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Pilger oder Tourist?

Junge Menschen auf dem Jakobsweg – erste empirische Befunde

Aus Sicht der Tourismuswissenschaft charakterisieren Harald Pechlaner und Natalie Olbrich das Pilgern als Beispiel einer resilienten Form des Tourismus. Sie untermauern dies mit Einblicken einer qualitativen Feldstudie, die die Motivation von jungen Menschen verschiedener Nationen auf dem Jakobsweg erforschte.

1. Einleitung

Pilgerwege und das Pilgern als eine Form des Tourismus sind seit Jahrzehnten Gegenstand zahlreicher Forschungen – sowohl in religiösen als auch in säkularen Studienbereichen. Diese Forschung hat sich bspw. mit der Unterscheidung zwischen religiösem und spirituellem Tourismus, der zunehmenden Säkularisierung des Pilgerns und den Motivationen und Erfahrungen der Pilger beschäftigt. Einige dieser Forschungen konzentrieren sich auf eine bestimmte Pilgerroute, bspw. den Jakobsweg, der auch unter dem Namen Camino de Santiago bekannt ist. Als der vielleicht bekannteste Pilgerweg in Europa hat der Jakobsweg die Aufmerksamkeit vieler Forscher auf sich gezogen und ein breites Spektrum an Forschungsergebnissen hervorgebracht. Da das Pilgern jedoch traditionell als etwas angesehen wird, das von älteren Menschen oder zumindest von einer Gruppe Erwachsener unternommen wird, wurde eine demografische Gruppe in der Forschung – abgesehen von kleinen Beiträgen – weitgehend ausgeklammert: junge Pilger mit einem Alter von bis zu 30 Jahren. Einige Forschungsarbeiten haben sich mit jungen Pilgern anhand bestimmter Phänomene wie z. B. dem Voluntourismus befasst, aber es gibt kaum spezifische Forschungen zu den Motiven und Zielen junger Pilger. Dieser Mangel an Literatur stellt eine Forschungslücke dar, mit der sich die Exkursion „Wege und Routen als resiliente Destinationen am Beispiel des Camino de Santiago“ des Masterstudiengangs „Tourismus und nachhaltige Regionalentwicklung – Management und Geographie“ an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU) im Jahr 2022 auseinandergesetzt hat. Zusammen mit Studierenden war der Lehrstuhl Tourismus der KU Mitte September 2022 auf dem Jakobsweg unterwegs und hat das Forschungsvorhaben „Shaping Resilient Destination using the Example of the Way of St. James – Opportunities of Paths and Routes throughout Pilgrimage for Young People in Post Covid19 Times“ bearbeitet.

Der folgende Beitrag gibt einen ersten Einblick in ausgewählte Forschungsergebnisse der Exkursion.

2. Resilienz im Tourismus

Seit Jahrzehnten wird der Begriff Resilienz v. a. in den Naturwissenschaften mit dem Schwerpunkt Ökologie verwendet: Wie reagieren Systeme auf plötzliche Störungen und Stress? In letzter Zeit wird die Bedeutung von Resilienz auch in anderen Bereichen und Kontexten erkannt – bspw. in der Wirtschaft, im Tourismus und in der kommunalen und regionalen Entwicklung. Mehrere weltweite Krisen wie z. B. die globale Finanzkrise im Jahr 2008 und die jüngste COVID-19-Pandemie haben langanhaltende negative Folgen für Wirtschaft, Gesellschaft oder Politik verursacht. Das hat dazu geführt, dass man sich in vielen Bereichen dem Resilienzdenken und der Resilienzentwicklung zugewandt hat, um die negativen Folgen von Krisen zukünftig zu verhindern (vgl. Benedikter/Fathi 2022).

Katastrophen und Konflikte können sehr schnell zu einer drastischen Veränderung des Tourismus führen. Oftmals ist es nicht möglich, den Kurs in den Destinationen schnell genug zu ändern, um kurz- oder auch mittel- und langfristige Folgen zu vermeiden. Bei dieser Art von externen Katastrophen kann die adaptive Resilienz helfen, wirksam zu reagieren, sich schnell zu erholen und erfolgreich zu erneuern. Langfristige Veränderungen wie z. B. der Klimawandel oder spezielle Ausformungen von Globalisierung geben nicht nur dem Tourismussystem die Chance, mögliche Auswirkungen zu antizipieren und sich auf die Veränderungen vorzubereiten. Adaptive Resilienz funktioniert auch im Falle der Antizipation. Im besten Fall sorgt die adaptive Resilienz für eine langfristige Nachhaltigkeit des Tourismussystems – bspw. durch Vorbereitungen auf die möglichen Veränderungen.

