Ein Hammer für die Seelsorge
KI in der Seelsorge theologisch und ethisch verantwortet benutzen
Je nach Fortschritt des Tages bzw. Verwendung technischer Geräte werden Sie heute bereits KI‑Anwendungen genutzt haben: beim Streamen Ihrer Lieblingsmusik, bei der Google-Suche oder bei der Auswahl der nächsten Netflix-Folge. Zur Produktion Ihres Lieblingsjoghurts sowie für die Programme Ihrer Navigationsgeräte beim Wandern/Fahrradfahren/Autofahren wurde KI als Werkzeug eingesetzt.
Aber KI nutzen für die Seelsorge? Was ist zu bedenken, wenn Sie sich als konzeptionell Verantwortliche für die Weiterentwicklung seelsorgerlicher Pastoral auf verschiedensten Ebenen vertieft mit Chancen und Grenzen von KI in der Seelsorge befassen? Was ist zu tun, wenn Haupt-und Ehrenamtliche theologisch und handwerklich befähigt werden wollen, KI als ein wirksames und dauerhaftes Werkzeug für einzelne Felder bzw. Arbeitsschritte in der seelsorgerlichen Pastoral zu etablieren?
Diese Fragen werden im Folgenden theologisch und ethisch vertieft, indem die Frage aufgeworfen wird, inwiefern man den Einsatz von KI in der Seelsorge unter beiden Aspekten verantwortlich gestalten kann. Falls Sie sich fragen, wie ein Leipziger Pfarrer mit Seelsorgeausbildung und mit Erfahrungen in der Seelsorge in den pastoralen Feldern „Seelsorge in der Kirchengemeinde“ und „Seelsorge im Krankenhaus“ sowie „Notfallseelsorge“ überraschend auf die Möglichkeit gestoßen ist, KI in der Seelsorge anzuwenden: Das kam neben der privaten medialen Auseinandersetzung mit dem Thema auch durch die Dokumentation der ARD „Better than Human“, die Sie leicht in der ARD Mediathek entdecken und ansehen können.
Die Filmemacherin Franka Schönwaldt hatte vier Personen mit seelischen Nöten angesprochen: eine jüngere Frau, deren Mutter bald an Krebs sterben könnte, ein Paar, das sich in der aktuellen Schwangerschaft mit ihrem verstorbenen Kind beschäftigt, sowie eine Seniorin, die die Einsamkeit plagt. Diese vier Personen wurden filmisch begleitet, wie sie zu ihren Fragen und Nöten an einem Computer sitzend schriftlich mit einer KI kommunizieren. Mehrere Wissenschaftler*innen reflektierten unterdessen im Film die Interaktion von Mensch und Maschine.
Zeitgleich hatte sich das Filmteam an uns Expert*innen, die wir uns vor den Dreharbeiten nicht kannten, gewandt. Es handelt sich um eine Therapeutin, eine Person, die die Rolle der besten Freundin innehat, und mich als Pfarrer. Das Filmteam erstellte den im Film genutzten KI‑Chatbot mit unserer Hilfe auf der Grundlage des Large-Language-Modells „ChatGPT“. Der Film zeigt, wie die KI von uns vorbereitet und trainiert wurde, das Prompting. In meinen KI‑Pfarrer sind Einsichten aus der Ausbildung als Seelsorger und klinischer Seelsorger eingeflossen sowie aus der kirchgemeindlichen Seelsorgepraxis und aus der Krankenhaus- und Notfallseelsorge.
Überrascht hat mich als Protagonist in dem Film, wie schwer sich die jüngere Frau und wie leicht sich das Paar und die Seniorin mit der Kommunikation zu einer KI taten. Der jüngeren Frau fehlten individuelle Gesprächstiefe und körperliche Nähe. Das Paar nutzte intensiv zu zweit und auch einzeln die KI, um Deutungen für den Tod ihres Kindes zu finden, aber auch, um Alltagsfragen zu klären. Die einsame Seniorin fühlte sich vom KI‑Pfarrer gut verstanden. Hier zeigte sich, dass eine vertrauensvolle, heilsame Beziehung auch zu einer KI entstehen kann.
