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Stille, Resonanz, Verbundenheit

Die Sauerland-Seelenorte – ein Praxisbeispiel

Wie können Wandern und Spiritualität – im wahrsten Sinne des Wortes – zusammen-gehen? Im Sauerland haben sich die Touristiker:innen und das Netzwerk Wege zum Leben. In Südwestfalen. diese Frage gestellt und 42 „Orte lebendiger Stille“ gefunden: die Sauerland-Seelenorte. Sie sind inzwischen ein Markenzeichen des Sauerlandes, das sich als Deutschlands inspirierende Outdoorregion positioniert, und liegen im Gebiet der Sauerland-Wanderdörfer, elf Kommunen, die sich gemeinsam als erste Qualitätsregion Wanderbares Deutschland qualifiziert haben. Alle Orte sind über zertifizierte Wanderwege erschlossen.

Sauerland-Seelenorte – das sind Seen und Täler, Felsen und Steinbrüche, Kirchen und Bergkuppen, mächtige Bäume und unterirdische Grotten. 42 Orte, die über das ganze Sauerland verteilt sind. Sie wurden in einem zweijährigen Prozess von den Bewohner:innen der Region selbst ausgewählt, weil sie besonders beeindruckend sind und für die Menschen in ihrer Umgebung eine besondere Bedeutung besitzen, nicht nur heute, sondern vielfach auch schon seit Jahrhunderten. Sie berühren die Menschen emotional, geistig und spirituell und rufen starke Resonanzen hervor. Es sind Orte, zu denen die Menschen wandern und wo sie abschalten können; wo sie zu sich kommen, die Ruhe genießen, inspiriert werden und neue Einsichten gewinnen können zu den großen Fragen des Lebens. Sie vermitteln Bilder, die im Inneren wirken, denn sie besitzen eine hohe Symbolkraft. Auch wenn jeder Seelenort seine eigene Geschichte erzählt und auf ganz eigene Weise berührt und inspiriert, gibt es eine Qualität, die alle verbindet: lebendige Stille.

Die Orte, die ausgewählt wurden, zeigen den besonderen kulturellen und natürlichen Reichtum des Sauerlandes, aber auch die große Offenheit der Menschen für ganz unterschiedliche Zugänge und Möglichkeiten des Erlebens.

Grundlagen und Partner

Studien und Marktbeobachtung zeigen seit langem, dass die Themen Reduktion, Stille, Achtsamkeit, Innehalten, Sinnsuche, Inspiration, Begegnung und „Heimat auf Zeit“ wichtige Trends im Tourismus sind (vgl. Leder 2007; Akademie der Bruderhilfe/​Thomas-Morus-Akademie/​Universität Paderborn 2011; Leder 2018). Für das Wandern wird bis 2040 eine stabile bis leicht steigende Nachfrage prognostiziert und der Trend zu Sinnsuche und Selbstfindung wird nach heutiger Sicht nicht abnehmen, so auch Erik Neumeyer vom Deutschen Wanderverband.

Der Wunsch der Touristiker:innen im Sauerland war es, sich in diesem Markt zu profilieren, indem man Orte und Erfahrungsräume zugänglich macht, die erwandert werden können und an denen die o. g. Qualitäten zu erleben sind. Die Sauerland-Wanderdörfer (erste Qualitätsregion Wanderbares Deutschland) und die Sauerländer Wandergasthöfe, in deren Auftrag die Sauerland-Seelenorte entwickelt wurden, konnten dabei auf das Netzwerk Wege zum Leben. In Südwestfalen. zurückgreifen, das das Thema Spiritualität und Tourismus bereits seit 2011 bewegt. Hier arbeiten Vertreter:innen aus Tourismus, Kunst und Kultur, den Kirchen und der Heimatarbeit, der Regionalentwicklung und der Gesundheitsprävention aus ganz Südwestfalen zusammen. 2015 hat das Netzwerk im Rahmen der REGIONALE SÜDWESTFALEN ein Leitbild für einen spirituellen Tourismus entwickelt, und seit 2012 veranstaltet es den Spirituellen Sommer. In Südwestfalen., ein dreimonatiges Kulturfestival, das spirituelles Denken und Handeln in der Region fördert.

Seelenorte finden: Der Prozess

Die Sauerland-Seelenorte wurden in einem intensiven partizipativen Prozess mit den Menschen vor Ort gefunden, denn diese sind die Expert:innen für die kraftvollen Plätze in ihrer Region.