Die Tourismusbranche ist einer der am stärksten von der COVID-19-Pandemie betroffenen Sektoren, da durch den Zusammenbruch globaler und lokaler Mobilitätsketten kein gewohntes Reisen mehr möglich war. Dies bestätigt die Bedeutung der Entwicklung von Resilienz im Sinne von Krisenfestigkeit, aber auch im Sinne von Zukunftsfähigkeit, und die Notwendigkeit eines stärkeren Wissensaustauschs zwischen den Tourismusakteuren, um Resilienz zu planen und zu managen, damit die Destinationen und Tourismussysteme zukünftig besser auf Krisen vorbereitet sind. Resilienz soll als Strategie gedacht werden, die sich auf langfristige Lösungen als Reaktion auf regionale Herausforderungen und Bedürfnisse konzentriert und nicht nur auf kurzfristige Anpassungen. In diesem Zusammenhang sind dominante Logiken von Management, Governance und Leadership zentrale Elemente der Resilienz von Destinationen.

3. Junge Pilger auf dem Jakobsweg

Das Reisen, wie wir es heute kennen, ist gewissermaßen aus dem Pilgertourismus entstanden, der auch heute noch den religiös motivierten Tourismus dominiert. Allerdings gibt es eine Vielzahl an Begrifflichkeiten, die häufig synonym verwendet werden. Nachfolgend wird zwischen religiösem und spirituellem Tourismus sowie dem Pilgern unterschieden:

  • Spirituelle Touristen beschreiben Menschen, die sich auf eine touristische Reise begeben, denselben Aktivitäten nachgehen wie Pilger und dieselben Gründe teilen, denen aber weitestgehend oder in Teilen die Identifikation mit der religiösen Bewegung fehlt (vgl. Gatzhammer 2012).
  • Religiöser Tourismus wird meist mit dem Besuch heiliger Orte und dem Beten dort sowie der Erfüllung religiöser Pflichten, Gewohnheiten oder Traditionen an diesen Orten in Verbindung gebracht. Nicht selten werden die Begriffe religiöser und spiritueller Tourismus als Synonyme verwendet (vgl. Heidari u. a. 2018).
  • Die Pilgerfahrt wird als Unterkategorie des religiösen Tourismus betrachtet. Eine Pilgerreise beschreibt das Gehen oder Reisen zu heiligen Stätten mit klar definierten religiösen Zielen. Verschiedene Arten von Pilgerreisen werden dabei unterschieden. Die Unterscheidung erfolgt bspw. nach der Anzahl der Teilnehmer und der Familienzugehörigkeit, nach der Dauer, nach der Jahreszeit, nach dem Ziel der Reise oder nach dem Ort des Pilgerziels (vgl. Olsen/Timothy 2021).

Im Laufe der Geschichte haben sich Menschen aller Art auf Reisen begeben, entweder zu einem heiligen Ort oder zu anderen Orten mit besonderer Bedeutung. Diese Reisen sind weltweit eine spirituelle und religiöse Tradition.

Wie bereits angedeutet, werden die Charakteristika, Motivationen und Erfahrungen junger Pilger auf Pilgerrouten, insbesondere auf dem Jakobsweg, in der Literatur eher selten diskutiert.

In der Vergangenheit schwankte der Anteil der jungen Pilger auf dem Jakobsweg leicht. Ende der 80er bis Ende der 90er Jahre fielen die meisten, etwa 48 % bis 63 % der registrierten Pilger, in die Kategorie der unter 30-Jährigen. In den frühen 2000er Jahren bis 2021 ging der Anteil der jungen Pilger allmählich zurück: 2005 lag der Anteil der unter 30-jährigen Pilger bei 32,2 % (Oficina de Acogida al Peregrino 2006), 2015 betrug der entsprechende Prozentsatz 28,5 % (Oficina de Acogida al Peregrino 2016) und 2021 26 % (Oficina de Acogida al Peregrino 2022). Laut einer Studie mit 1.140 Pilgern zeichnen sich die jüngeren Pilger durch spirituelle Motive der Flucht aus der Routine, der Suche nach neuen Erfahrungen und der Begegnung mit neuen Menschen und Orten aus. Eindeutige religiöse Motive werden in dieser Studie jedoch nicht erkennbar (vgl. Amaro u. a. 2018). Heiser (2021) stellt ebenfalls fest, dass Religion im Vergleich zu anderen Motiven selten als Motivation für die Pilgerreise genannt wurde. Die Befragten in seiner Studie gaben nicht ausdrücklich an, religiös motiviert zu sein, äußerten aber bspw. das Gefühl, von einer höheren Macht auf den Jakobsweg gerufen worden zu sein, oder sahen die Erfahrung als eine Möglichkeit, Gott zu danken oder Buße zu tun.

