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Jenseits der Amtsgewalt

Informelle Macht in Kirche und Katholizismus

Nicht zuletzt der Synodale Weg in Deutschland hat in den letzten Jahren das Thema Macht stärker auf die theologische und kirchliche Agenda gebracht. Neben Machtmissbrauch (sexueller und spiritueller Missbrauch) wurde und wird viel zu formellen Machtstrukturen, wie sie auch das Kirchenrecht bestimmt, und zu Ämtern gearbeitet. Doch zeigt sich immer wieder, nicht zuletzt in der Rede von Pastoralmacht oder in den Diskussionen über klerikale Netzwerke: „Wer […] Machtverhältnisse in (kirchlichen) Organisationen analysieren und gestalten möchte, kommt aus mikropolitischer Sicht nicht an dem Befund vorbei, dass institutionell-organisationale Macht nur einen Aspekt in der komplexen Machtstruktur von Organisationen darstellt“ (44).

Genau diesen informellen bzw. mikropolitischen Formen von Macht im kirchlichen Bereich (fokussiert auf die katholische Kirche in Deutschland) geht der zu besprechende Sammelband nach. Für die Untersuchung war den Beitragenden ein bestimmtes theoretisches Modell vorgegeben: das Machtbasen-Modell von John R. P. French und Bertram H. Raven, das Björn Szymanowski in einem einführenden Beitrag vorstellt. „Für das Verständnis der Theorie von French und Raven ist wesentlich, dass Macht eine Eigenschaft sozialer Beziehungen ist. Eine Machtbasis entsteht also erst in relationalen Zusammenhängen“ (49), also im Kontext „mentale[r] Konstruktionen, die den subjektiven Wahrnehmungen der jeweiligen Wirklichkeit entspringen“ (50; im Original teilweise Kursivierung). Bei der Machtbasis „Macht durch Belohnung“ hat also A nicht objektiv Macht durch die Fähigkeit, B zu belohnen, sondern nur, wenn B annimmt, dass A die Macht hat, ihm eine Belohnung zukommen zu lassen, und sich davon in seinem Verhalten auch beeinflussen lässt. Dass Macht sozial konstruiert ist, wird auch besonders bei der Macht durch Legitimation deutlich: Ein religiöser Amtsträger, dem die Gläubigen die Gefolgschaft verweigern, verliert seine Amtsmacht.

Weitere Machtbasen sind die Macht durch Bestrafung, durch Identifikation (man will mit jemandem verbunden sein, z. B. Pfarreimitglieder mit ihrem Pfarrer), durch Expertise, durch Information, durch ökonomisches Kapital, durch Beziehung, durch Gewalt sowie durch Öffentlichkeit: „Diese Machtgrundlage beruht auf der Fähigkeit von A, eine interessierte Öffentlichkeit zu mobilisieren, der B nicht sanktionsfrei ausweichen kann“ (59). Bei dem Modell, das bereits aus den 1950ern stammt, sind immer wieder Machtbasen ergänzt worden; es ist fortschreibungsoffen. Auch etliche Beiträge des vorliegenden Sammelbandes schlagen Erweiterungen vor (z. B. nennt Jan Loffeld „Macht durch Schuld“; vgl. 348 f.) – oder nehmen die Stärken und Schwächen des Modells kritisch in den Blick oder greifen zusätzlich auf andere Machttheorien (insbesondere von Bourdieu) zurück. Doch wird in den Aufsätzen das Modell von French und Raven durchgängig herangezogen – in unterschiedlicher Intensität.