Meine These ist: Die Seniorin und der werdende Vater im Film zeigen typologisch, dass Menschen in seelisch und alltäglich herausfordernden Situationen zukünftig – durchaus regelmäßig und flächendeckend – die Kommunikation mit KI-Anwendungen (Chatbots, Apps) suchen und finden werden. Für Seelsorger*innen besteht also die Herausforderung, ob die Kommunikation mit der KI vor, während und nach Seelsorgeprozessen als parallel stattfindender Prozess unverbunden mit der Seelsorge bleibt. Oder ob und wie sich die KI in die Seelsorge integrieren lässt.
Den Einsatz von KI in der Seelsorge theologisch verantwortlich gestalten
KI kann und darf in der Seelsorge nur dann eingesetzt werden, wenn es theologisch verantwortlich geschieht. Das ist klar und gilt für Kirchen, Vereine, Träger und Personen, die Seelsorge anbieten bzw. verantworten. Das gilt für christliche Führungskräfte, die dabei unterstützen, die Seelsorge auf unterschiedlichen Ebenen prägnant weiterzuentwickeln. Deshalb möchte ich aus dem Bereich der praktischen Theologie zwei theologische Ansätze vorstellen, die den Einsatz von KI in der Seelsorge durchaus theologisch verantwortbar erscheinen lassen.
„Sprechende Medizin und intelligente Maschinen“: Unter diesem Titel fand im Oktober 2024 das 35. Medizin-Theologie-Symposium der Evangelischen Akademie Tutzing statt. Der Vortrag von Peter Zimmerling war überschrieben mit „KI in der Seelsorge – Eine Bereicherung der seelsorgerlichen Mittel und Möglichkeiten“. Theologisch beschreibt Zimmerling in Anknüpfung an seine theologischen Lehrer Jürgen Moltmann und Michael Welker die trinitarisch verstandene Seelsorge schöpfungstheologisch. Es ist der Geist Gottes, in dem sich Gott in der Seelsorge mitteilt. Es gebe keine unvermittelte Seelsorge, sondern die Präsenz Gottes in der Seelsorge geschehe immer medial. Das sei exemplarisch in den Worten Jesu in den Wundergeschichten greifbar. Bereits die Briefe des Paulus zeigten, dass es am Anfang christlicher Seelsorge eine fundamentale Ergänzung des Wortes Gottes als seelsorgerliches Mittel gegeben habe durch die Schriftsprache der Briefe. Seelsorge durch verschiedene Mittel sei also nichts Neues. Für das protestantische Seelsorgeverständnis gelte im 16. Jahrhundert die seelsorgerliche Theologie Martin Luthers als wegweisend. Die theologischen Arbeiten Luthers wären ohne den Anspruch, damit Seelsorge zu treiben, schlecht bis gar nicht erklärlich. Im 19. Jahrhundert habe Friedrich Schleiermacher das Medium „Gespräch“ für die Seelsorge stark gemacht. Die Betonung des Gesprächs als zentrales Medium der Seelsorge sei bis ins 20. Jahrhundert prägnant geblieben. Zimmerling nimmt dabei die Einsichten von Hans-Ulrich Gehring auf: Seelsorge ist mediale Praxis.
Das neue Medium „KI“ stelle deshalb eine Bereicherung der seelsorgerlichen Mittel und Möglichkeiten dar. KI sei nicht mehr als ein Medium und habe deshalb Grenzen. KI sei kein statisches, sondern ein dynamisches Medium. Mensch und KI seien kategorial zu unterscheiden, da die menschliche Person in ihrer Individualität und Körperlichkeit die primäre Vermittlungsform medialer Seelsorgepraxis sei und bleibe.