4. Ausgewählte empirische Ergebnisse

Um die Forschungsfrage zu beantworten, welche Bedürfnisse, Erwartungen und Motive die jungen Pilger auf dem Jakobsweg haben und wie der Jakobsweg als Pilgerziel diesen Bedürfnissen gerecht werden kann, wurde eine qualitative Studie umgesetzt. Den jungen Pilgern wurden 14 Fragen gestellt, und insgesamt konnten 29 Interviews (10 männlich und 19 weiblich) auf dem Camino Francés geführt werden. Die Interviews dauerten im Schnitt zwischen 15 und 40 Minuten. Hinsichtlich des Alters zeigt sich, dass die Altersspanne von 18 bis 44 Jahre reicht, wobei der Durchschnitt bei 27,9 Jahren liegt. Mit Ausnahme von Asien sind alle Kontinente bei der Interviewreihe vertreten. 18 der 29 Befragten leben in Europa, während acht Personen aus Nordamerika stammen. Die meisten Interviewten sind zum Zeitpunkt der Befragung Teil einer Gruppe. Dies gilt für 15 der 23 Befragten, die während des Interviews angaben, in einer Gruppe auf dem Jakobsweg unterwegs zu sein. Vier Befragte haben ihre Pilgerreise allein begonnen und trafen ihre Gruppe während ihrer Pilgerreise auf dem Jakobsweg.
 

Motive für die Pilgerschaft

Mit Blick auf die Motive und Beweggründe, warum junge Pilger auf dem Jakobsweg unterwegs sind, wird in Abbildung 1 ersichtlich, dass die Reflexion des Lebens, die körperliche sowie mentale Herausforderung und das Treffen von Menschen im Zentrum stehen. Junge Pilger haben Zeit, suchen das Abenteuer, stehen zwischen zwei Lebensabschnitten, brauchen eine Pause oder wollen die Herausforderung Jakobsweg angehen, um Klarheit zu erlangen. Sie wollen Ängste überwinden oder sich selbst etwas beweisen. Der religiöse Aspekt wurde in den Interviews ebenso betont. Allerdings verbinden die jungen Pilger mit Religion eher Gemeinschaft und Spiritualität.

„Ich bin hier, weil ich in meinem Leben einige falsche Entscheidungen getroffen habe. Es ging in die falsche Richtung [...] Also muss ich meine Gedanken irgendwie klären, und ich habe von einem Freund gehört, dass der Camino dafür wunderbar sein soll.“
(Zitat aus dem Interview C01)

Abbildung 1: Motive für die Pilgerschaft. Quelle: eigene Darstellung (N=29); Darstellung mit WinRelan®.
 

Pilger oder Tourist?

Im weiteren Verlauf sollten die Interviewten darstellen, ob sie sich eher als Pilger oder als Tourist sehen (vgl. Abbildung 2). Junge Pilger ordnen einem Touristen und einem Pilger bestimmte Eigenschaften zu: Touristen erkunden die Stadt oder Region, wollen die lokale Küche erleben oder machen Fotos. Ebenfalls wird die Unterkunft (Herberge) dem Tourismus zugeordnet. Hier sehen die jungen Pilger das Frühstück, die körperliche Hygiene und das Zusammenkommen und Treffen anderer Pilger. Zusätzlich ist die Unterkunft ein Ort der Stille, des Ankommens und der Reflexion. Der Pilgerschaft werden die religiöse Motivation und die Bescheidenheit zugeordnet. Zusätzlich verstehen die interviewten Pilger hierunter ihre spezielle Ausrüstung für den Jakobsweg (z. B. Wanderstöcke) sowie das Interesse an lokaler Kultur. Insbesondere die Gastfreundschaft und das Willkommenheißen der Einheimischen werden der Pilgerschaft zugeordnet.

Abbildung 2: Tourist oder Pilger? Quelle: eigene Darstellung (N=29); Darstellung mit WinRelan®.
 

Veränderungen durch die Pilgerschaft

Zudem wurde in den Interviews thematisiert, wie sich die jungen Pilger durch den Jakobsweg verändern. Wie in Abbildung 3 zu sehen ist, sind das persönliche Wachstum sowie eine verstärkte soziale Sensibilität zwei zentrale Aspekte. Hinsichtlich der sozialen Sensibilität wurde angesprochen, dass die jungen Pilger in ihrer Einschätzung eher schüchtern sind, aber durch die Pilgerreise offener gegenüber anderen Menschen geworden sind. Ebenso gaben einige Befragte an, dass sie durch ihre Erfahrungen auf dem Camino persönlich gewachsen und selbstbewusster geworden sind. Ein weiterer Punkt war die Reflexion über das Leben, aber auch über sich selbst und die eigene Denkweise.