Foto 1: Orte finden. 75 Kreativ-Workshops und Ortsbegehungen mit den Menschen vor Ort. Foto: privat.
 

In insgesamt 75 Kreativ-Workshops und Ortsbegehungen kamen über 100 Menschen aus den Bereichen Kultur, Tourismus, Wandern, Kirchen, Heimatarbeit und Gesundheitsprävention zusammen. Sie stellten sich gegenseitig „ihre“ Orte in der Region vor, an denen sie Qualitäten wie Stille, Alltagsferne, Freiheit, Gelassenheit, Inspiration, Trost, Ermutigung, Freude, Dankbarkeit erleben.

Foto 2: Wahrnehmungsspaziergang mit allen Sinnen. Foto: Antonia Krihl.
 

Nach einer ersten Vorauswahl wurde jeder der ausgewählten Orte gemeinsam in einem Wahrnehmungsspaziergang begangen. Es ging darum, den Ort in Stille und mit allen Sinnen wahrzunehmen. Wie wirkt der Ort auf mich? Welche Gedanken verschwinden oder stellen sich ein? Welche Stimmung, welche Gefühle und Assoziationen kommen oder gehen? Wie geht es mir jetzt? Hat die Zeit gutgetan? Anschließend erzählten die Ortskundigen die Geschichte und Geschichten und auch ganz persönliche Erfahrungen, die zu den Orten gehören. Zum Abschluss gab es Gelegenheit, sich über das während der Begehung Erlebte auszutauschen. Die zu dem Ort gehörenden spirituellen Qualitäten wurden zusammengetragen und die Ergebnisse in einer Potentialanalyse dokumentiert.

Drei von 42

Die in diesem intensiven Austausch- und Begegnungsprozess gefundenen Orte und deren Qualitäten sind sehr vielfältig, wie ein Blick auf diese drei Beispiele zeigt:
 

Die Himmelsäulen in Medebach-Glindfeld – Ehrfurcht
An einer Lichtung an einem Bach steht eine Reihe von 38 Douglasien, die im Jahr 1891 gepflanzt wurden. Die Baumriesen weisen weit in den Himmel und sind mit 63 m Höhe die größten Lebewesen des Sauerlandes. Für die Teilnehmenden der Ortsbegehung ist dies ein Ort, um den Platz des Menschen in der Schöpfung zu erspüren und Kindern Natur und Schöpfung nahezubringen.

Foto 3: Ehrfurcht. Sauerland-Seelenort „Himmelsäulen“ in Medebach-Glindfeld. Foto: Klaus-Peter Kappest.
 

Das Hollenhaus in Schmallenberg-Bödefeld – Haben und Sein

Der moosbewachsene, goldgrün schillernde Felsen mitten im Wald ist verbunden mit einer Sage, die davon erzählt, dass habgierige Menschen die dort lebenden Hollen vertrieben haben. Zuordnungen aus der Ortsbegehung zeigen: Dies ist ein Ort, um sich zu erden, um alles zu relativieren, um einer Gegenkraft zu begegnen.

Foto 4: Haben und Sein – Sauerland-Seelenort „Hollenhaus“ in Schmallenberg-Bödefeld. Foto: Klaus-Peter Kappest.
 

Der Eisenberg in Olsberg – Angst und Vertrauen

Ein begehbarer mittelalterlicher Bergbaustollen, in dem man über einen engen Gang nach ca. 1 km einen größeren Raum, die Barbara-Grotte, erreicht. Die Teilnehmenden fanden dazu Bilder und Qualitäten wie: Geborgenheit in der Tiefe, Verbindung und Respekt zu den Menschen, Licht am Ende des Tunnels.

Stille, Resonanz, Verbundenheit

Drei Qualitäten haben den Prozess geleitet:

  • Stille als zentrale Erfahrung, eine Vorbedingung für eine vertiefte Wahrnehmung und unabdingbar für den Blick und das Lauschen nach innen und nach außen
  • Resonanz, die geschieht, wenn wir uns diesen Orten in Stille und mit allen Sinnen nähern. Michael Gleich beschreibt in seinem Essay zu den Sauerland-Seelenorten, was der Soziologe Hartmut Rosa unter Resonanz versteht: „Etwas erreicht einen Menschen in seinem Inneren, und er reagiert darauf mit einer eigenen Antwort. […] Das löst in uns Gedanken, Gefühle, Handlungen aus. Resonanz ist jedoch kein Echo, nichts Mechanisches. Die gleiche Begegnung kann bei einem anderen Menschen ganz andere Reaktionen bewirken“ (Sauerland-Wanderdörfer 2019, 16).
  • Verbundenheit, die aus Stille und Resonanz entstehen kann: Verbundenheit mit sich selbst, mit der Natur und mit anderen Menschen