Nach den einführenden Beiträgen finden sich im Band zwei Hauptteile. „Die leitende Frage des ersten Teiles, der die Akteur:innen in den Mittelpunkt stellt, lautet: Wie üben Akteur:innen in der Kirche faktisch Macht aus, über welche Machtbasen verfügen sie und wie versuchen sie zu gewährleisten, dass Entscheidungen zu ihren Gunsten ausfallen?“ (21; im Original teilweise Kursivierung). Die untersuchten Akteursgruppen sind Frauen, Priester und Bischöfe. Dabei wechseln sich Beiträge aus (kirchen-)​historischer und pastoraltheologischer Expertise heraus ab. So „nimmt der Band die Lernerfahrungen und Diskursgewinne auf, die die Herausgeber im Zuge einer seit 2018 stattfindenden Workshop- und Tagungsreihe zum wissenschaftlichen Dialog von Kirchengeschichte und Pastoraltheologie gemacht haben“ (19). Dasselbe Muster findet sich im zweiten Teil, der fragt: „Wie werden in bestimmten kirchlich-organisationalen Settings Entscheidungen getroffen? Wie wird darauf Einfluss genommen? In welchen Konstellationen zeigt sich Macht in komprimierter Weise? […] Im Fokus stehen kirchliche Basisstrukturen (Pfarreien und Gemeinden), Diözesen sowie Verbände und Vereine mit jugendpastoralem Schwerpunkt“ (24 f.).

Die 13 Beiträge der beiden Hauptteile decken informelle Macht in Vergangenheit und Gegenwart auf. Bei den ausgewählten historischen Beispielen ist ein Schwerpunkt auf dem 20. Jahrhundert nicht zu verkennen. Dass es bei Lea Torwesten ins 10. Jahrhundert zurückgeht, ist die Ausnahme; sie analysiert u. a. Machtinszenierungen von Damen des Essener Stifts – und legt außerdem dar, wie historische Frauengestalten heute für die Einhegung von Frauenmacht in der Kirche instrumentalisiert werden können.

Während Matthias Sellmann das Bischofsamt in seiner aktuellen Konzeption aus organisationswissenschaftlicher Perspektive als „unmögliches Amt“ beschreibt, zeigt Sandra Frühauf an einem Beispiel aus dem Jahr 1969, wie radikal protestierende Priestergruppen eine Bischofsversammlung zumindest dazu zwangen, sich mit ihren Forderungen auseinanderzusetzen. Dass bei Klerikern Macht und Ohnmacht ineinandergehen können, wird ebenso im Beitrag von Wolfgang Beck deutlich. Seine These lautet, dass das Priesteramt gerade dadurch beschädigt wird, wenn man es als Kontrastidentität konzipiert. Außerdem beinhaltet dieser eigentlich pastoraltheologische Beitrag auch ein historisches Beispiel: die (mancherorts noch bis in die jüngste Vergangenheit verwendete) Pfarrkartei mit detaillierten Notizen zu den Eigenheiten der Pfarreiangehörigen.

Spannend sind auch die beiden Beiträge unter der Überschrift „Verbände und Vereine“ von Gregor Podschun und Patrik C. Höring: In ihnen erfährt man nicht nur einiges über die Neuaufstellung der Jugendverbandsarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern auch, wie dort – in der Kirche und zugleich in einem austarierten Verhältnis zwischen Jugendlichen, Bischöfen und staatlichen Förderstrukturen – Demokratie eingeübt und gelebt wird.

Soweit einige Beispiele für die Fülle der historischen Exempel, der Analysen, Überlegungen und Thesen in den Beiträgen. Diese können das riesige Themenfeld der informellen Macht in der Kirche natürlich nur sehr exemplarisch beleuchten. Und doch kann der Band dafür sensibilisieren, auch in den eigenen Bezügen genauer hinzusehen, wo und wie überall Macht ausgeübt wird. Macht ist an sich nichts Verwerfliches, es geht nicht ohne Macht, auch wenn sie ambivalent ist: Auch das wird im Band deutlich. Ebenso, wie nahe Macht und Ohnmacht beieinanderliegen können und wie sich auch formelle Macht bei mikropolitischer Betrachtung relativiert. Und vieles mehr.

Insgesamt stellt der Band deshalb durch seine bisher nicht so „abgegraste“ Thematik der informellen Macht und der Mikropolitiken eine wertvolle Ergänzung für die verschiedenen Machtdiskurse dar, die derzeit in der Kirche geführt werden und geführt werden müssen.

Martin Hochholzer