Pilger-Typen auf dem Jakobsweg: Biografische Auslöser und Religiosität
1. Pilgern auf dem Jakobsweg
Das Pilgern auf den verschiedenen Jakobswegen ist historisch seit dem 9. Jahrhundert belegt (vgl. Herbers 2016). Ihr Zielort ist das galizische Santiago de Compostela, wo das Grab des Apostels Jakobus des Älteren vermutet wird. Von dessen Wirken berichten sowohl das Evangelium nach Lukas (Lk 5,10) als auch dasjenige nach Matthäus (Mt 4,21; 17,1–13; 26,37). Beide Evangelisten schildern nicht nur die Berufung Jakobus’ zum Jünger Jesu Christi, sondern auch seine Teilnahme an verschiedenen Stationen des Wirkens Jesu. Die Apostelgeschichte thematisiert darüber hinaus die Hinrichtung Jakobus’ durch König Herodes Agrippa I. im Jahr 43 nach Christus (Apg 12,1 ff.). Zu den weiteren historischen Quellen zählt unter anderem der Liber Sancti Jakobi aus dem 12. Jahrhundert, der als erster ‚Reiseführer‘ für Pilgernde verstanden werden kann (vgl. Herbers 1984). Ihm zufolge hatte Jakobus sich darum bemüht, die Iberische Halbinsel zu missionieren, scheiterte jedoch und kehrte nach Jerusalem zurück, wo er den Märtyrertod starb. Sein Leichnam sei daraufhin von zweien seiner Jünger auf ein Boot verbracht worden, das von einer unsichtbaren Hand geleitet an die Küste Galiziens getrieben worden sei. Hier suchten sie eine würdige Ruhestätte für Jakobus und fanden diese schließlich in einem entlegenen Wald, in dem sie eine Krypta errichten ließen. Im Laufe der Jahrhunderte geriet diese Grabstätte zunächst in Vergessenheit, bis zu Beginn des 9. Jahrhunderts der Eremit Pelagius Sternbilder erblickte, die auf eine bestimmte Stelle hinzudeuten schienen (vgl. Drouve 2007). Bischof Theodemir und König Alfonso II. ließen daraufhin eine Kirche über dem vermeintlichen Grab errichten, welche ab dem 11. Jahrhundert durch die heutige Kathedrale ersetzt wurde.
Ob sich in ihrer Krypta tatsächlich die Gebeine des Apostels Jakobus befinden, ist unter Historiker/innen durchaus umstritten; gleichwohl initiierte diese Legende Pilgerfahrten nach Santiago de Compostela, die im Laufe der Jahrhunderte eine wechselvolle Entwicklung erlebten. Im Mittelalter waren die Jakobswege zunächst gut gefüllt; neben religiös motivierten Pilgerfahrten zum Zwecke von Bittstellung und Danksagung war seinerzeit auch das kirchlicherseits auferlegte Buß- und Strafpilgern weit verbreitet. Mit dem Beginn der Moderne kam es aufgrund von Pauperisierungsprozessen und europaweiten Kriegen zu einem vorübergehenden Niedergang des Pilgertums (vgl. Kurrat 2015). Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begannen sich die Jakobswege wieder zu füllen und seit den 1990er Jahren steigen die Pilgerzahlen kontinuierlich – nicht zuletzt aufgrund erfolgreicher Marketingkampagnen, europapolitischer Unterstützung und massiver Investitionen in die Infrastruktur der Jakobswege (vgl. Lois González 2013). Im Jahr 2019 wurden in Santiago de Compostela mehr als 350.000 Pilger/innen registriert, davon gut 26.000 aus Deutschland. Nach einem coronabedingten Einbruch der Pilgerzahlen setzte sich die rasante Entwicklung im Jahr 2022 fort: Erstmals wurden über 440.000 Pilger/innen registriert, davon gut 23.000 aus Deutschland (Abbildung 1).
Abbildung 1: Anzahl der in Santiago de Compostela registrierten Pilger/innen. Eigene Darstellung. Daten: Erzdiözese Santiago de Compostela, https://oficinadelperegrino.com/estadisticas/.
