten („Epistemische Aspekte spirituellen Missbrauchs. Toxische Verknüpfungen von Wissen, Macht und Geschlecht“) beschäftigt sich mit epistemischen Aspekten des spirituellen Missbrauchs, indem sie den Überbegriff der epistemischen Unterdrückung als einen „Ausschluss aus Wissenspraktiken“ (38) aufteilt in Epistemic Injustice, die sich gegen eine Person als Wissenssubjekt richtet, häufig aufgrund von internalisierten Vorurteilen, und in Epistemic Entitlement, einen ungerechtfertigten Anspruch auf Wissen, wie er häufig als Mansplaining bekannt ist. Frauen erleben epistemische Unterdrückung zudem als Gaslighting, indem sie so manipuliert werden, dass sie ihren Wahrnehmungen nicht mehr trauen. Folgen epistemischer Unterdrückung und deren Überwindung runden den Beitrag ab.

Wie Unprofessionalität in der Seelsorge spirituellen Missbrauch begünstigt und die Autonomie der Betroffenen verletzt, beschreibt Ute Leimgruber in ihrem Beitrag „Tatort Seelsorge. Die Rolle von Seelsorge und seelsorglich Handelnden im Umfeld von spirituellem Missbrauch“. Unprofessionalität zeige sich in einem mangelnden Bewusstsein für die Grenzen von Seelsorge und in der fehlenden Abgrenzung zwischen Seelsorge und Therapie, wenn sich Seelsorger:innen als „SupertherapeutInnen“ (58) verstehen. Dies gehe einher mit der generellen Frage nach Qualität in der Seelsorge, auch im Hinblick auf die Ehrenamtlichen. Hier verweist Leimgruber auf „In der Seelsorge schlägt das Herz in der Kirche“ (herausgeben vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz). Verschwimmende Grenzen von kirchlichem Dienst und privaten Beziehungen trügen zum Problem der Unprofessionalität bei. Spirituelles Gaslighting und Beichte als strukturelle Gefahr könnten Beispiele für Unterwerfungsbeziehungen mit Manipulationen sein. Die Exklusivität der geistlichen Begleitung isoliere Betroffene von ihrer Umwelt und erzeuge ein spirituelles Othering (69, Begriff von Hildegund Keul, meint eine Abgrenzung gegenüber Anderen bei gleichzeitiger Überhöhung der eigenen Gruppe). Leimgruber kritisiert zu Recht die Vermischung von forum internum und forum externum als Missbrauch begünstigende Faktoren. Gemeint ist die Vermischung unterschiedlicher Rollen und Ebenen, z. B., wenn der Ordensobere auch die Beichte abnimmt. Leimgruber fordert in einem letzten Absatz die Förderung von Resilienz und Selbstbestimmung in der Seelsorge.

Für die Rezensentin stellt sich die Frage nach der Umsetzbarkeit der geforderten Qualität. Schon jetzt steht die Kirche vor dem personellen Problem, dass die Anzahl sowohl von Haupt- als auch Ehrenamtlichen rückläufig ist. Leider zeigt die Realität, dass Klöster mit personellen Einschränkungen umgehen müssen und dass sich aus dieser Lage heraus die Notwendigkeit ergibt, mehrere Dienste zu übernehmen, so dass sich forum externum und forum internum vermischen.

Hannah Schulz widmet sich in ihrem Beitrag „Emprise – Einflussnahme und Selbstentfremdung“ diesem Begriff aus dem französischsprachigen Umfeld, eine Selbstentfremdung durch Unterwanderung des Denkens, des Fühlens, Handelns und Glaubens. Sie beschreibt einerseits die Strategien von Täter:innen, um Kontrolle über die betroffene Person zu erlangen, und andererseits das Erleben der Betroffenen selbst, das von schwindender Urteilsfähigkeit und schwindendem Selbstbewusstsein sowie einem negativen Gottesbild (das Gefühl, von Gott selbst missbraucht zu sein) geprägt sei und soziale Isolation und materielle Abhängigkeit beinhalte bzw. zur Folge habe. Die Betroffenen seien körperlich erschöpft und hegten häufig suizidale Absichten, denn innerhalb einer emprise gelinge der Ausstieg aus diesem krankmachenden System meist nicht.

Dass Neue Geistliche Gemeinschaften (NGG) eine besondere Anfälligkeit für geistlichen Missbrauch aufweisen, stellt Hildegund Keul in ihrem Beitrag „Toxische Erwählung. Macht und Missbrauch in Neuen Geistlichen Gemeinschaften und charismatischen Bewegungen“ gleich zu Beginn fest. Der Grund hierfür liege u. a. in einem elitären Erwählungsbewusstsein begründet, wie Keul bei ihren Untersuchungen in der Vulnerabilitätsforschung anhand von Betroffenenberichten und Recherchen auf den einschlägigen Homepages der NGG ableiten konnte. Einst das Allheilmittel zur Rettung der Kirche durch „kommunikative Nähe und Lebendigkeit, Gemeinschaftsgeist und Körperlichkeit“ (92), scheinen die Ziele der NGG mitunter fragwürdig. Keul beschreibt spirituelles Othering, also die Abgrenzung zur Welt, Distinktionsgewinne wie sexuelle Reinheit inbegriffen. Sie zeigt die Gefahren dieser Bewegungen auf, die sich im Umfeld von spirituellem Missbrauch, Ausbeutung von Geld und Arbeitskraft sowie Gewalt bewegen. Es mangele bei vielen Organisationen an professionellen Präventionskonzepten.

Im letzten Beitrag konstatiert Barbara Haslbeck eine große Nähe toxischer Gemeinschaften zu Sekten („‚Kreise, die wie Sekten funktionieren‘. Zusammenhänge von spirituellem Missbrauch und sektenähnlichen Gruppierungen“) durch mind control, Bewusstseinskontrolle. Sie diskutiert die Frage, inwiefern die Anziehung durch diese Gemeinschaften einem Modell der Kult-Bedürfnis-Passung (vgl. 121) entspreche bzw. ob bestimmte Menschen eine Prädisponierung hätten. In einem Resümee hält Haslbeck fest, dass die Erkenntnisse hinsichtlich sektenartiger Gruppierungen gefährdende Muster religiöser Gemeinschaften aufdecken können.

Der Band zeigt sehr anschaulich die Konsequenzen auf, wenn Spiritualität kein Ermöglichungsraum ist, sondern ein Kontrollraum. Leimgruber und Haslbeck sowie allen Beiträgerinnen gelingt mit konzisen Essays ein anschaulicher und vertiefter Blick auf das Thema spiritueller Missbrauch. Sie leisten dabei einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung und Sensibilisierung. Personen, die spirituellen Missbrauch erlebt haben, leiden existentiell und verlieren sich mitunter selbst und ihren Glauben an Gott – auch für die Kirche ein katastrophaler Zustand, den sie mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln bearbeiten bzw. verhindern muss, z. B. mit einer professionellen Präventionsarbeit und einer aufrichtig vorangetriebenen Aufarbeitung.

Jasmin Hack