„Alexa, wie hast du’s mit der Religion?“: Im Sammelband (Puzio/Kunkel/Klinge 2023) aus dem Umfeld des Netzwerks für Theologie & Künstliche Intelligenz werden KI‑induzierte Transformationen der Theologie, der Religion, des Menschenbildes, des Körpers und des Krieges beleuchtet. Anna Puzio hat ihren grundlegenden Beitrag zur Eröffnung des Buches so überschrieben: „Theologie und Künstliche Intelligenz – Perspektiven, Aufgaben und Thesen einer Theologie der Technologisierung“. Anders als bei den Fragen der Digitalisierung fehle es auf dem Feld der Technologisierung und der KI bisher weitgehend an theologischen Perspektiven. Das versucht der Sammelband „Alexa, wie hast du’s mit der Religion?“ als Startband einer Buchreihe zu Theologie und Künstlicher Intelligenz zu ändern. Der Sammelband greift Perspektiven der evangelischen, der katholischen und der jüdischen Theologie auf. Die Technologisierung sei relevant für die Theologie und die Theologie für die Technologisierung. Technik ist kein von uns getrenntes, eigenständiges Gegenüber, sondern etwas, zu dem wir in einer engen Beziehung stehen. Eine Theologie der Technologisierung sei interdisziplinär, interreligiös und international. Durch die Technologisierung würden Theologie und Religion transformiert. Religiöse Roboter, Kommunikationstechnologien und der Chatbot „ChatGPT“ wirkten sich auf Religion und Theologie aus. Die Technologisierung biete viele Chancen für Theologie und Religion. Es brauche daher Theolog*innen, die bereits im Design und der Entwicklung der Technologien mitwirkten. Theologie sollte Influencerin werden.
In Bezug auf religiöse Roboter sieht Anna Puzio folgende Einsatzgebiete: Sie könnten Gebete begleiten, Gespräche führen, religiöse Zeremonien feiern, aus religiösen Schriften vorlesen und Musik abspielen. Sie könnten Führungen durch religiöse Gebäude anbieten und Fragen zur Religion beantworten. Sie könnten chatten und dabei religiöse Werte und spirituelle Elemente integriert haben.
Mit den theologischen Perspektiven von Peter Zimmerling und von Anna Puzio lässt sich aus meiner Sicht behaupten, dass der Einsatz von KI theologisch verantwortbar ist.
Den Einsatz von KI in der Seelsorge ethisch verantwortlich gestalten
Auf den ersten Blick scheinen die ethischen Herausforderungen beim Einsatz von KI in der Seelsorge vielfältiger und größer als die theologischen Herausforderungen zu sein. Die frühere Ethikratsvorsitzende Alena Buyx betont in der Dokumentation „Better than Human“, dass die zu starke Anwendung von Maschinen in der Seelsorge kein erstrebenswertes Ziel an sich sei. Anderseits bestehe die Pflicht, die KI in der Seelsorge dort einzusetzen, wo sie nachweislich deutlich menschliche Qualitäten übersteigt.
Analog zu überzeugenden theologischen Verantwortungspositionen möchte ich im Folgenden zwei bezüglich KI vordenkende Vertreter der theologischen Ethik und ihre Thesen vorstellen, Andreas Lob-Hüdepohl und Alexander Filipović, die beide den ethischen Raum ausleuchten.
Lob-Hüdepohl beschreibt in seinem Aufsatz „Seelsorge durch ‚Spiritual-Carebots‘“ (Lob-Hüdepohl 2024) die ethischen Grenzen des Einsatzes von KI in der Pastoral. Ob der Einsatz von KI zu mehr oder weniger selbstbestimmter Handlungsfähigkeit führe, hänge an den Grundlogiken von Seelsorge und Bildung. Wesentlich sei, in welcher Beziehung Mensch und Künstliche Intelligenz zueinanderstünden.
„Spiritual-Carebots“ seien KI‑Anwendungen, die mit dezidiert religiös-seelsorgerlichen Inhalten und Konnotationen (Spiritual Care) arbeiteten. Das Anforderungsprofil an Spiritual-Carebots entstehe durch die Zielbestimmung seelsorgerlichen Handelns: „Seelsorge zielt darauf ab, ‚dass ein Mensch immer mehr zu demjenigen wird, als den Gott ihn gedacht hat, und dass er seinen Weg in Freiheit gehen kann‘“ [ebd. 53 und mit Zitation aus „In der Seelsorge schlägt das Herz der Kirche“]. Die ethische Gretchenfrage laute, ob die Fiktion einer starken Künstlichen Intelligenz und damit auch von starken Spiritual-Carebots die menschliche Intelligenz und Autonomie ersetzen bzw. transhumanistisch sogar übertreffen könne.