2. Biografische Auslöser der Pilgerfahrt
Mit der Vielzahl von Pilgernden auf den Jakobswegen geht eine Vielzahl unterschiedlicher Pilgermotivationen einher. Besonders häufig genannt werden Motivationen, die sich auf das eigene Selbst beziehen (Gamper/Reuter 2012). Mehr als die Hälfte der Pilgernden gibt an, während der Pilgerfahrt „zu sich selbst finden“ zu wollen (51,8 %), gefolgt von „Stille genießen“ (39,2 %), „spirituelle Atmosphäre fühlen“ (34,6 %), „Natur genießen“ (34,4 %) und dem „Anblick schöner Landschaft“ (32,9 %). Erst mit einigem Abstand folgen klassische religiöse Pilgermotivationen wie „aus religiösen Gründen“ (23,4 %), „andere Religionen kennenlernen“ (22,4 %), „Buße vor Gott tun“ (16,6 %) und „christliche Orte aufsuchen“ (12,1 %). Seltener werden sportliche Ambitionen, die Suche nach Abenteuern oder touristische Motivationen genannt. Bemerkenswert ist, dass kaum jemand allein deshalb pilgert, „um das Pilgerziel zu erreichen“ (6,6 %). Offenbar ist der Weg (zu sich selbst) das Ziel spätmoderner Pilgerfahrten. Das breite Motivationsspektrum bündeln die Autoren Gamper und Reuter (2012) mittels einer Faktorenanalyse zu fünf idealtypischen Pilgergruppen. Neben rein touristischen Pilgernden, zielorientierten „Sportpilgern“ und meist jüngeren „Spaßpilgern“ identifizieren sie den „traditionell-religiösen Pilger“ und den „spirituellen Postpilger“. Die verhältnismäßig kleine Gruppe der traditionell-religiösen Pilgernden zeichnet sich durch einen gefestigten, meist konfessionell gebundenen Glauben aus. Ihre Pilgerfahrten verstehen sie als Glaubensbekenntnis mit dem Zwecke von Bittstellung und Danksagung; explizit religiöse Motive nennen sie häufig als Grund für ihre Pilgerfahrten. Postpilgernde hingegen stellen die mit Abstand größte Gruppe zeitgenössischer Pilgernder auf den Jakobswegen dar.
Die Gruppe der Postpilgernden wird im Folgenden anhand qualitativer Daten ausgeleuchtet, die im Jahr 2010 entlang der Jakobswege erhoben wurden. Insgesamt wurden 30 narrative Interviews mit Pilgernden geführt. Um Personen mit rein touristischen, sportlichen oder spaßorientierten Motivationen auszuschließen, wurden nur solche Pilgernde in das Sample aufgenommen, die ihre Pilgerfahrt unbegleitet angetreten haben und mindestens 400 Kilometer gepilgert sind. Ziel der Untersuchung war es, biografische Konstellationen herauszuarbeiten, die eine Pilgerfahrt zu initiieren vermögen. Es konnten fünf Typen von Postpilgernden identifiziert werden: Bilanzierungspilgernde, Krisenpilgernde, Auszeitpilgernde, Neustartpilgernde und Übergangspilgernde (vgl. Heiser/Kurrat 2015; Kurrat 2015). Mit diesen Typen sind je spezifische Handlungsmuster verknüpft: Die jeweiligen Pilgernden legen typische Kommunikationsformen an den Tag, sie deuten die körperliche Belastung ihrer Pilgerfahrt in typischer Weise und sie messen ihrem sozialen Umfeld in der Heimat eine jeweils typische Bedeutung bei.