Storytelling

Um die in diesem intensiven Prozess gefundenen Orte den Gästen und Bewohner:innen des Sauerlandes in angemessener Form vorzustellen zu können, wurde 2019 das hochwertig gestaltete Magazin Lebendige Stille. Wanderungen zu den Sauerland-Seelenorten herausgegeben (Sauerland-Wanderdörfer 2019). Darin beschreibt der weitgereiste und preisgekrönte Journalist und Moderator Michael Gleich in einer literarischen Reportage, was diese Orte ausmacht, und stellt einzelne vor. Der gebürtige Sauerländer, der jetzt in Berlin lebt, erwanderte dazu seine alte Heimat und entdeckte sie neu. Aus Gesprächen mit den Erzähler:innnen vor Ort, aus historischen Fakten, seinem eigenen sinnlichen Erleben und poetischen Assoziationen entstand zu jedem der ausgewählten Orte eine Geschichte. In seiner einfachen, sinnlichen und kraftvollen Erzählsprache macht Michael Gleich darin auch das Unsichtbare lebendig.

Die Sauerland-Seelenorte in die Welt bringen

Das Magazin wurde 2019 anlässlich der Internationalen Tourismus-Börse (ITB) Berlin in einer Multimedia-Präsentation vorgestellt. Der innovative Charakter, die qualitätvolle, stimmige Gestaltung, die neue Bild- und Wortsprache, aber auch die Tiefe und Dichte, mit der die Sauerland-Wanderdörfer in diesem Projekt den Trend hin zu Themen wie Entschleunigung, Reduktion, Sinnorientierung und spiritueller Erfahrung aufgenommen haben, hat das Fachpublikum überzeugt. In überregionalen Medien wie „Wanderbares Deutschland“, dem Magazin „natur“ sowie „Der Spiegel“ wurde über die Sauerland-Seelenorte berichtet. Gäste und Einheimische fragen das Magazin stark nach, so dass bereits eine zweite Auflage erschienen ist.

Im September 2019 erschienen zusätzlich sieben Ortsbroschüren, in denen, aufgeteilt nach den einzelnen Wanderdörfern, alle 42 Orte beschrieben werden. Sie enthalten die Geschichten von Michael Gleich, eindrucksvolle Fotografien, eine Anleitung zu einem Wahrnehmungsspaziergang und Angaben zu passenden Wanderrouten und Einkehrmöglichkeiten. Sie stehen als Ergänzung des Magazins allen Tourismusinformationen und Gastgebern kostenlos zur Verfügung. Eine Internetseite macht sämtliche Inhalte auch digital zugänglich.

2022 hat Michael Gleich zusammen mit den Fotografen Christian Klant und dem Grafiker Clemens Theobald Schedler das Kunstbuch Places of Resonance. Orte der Stille in Südwestfalen gestaltet, in dem die Geschichten der Sauerland-Seelenorte zusammen mit beeindruckenden Nassplatten-Fotografien von Christan Klant ein Gesamtkunstwerk ergeben. Durch langsames Schauen und achtsames Annähern sind so „Gefühlsbilder jenseits der Zeit“ von den Sauerland-Seelenorten entstanden (Gleich/​Klant 2022).

Nachhaltig?

Die Sauerland-Seelenorte sind inzwischen für Gäste und Einheimische ein fester Bestandteil des Wander- und Urlaubserlebnisses im Sauerland. Und sie sind nicht nur ein attraktives Wanderziel, sondern werden auch für Veranstaltungen genutzt. So finden z. B. im Spirituellen Sommer an vielen der Orte Meditationen, Konzerte u. ä. statt. Der Tourismus Brilon-Olsberg gibt alljährlich eine Broschüre heraus, in der Führungen und Erlebnis-Angebote an den Seelenorten verzeichnet sind.

Grundlage für diese Nutzung waren zwei Produkt- und Gastgeberworkshops, bei denen die Akteure zusammen mit interessierten Gastgebern Angebote zu den Sauerland-Seelenorten entwickelt haben. Zur Qualitätssicherung wurden ein Markenhandbuch und ein Leitfaden zur Entwicklung weiterer Orte erstellt. Workshops für Orts- und Erzählpaten, die sich einzelnen Orten zugeordnet haben, stärken das Netzwerk und erweitern die Kompetenzen der Akteur:innen vor Ort.