Der gehaltvolle Kern von Seelsorge bestehe in der Kunst der Wahrnehmung des jeweiligen Menschen, der Kunst der Reflexion von Handlungsoptionen sowie der Kunst der veränderten Lebensgestaltung. Weder der Ersatz menschlicher Intelligenz noch die Erschaffung starker KIs (godlike) seien erstrebenswert.
Der Sozialethiker Alexander Filipović beschreibt in seinem Artikel „Nur Science-Fiction? Ethische Problemzonen der Künstlichen Intelligenz“ folgende ethische Herausforderung beim Einsatz von KI in der Seelsorge: „Die zentrale theologische Aufgabe im Kontext der Technologien Künstlicher Intelligenz besteht darin, die Transformationen des Humanen, die mit KI-Technologien so augenfällig werden, reflexiv einzufangen und auszudehnen auf die Frage, was es unter diesen Bedingungen bedeutet, von Gott zu sprechen“ (Filipović 2021, 14).
Das Reden von Gott und damit auch die menschliche Selbst- und Weltdeutung würden von KI‑Systemen herausgefordert: „Wie treffen wir zukünftig Entscheidungen und wer verantwortet diese? In welchem Verhältnis stehen maschinelle und menschliche Intelligenz? […] Wie verhält sich die potenzielle All-Macht von KI‑Systemen zu unserer Gottesvorstellung?“ (ebd. 13).
Die Transformation des Humanen zeige sich einerseits in der Interaktion mit KI‑Systemen in Arbeit und Alltag. Diese Interaktion wirke sich auf menschliche Entwicklung und Selbsterfahrung aus. Anderseits zeige sich die Transformation des Humanen in Ideen einer künstlichen Superintelligenz und damit in der Selbstüberschreitung des Menschen durch KI‑Technologien. Schließlich führten KI‑Systeme zu Transformationen des Humanen auch auf den Feldern der Erkenntnis und des Wissenkönnens. „Die Möglichkeiten dessen, was Menschen über sich wissen können, verändert sich im Kontext von KI rasant“ (ebd. 15).
Auch der zweite Lackmustest zum Einsatz von KI in der Seelsorge, die ethische Dimension, ist m. E. in den ethischen Positionen von Lob-Hüdepohl und Filipović bestanden. Sowohl die definitorischen Grenzen von Lob-Hüdepohl als auch die transformatorischen Erweiterungen von Filipović lassen den verantwortungsvollen Einsatz von KI in der Seelsorge für möglich erscheinen.
Fazit: Schritt für Schritt den Einsatz von KI in der Seelsorge beginnen
Der Einsatz von KI in der Seelsorge entspricht dem handwerklichen Einsatz eines Hammers. Für Sie als Verantwortliche der Entwicklung und Erweiterung der seelsorgerlichen Pastoral steht die Aufgabe an, eigene theologische und ethische Zugänge zu finden, die Ihre Haupt- und Ehrenamtlichen in Kommunikation mit KI‑Systemen bringen. Ob das schwerpunktmäßig „Spiritual-Carebots“, „Chatbots“ oder „Apps“ werden, wird sich in der seelsorgerlichen Pastoralpraxis zeigen.
Im übertragenen Sinne werden KI-Systeme theologisch und ethisch zu Herausforderungen neuer Qualität und neuer Quantität bezüglich der seelsorgerlichen Pastoralpraxis führen. Die Zeit drängt, dass kirchliche Institutionen und Akteure von Zuschauer*innen am Rand des Spielfeldes zu Mitspieler*innen auf dem Feld der seelsorgerlichen Kommunikation in Zeiten von KI werden.