Bilanzierungspilgernde weisen ein fortgeschrittenes Lebensalter auf, aufgrund dessen sie sich mit dem vermeintlich bevorstehenden Ende ihres Lebens auseinandersetzen. Die Pilgerfahrt nutzen sie dazu, auf ihr Leben zurückzublicken und dessen Stationen zu reflektieren. Ihr soziales Umfeld in der Heimat hat für Bilanzierungspilgernde eine hohe Bedeutung, da es konstitutiver Bestandteil der Reflexionsarbeit ist. Ihre Kommunikation während der Pilgerschaft hingegen ist von Kontemplation geprägt: Bilanzierungspilgernde suchen Stille und haben vergleichsweise wenig Kontakt mit anderen. Die körperliche Belastung empfinden sie als Buße für sündhaftes Verhalten in der Vergangenheit, dessentwegen sie um Vergebung bitten. Ein 70-jähriger katholischer Rentner beschreibt dies im Interview mit folgenden Worten:
„Ganz entscheidend war für mich, den Pilgerweg allein zu gehen. Ich suche die Stille, innere Einkehr, möchte verschiedene Dinge aufarbeiten. Ich bin 70 Jahre alt. Das ist ein langes Leben, in dem ich viel gesehen habe und viel erreicht. Ich habe ein sehr hartes Berufsleben gehabt. Ein schönes Berufsleben, aber auch eins mit großen Forderungen an mich und meine Familie. Mit Überstunden, Sonntagsarbeit und so weiter. Da gab es viele Menschen, die mich gefördert haben, die teilweise gar nicht mehr leben, nicht mehr da sind. An die denke ich hier, erinnere mich an diese Menschen, die es gut mit mir gemeint haben, mich gefördert haben. In meinen Gedanken geht immer auch ein Dankeschön an die, die mir im Leben begegnet sind, mich unterstützt, mich aufgemuntert haben, die mir Freude bereitet haben. Das ist mir wichtig! Nicht alles, was man erreicht hat, ist ja durch eigene Körperkraft oder Intelligenz entstanden. Das darf man nicht vergessen. Meine Gedanken gehen natürlich auch zurück bis ins Elternhaus. Ich erinnere mich an meine Eltern, meine Großeltern, an meine Geschwister, die nicht mehr leben. Natürlich gibt es auch Dinge, die ich im Leben falsch gemacht habe. Darüber denke ich nach – und bitte um Vergebung. Die guten Zeiten meines Lebens überwiegen und für die schlechten Zeiten nehme ich gerne die ein oder andere Blase oder Gelenkschmerzen in Kauf. Sei es als Buße – oder wie auch immer. Ich möchte an mein Leben, das ich bisher gelebt habe, und seine Stationen zurückdenken. Dafür brauche ich die Stille.“ (P26)
Krisenpilgernde haben im Vorfeld ihrer Pilgerfahrt einen Schicksalsschlag erlitten, den sie auf den Jakobswegen zu verarbeiten suchen, beispielsweise den Tod eines Angehörigen oder die schmerzhafte Trennung von einer Partnerin. Im Gegensatz zu Bilanzierungspilgernden ist die Kommunikation mit anderen für Krisenpilgernde von entscheidender Bedeutung, da sie ihnen die Möglichkeit zum kommunikativen Austausch über die eigene Krisenerfahrung bietet. Die körperliche Belastung ihrer Pilgerfahrt erleben sie als Befreiung von Leid und Schmerz, die Körper und Seele wieder in ein Gleichgewicht zu bringen vermag. Das soziale Umfeld in der Heimat ist für sie – im Gegensatz zu allen andern Pilgertypen – völlig unbedeutend, da sie sich während ihrer Pilgerfahrt voll und ganz auf die Verarbeitung der eigenen Krisenerfahrung konzentrieren wollen. Exemplarisch für Krisenpilgernde steht eine 46-jährige katholische Heilpraktikerin:
„Dann ist mein Papa gestorben, und das hat mich sehr mitgenommen, weil ich sehr an meinem Vater hing. Und dann war das irgendwie für mich klar, um mit diesem Schmerz besser umgehen zu können, ich muss irgendwie aktiv werden, ich muss was machen. Und dann war plötzlich klar, Jakobsweg, das war es dann einfach. Und das fand ich für mich wichtig, weil durch die Bewegung hast du die Möglichkeit, etwas zu verarbeiten, was schmerzt. Und ich glaube, es ist viel besser, so etwas in der Bewegung zu verarbeiten als im stillen Kämmerchen. Für mich war es wichtig, das auch zu tun, etwas zu tun, dass der Schmerz besser verarbeitet werden kann, dass das rauskommen kann. Und auch die Begegnungen auf dem Weg, vor allem wenn es Begegnungen mit einzelnen Menschen waren, die waren sehr intensiv, weil ich habe mein Herz ausschütten können und darüber reden befreit schon mal. Und die haben ihr Herz ausgeschüttet, man kriegt mit, okay, man ist ja nicht alleine. Auch andere haben ihr Päckchen zu tragen. Und es tröstet. Es war einfach gut, hat gutgetan. Und durch die Bewegung, find ich, ist es halt immer, du schwitzt und du schwitzt auch gewisse Sachen raus. Ja, nicht nur Müll im Gewebe, sondern auch Müll aus deinem Kopf und man wird wieder frei und … ja, es tut gut. Obwohl es mich nach wie vor bewegt, weil ich meinen Papa total geliebt habe.“ (P07)