„Ich denke, man geht mit mehr Energie und mehr Ruhe nach Hause. Und vielleicht hat man während des Camino Zeit, über einige Sorgen nachzudenken, die man hat, oder vielleicht seine Ideen neu zu ordnen oder an einem bestimmten Punkt eine Entscheidung zu treffen.“
(Zitat aus dem Interview B37)

„Ich habe das Gefühl, dass dies eine echte Reise ist. Sie ist anders als alle anderen, die ich bisher unternommen habe [...] Aber das ist etwas, das man für immer hat. Und es ist etwas, das wirklich in der Erinnerung bleibt. Es baut sich auf.“
(Zitat aus dem Interview N64)

Trotz dieser positiven Veränderungen durch die Pilgerreisen gab es auch negative Veränderungen. Einige sagten, dass sie nach ihrer ersten Pilgerreise auf dem Jakobsweg eine Depression hatten. Sie hatten nach ihrer Rückkehr Schwierigkeiten, sich wieder an ihren Alltag anzupassen. Einige hatten sogar Angst, nach Abschluss der Pilgerreise in die Realität zurückzukehren.

Abbildung 3: Veränderungen durch die Pilgerschaft. Quelle: eigene Darstellung (N=29); Darstellung mit WinRelan®.

5. Zusammenfassung und Ausblick

Ziel des studentischen Projektes entlang des Camino war es, die Möglichkeiten von Wegen und Routen, insbesondere des Jakobsweges, für junge Menschen nach der COVID-19-Pandemie und das Potenzial des Jakobsweges als Ziel zur zukünftigen Gestaltung von Resilienz zu untersuchen.

Im Rahmen der qualitativen Forschung konnte festgestellt werden, dass nicht nur die vielfältige Natur, sondern auch die vielen historischen und religiösen Stätten und die regionalen und kulturellen Besonderheiten den Camino de Santiago zu einem einzigartigen touristischen „Produkt“ machen. Das Phänomen der „camino families“, das ein loses Gruppengefüge von Einzelpersonen beschreibt, und das Zusammentreffen verschiedener Generationen können als Ansätze für gelebte soziale Nachhaltigkeit (Resilienz) interpretiert werden. Zudem zeigen die Ergebnisse auf, dass sich der Begriff des Pilgerns bei den jungen Pilgern zu einer breiteren Bedeutung entwickelt. Motive wie z. B. Selbstreflexion und körperliche Herausforderung werden dabei primär verfolgt. Junge Pilger verbinden mit dem Jakobsweg und dem Pilgern eine Art Demut: Das einfache Leben stört nicht und der Verzicht auf Luxus fällt leicht. Letztendlich überwog die Meinung, dass der Weg wichtiger als das Ziel wird.

Die Vielzahl der Krisen ist ein guter Anlass für ein Nachdenken und Weichenstellen. Themen wie z. B. Nachhaltigkeit und Resilienz haben Hochkonjunktur und lassen erahnen, dass die jungen Pilger von heute als Ergebnis dieses Nachdenkprozesses die Weichen neu stellen wollen und dafür auch einstehen. Es geht vielen im Moment eher um das Nachdenken und die weitere Entwicklung als um die Ziele, die es zu erreichen, oder Wünsche, die es zu erfüllen gilt. Der Camino kann dabei als ein Symbol für ein Nachdenken und den Beginn von großen Veränderungen stehen, die den Tourismus und praktisch alle anderen Lebensbereiche erfassen.

Das Pilgern auf dem Camino de Santiago wird als Chance gesehen, um Mut für die großen Krisen zu finden. Das Pilgern ist zunehmend ein Suchen nach Orientierung in schwierigen Zeiten, zumal uns viele unterschiedliche Krisen beschäftigen. Die Vielzahl der Krisen und deren Verwobenheit verstärken die Wahrnehmung der Pilger als Möglichkeit der Orientierung. Die Natur-Atmosphäre kann dabei der Resonanz- und Begeisterungsraum sein, den die Pilger suchen. Dieser Raum muss sowohl von touristischen als auch von anderen Akteuren, wie z. B. der Kirche, in gemeinsamen Projekten geschützt werden. Allerdings müssen die Allianzen zwischen Tourismus und Kirche weiter vertieft werden.

Abschließend ein paar Impressionen der Masterstudierenden zum Geländeseminar:

„Hiking for a longer time can be very varied. Sometimes you have a companion to walk with and sometimes you are alone with your thoughts and perception of the landscape.“

„Sometimes it’s hard, but I think that the space where I allow all the thoughts that go through my head is necessary. That’s what a pilgrimage is all about. Moving on from whatever is happening.“

„Camino is not a normal vacation.“