Auszeitpilgernde sind in ihrem Alltag mit hohen Anforderungen und beruflichem Stress konfrontiert. Häufig sind sie daraufhin in eine Sinnkrise geraten, die sie während ihrer Pilgerfahrt zu überwinden suchen. Die Kommunikation mit anderen Pilgernden spielt für sie eine bedeutende Rolle: In vielen Fällen ist eine Gemeinschaft, die keine Erwartungen an sie stellt, eine völlig neue Erfahrung für Auszeitpilgernde. Die körperliche Belastung empfinden sie als Entschleunigung und Beruhigung, die sie dabei unterstützt, besser auf ihren eigenen Körper zu hören. Zu ihrem sozialen Umfeld in der Heimat haben Auszeitpilgernde dezidiert keinen Kontakt, da sie Abstand zu ihrem Alltag benötigen, um neue Prioritäten setzen zu können. Zitiert wird im Folgenden eine 46-jährige konfessionslose Mediengestalterin, die den Jakobsweg gemeinsam mit ihrem Sohn pilgert:
„Ich bin selbständig im Beruf. Das heißt eben: sehr strenges, sehr volles Arbeitspensum. Ich arbeite im Prinzip sieben Tage die Woche, bin ständig unterwegs, hab’ ständig Termindruck. Mein Sohn und ich unterhalten uns teilweise in Kurzform. An der Tafel steht: ‚Häng die Wäsche auf, ich bin nicht da, bin um zwanzig Uhr zurück‘. Und er schreibt dann: ‚Habe ich gemacht, bin beim Fußball, wir sehen uns morgen.‘ Das kann es auf Dauer nicht sein! Wir begegnen uns im Alltag immer nur rein und raus, rein und raus und haben nicht wirklich die Zeit füreinander. Natürlich ist Erfolg schön, aber es füllt mich irgendwann nicht mehr aus. Wenn das nicht mehr den Sinn ergibt, den man eigentlich sucht im Leben, wenn man sagt, man ist ja nur noch da, um zu arbeiten, dann muss man irgendwann mal umdenken, wo man sagt: ‚Was will man denn eigentlich?‘ Wir sind ja viel zu materiell, zu organisiert. Das macht mich krank, das erfüllt mich nicht mehr. Und da habe ich gedacht, dass ich für mich erst mal so einen Cut brauche. Ich muss mal wirklich längere Zeit raus, längere Zeit nicht darüber nachdenken, was ist morgen und übermorgen und dieses, was einen im Alltag so überrollt. Ich brauche mal eine wirkliche Auszeit. Das hat es so auch noch nicht gegeben, dass ich jetzt 36 Tage nicht erreichbar bin. Absolut nicht. Ich habe das Handy dabei. Das Handy ist aus und wird auch erst wieder in Deutschland eingeschaltet. Viele mussten sich da erst mal dran gewöhnen, dass ich das wirklich ernst meine, dass ich wirklich 36 Tage nicht erreichbar bin.“ (P24)
Neustartpilgernde wollen ein neues Leben beginnen und haben zu diesem Zweck einen Bruch ihrer Biografie initiiert. Beispielsweise haben sie ihre Arbeitsstelle gekündigt oder ihre/n Partner/in verlassen. Ihre Pilgerfahrt wirkt für sie in erster Linie identitätsstiftend. Die Kommunikation mit anderen Pilgernden nimmt eine entscheidende Funktion ein, da Neustartpilgernde durch sie Bestätigung erfahren und eine neue Identität konstruieren können. Manifestiert wird diese durch die körperliche Belastung: Die Bezwingung des eigenen Körpers gilt ihnen als Beweis für den Neustart: Wenn ich diesen Weg bewältigen kann, dann kann ich auch mein neues Leben bewältigen. Der Bezug zu ihrem sozialen Umfeld in der Heimat kann bei Neustartpilgernden als Demonstration ihrer neu gewonnenen Lebenskraft beschrieben werden: Ihnen ist daran gelegen, sich nach ihrer Rückkehr als neuer Mensch zu präsentieren – beispielsweise ein 30-jähriger konfessionsloser Dreher:
„Dann habe ich den Betrieb gewechselt. Und da habe ich jetzt acht Jahre gearbeitet. Ich habe aber die ganze Zeit schon gemerkt, dass der Beruf mir nichts gibt. Ich war unglücklich, habe aber nie den Mut gehabt, irgendwas Neues anzufangen. War absolut unglücklich in dem Beruf, bin jeden Tag wider Willen auf die Arbeit gefahren. In der Zeit halt habe ich halt auch viel getrunken und versucht, die Probleme damit zu beseitigen. Was natürlich Schwachsinn ist! Ich habe dann gedacht: ‚So kann es nicht mehr weitergehen. Du musst jetzt noch 30 oder 35 Jahre arbeiten. Es muss doch noch was anderes geben als das, so kannst du nicht weiterleben.‘ Ich wusste nicht, was ich machen will, nach was ich suchen soll. Ich habe dann mit dem Trinken aufgehört. Es ist halt schwer, eine Tür zuzumachen, weil du monatlich dein Geld hast. Du gewöhnst dich daran, und es ist schwer zu sagen: ‚Ich mache jetzt was anderes.‘ Da hatte ich Angst vor. Aber dann habe ich von heute auf morgen gesagt: ‚Ich kündige meinen Job‘, weil ich einfach eine Zeit für mich gebraucht habe, um nachzudenken, was will ich, wer ich bin, wo es weitergehen soll. Ich habe keine Ziele mehr gehabt. Ich bin quasi nach meiner Ausbildung stehen geblieben, habe mir keine neuen Ziele mehr gesetzt. Und so habe ich mir dann gedacht: ‚Du musst den Job kündigen, du musst die Tür zumachen, um eine andere aufzumachen.‘ Sodass ich dann gesagt habe: ‚Okay, den Jakobsweg gehst du jetzt, da wirst du bestimmt viele Leute treffen, viele Gespräche haben. Du wirst viel Zeit haben, über dich selber nachzudenken.‘“ (P15)
Übergangspilgernde schließlich wollen mit ihrer Pilgerfahrt das Ende einer Lebensphase rituell gestalten, beispielsweise den Übergang von der Schulzeit ins Studium oder von der Berufstätigkeit in den Ruhestand. Auch für sie spielt die Kommunikation mit anderen Pilgernden eine wichtige Rolle, da sie Inspiration für die neue Lebensphase suchen, die nun vor ihnen liegt. Die körperliche Belastung stellt sich für Übergangspilgernde als Reifeprüfung dar: In jungen Jahren wollen sie prüfen, ob sie eine Pilgerfahrt schon, im höheren Alter, ob sie eine Pilgerfahrt noch bewältigen können. Ihre Leistungsfähigkeit wollen sie insbesondere gegenüber ihrem sozialen Umfeld in der Heimat präsentieren. Exemplarisch für Übergangspilgernde steht ein 19-jähriger evangelischer Schüler:
„Und dann ist Hape Kerkeling diesen Weg hier gepilgert und dann habe ich das Buch gelesen und durch ihn wurde das ja dann in Deutschland auch ziemlich populär. Ja, dann habe ich mich halt immer mehr dafür interessiert, mich gefragt, ob ich das machen kann, ob ich es körperlich schaffe, ob ich, ja, das ist ja auch eine geistige Herausforderung, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Also, ich war mir noch nicht so ganz klar, was ich nach der Schule machen soll, ich hatte überlegt, zur Bundeswehr zu gehen und da zu studieren und mich auf längere Zeit, also 13 bis 16 Jahre, zu verpflichten und als Soldat auf Zeit zu arbeiten. Und hatte aber noch zwei, drei andere Optionen, wie zum Beispiel Lehrer oder Förster, hatte ich auch lange Zeit im Hinterkopf noch. Also sehr verschiedene Richtungen auch und, ja, aber ich glaube, dass ich auf dem Weg hier zumindest schon den Soldaten ausschließen konnte für mich. Und so, wie ich mir das momentan überlegt habe, war die Tendenz dazu, dass ich das, was ich hier für mich gelernt habe, auch anderen weitergeben will, und ich glaube deswegen ist Lehrer doch die 90-Prozent-Tendenz. Ja. Das ist eigentlich das, was ich wissen wollte. Ich bin jetzt mit der Schule fertig, das ist doch ein recht großes Kapitel im Leben. Was macht man nach dem Abitur? Macht man jetzt die sechs Monate Grundwehrdienst? So Sachen wollte ich mir hier überlegen und bisher hat es eigentlich ganz gut funktioniert.“ (P28)
3. Religiosität während der Pilgerfahrt
Um herauszuarbeiten, welche Rolle Religion im Rahmen zeitgenössischer Pilgerfahrten spielt, wurden die Interviews im nächsten Schritt einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen. Auf diese Weise konnten acht religiöse Praktiken unterschieden werden, die Pilgernde typischerweise an den Tag legen. Diese lassen sich zu drei Gruppen zusammenfassen: zu traditionellen Formen von Religion, religiösen Kernpraktiken und spirituellen Formen.
Zu den traditionellen Formen von Religion zählt die Deutung der körperlichen Strapazen einer Pilgerfahrt als Buße für sündhaftes Handeln in der Vergangenheit. Davon hatte bereits der oben zitierte 70-Jährige berichtet. Er fühlt sich darüber hinaus, wie viele andere Pilgernde auch, von einer höheren Macht auf den Jakobsweg berufen:
„Ich muss mittlerweile sagen: Es ist […] kein Wunsch, sondern es ist ein Ruf gewesen. […] Am Anfang war der Wunsch, den Weg zu gehen, aber immer mehr und mehr ist es ein Ruf geworden.“ (P26, Abs. 5, 13)
Auch die Danksagung an Gott zählt zu den traditionellen Formen von Religion, die sich bei Pilgernden beobachten lassen – etwa bei einer 35-jährigen russisch-orthodoxen Kassiererin:
„Das ist so auch ein Dankeschön irgendwie, das ich an Gott sagen möchte. Meine Geschwister sind gesund, das Baby ist gesund, meine Familie. [...] Das ist für mich so der Hauptgrund, dass ich mich bedanken möchte.“ (P12, Abs. 191)
Zu den religiösen Kernpraktiken, die während einer Pilgerfahrt vollzogen werden, zählt einerseits das Gebet, mit dem auch ein 66-jähriger evangelischer Rentner jeden Morgen in den Pilgertag startet:
„Während dieser Tage ist es so, dass wir uns morgens zu Startbeginn umfassen, alle drei, und dass dann ein Gebet gesprochen wird und ein Taizé-Lied gesungen wird.“ (P27, Abs. 35)
Andererseits besuchen viele Pilgernde regelmäßig Pilgerandachten und sonstige Formen des Gottesdienstes, die in den vielen katholischen Kirchen entlang der Jakobswege regelmäßig angeboten werden und meist die Spendung eines Pilgersegens umfassen. Die damit einhergehende Integration in lokale Kirchengemeinden berührt die oben zitierte Mediengestalterin stark:
„Ich geh hier auch zur Messe und finde die Kirchen hier in dem Sinne schön, dass man wirklich ein Teil ist, ob man in diesem Ort lebt oder nicht. Von daher finde ich es ganz toll. Ich hab hier schon zweimal [...] das Abendmahl bekommen. […] Und der Pastor kommt und gibt jedem die Hand sogar, obwohl ich gar nicht zur Gemeinde gehöre. Und dann gibt jeder Bürger jedem die Hand. Ich kenn so etwas nicht, aber ich find es sehr beeindruckend. […] Das find ich wunderbar.“ (P24, Abs. 56)
Kirchen werden von den Pilgernden aber nicht nur als Gottesdienstorte genutzt. Zu den spirituellen Formen von Religion zählt, sie auch als Meditationsräume und Orte der Einkehr zu erfahren. Für den im vorangegangenen Abschnitt zitierten Dreher ist dies eine völlig neue Erfahrung:
„Ich geh’ auch oft in Kirchen auf dem Weg, setz’ mich fünf oder zehn Minuten hin, genieß’ die Ruhe, denk’ nach. […] Zuhause bin ich nie in der Kirche, hier gehe ich aber in die Kirche und hab’ mein eigenes Gebet. […] Hab’ das zuhause nie gemacht und ich glaub’, wenn ich wieder zuhause bin, dass ich das auch ab und zu mal machen werde, mal in die Kirche gehen. Weil’s einem vielleicht auch guttut, fünf Minuten Ruhe zu haben.“ (P15, Abs. 137)
Ihre Pilgerfahrt auf dem Jakobsweg empfinden alle Interviewten als besonders intensive Zeit, was mit der Besonderheit der Lebenssituation, in der sie angetreten wird, ebenso zusammenhängt wie mit der Distanz zur Alltagswelt. Daher werden viele Erlebnisse in den Interviews als Wunder beschrieben, beispielsweise von der bereits zitierten Heilpraktikerin.
„Wir waren da in einer gottverlassenen Gegend und da war einfach nichts […] Ich weiß noch: Es war kalt und so ein grauer, nebliger Tag und ich hab’ wahnsinnig Hunger gehabt. Und plötzlich steht da ’ne Frau und bietet dir einfach was Selbstgebackenes an. Und du denkst: Das gibt’s doch gar nicht. […] In der Stadt denkst du nicht darüber nach, weil da gibt’s Pizza Hut und McDonald’s und [...] ’ne Bäckerei an jeder Ecke [...] Aber hier kommst du aber vielleicht mal in die Verlegenheit, dass du wirklich Hunger hast. [...] Und just in dem Moment steht da ’ne ältere Frau, die gerade frische Pancakes gemacht hatte. Das ist ein Wunder. Das empfindest du in dem Moment als ein Geschenk Gottes. […] Mit diesen Wundern, die man am Wegesrand trifft, fühlt man sich dann wieder mehr so gesammelt, in der Mitte, verbunden mit der Natur und Gott.“ (P07, Abs. 104 ff.)
Schließlich werden Begegnungen mit anderen Pilgernden häufig als göttliche Sendung gedeutet und geschildert. Dies trifft auch auf den Schüler zu, der sich auf dem Jakobsweg mit der Frage beschäftigt, welchen beruflichen Werdegang er nach seinem Abitur einschlagen möchte:
„Ich glaube nicht mehr an Zufall, seit ich hier gelaufen bin. Zum Beispiel will ich nach der Schule … Um Lehrer zu werden, muss man an der Uni ein Vorpraktikum vorweisen, und das will ich in den USA an ’ner Grundschule machen. Wen treff’ ich morgens um sechs in Leon an der Kathedrale? Na ja, die Direktorin an der zweitbesten Schule in den USA, die mich einfach einlädt, ihr zu schreiben, weil sie sich wahnsinnig drauf freuen würde, mich für zwei Monate an ihrer Schule zu haben. Das ist kein Zufall, das kann ich mir nicht vorstellen. [...] Irgendwas hat diese Begegnung gewollt herbeigeführt.“ (P29, Abs. 304)
4. Fazit
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Religion nur von wenigen Pilgernden explizit als Motivation für ihre Pilgerfahrt genannt wird. Gleichwohl aber zeigen sich religiöse Deutungen und Praktiken auf den Jakobswegen auch heute noch in vielfältiger Weise. Pilgern kann daher als religiöse Praktik begriffen werden, deren Analyse Hinweise darauf gibt, unter welchen Voraussetzungen Religion auch in spätmodernen Gesellschaften erfolgreich sein kann. Entscheidend scheint dabei ein spezifisches Zusammenspiel von individueller Gestaltungsfreiheit und institutioneller Rahmung. Im historischen Vergleich nämlich werden wesentliche Aspekte der Pilgerfahrt vom pilgernden Individuum heutzutage selbstbestimmt gestaltet: nicht nur Wegstrecken und Etappenlängen, sondern auch die Nutzung religiöser Angebote. Schwer vorstellbar, dass ein nennenswerter Anteil von Menschen heute eine Pilgerfahrt antreten würde, weil sie ihnen – wie in früheren Zeiten – von einer Kirche auferlegt wurde. Die individuelle Gestaltungshoheit ist eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung für die Popularität des spätmodernen Pilgerns. Vielmehr muss sie zusammenwirken mit Institutionen und Traditionen, die es vermögen, die Evidenz der Pilgerpraxis zu sichern. In Lebenskrisen und biografischen Übergangsphasen pilgert die Mehrzahl der Betroffenen eben nicht irgendwo, sondern auf den traditionellen und von der katholischen Kirche verwalteten Jakobswegen. Religiöse Institutionen und die individuelle Gestaltung religiöser Praktiken sind daher nicht als dualistische Gegensätze zu verstehen. Vielmehr hängen beide konstitutiv voneinander ab; erst ihr Zusammenspiel vermag es, die Popularität bestimmter religiöser Praktiken unter den Bedingungen der späten Moderne zu erklären.