Mehr als Leitbilder
Ansprüche an eine christliche Unternehmenskultur
Was ist christliche Unternehmenskultur? Oder anders: Was macht die Führungs- und Arbeitskultur in christlichen Organisationen – sei es in einem diakonischen Unternehmen, einer Pfarrei oder der Kirche insgesamt – christlich? Woran lässt sich das erkennen?
Keine einfache Frage. Auch bei der Lektüre des zu besprechenden Sammelbandes schält sich für den Rezensenten nur Stück für Stück eine Orientierung heraus.
Oftmals wird mit zwei Begriffen gearbeitet: Proprium und/oder Profil. Wilhelm Tolksdorf problematisiert: „Der Versuch, die Frage nach dem ‚Proprium‘ und dem ‚Profil‘ einer kirchlichen Einrichtung oder auch Aktivität angemessen zu beantworten, läuft […] ins Leere, wird dabei ausschließlich nach dem Ausschau gehalten, was das Kirchlich-Institutionelle ‚von anderen sozialen Organisationen unterscheidet‘. Denn dabei wird die Realität verkannt, dass viele Elemente des christlichen Wertekanons längst Eingang in – säkularisierte – fachliche Standards sozialen Handelns gefunden haben“ (24). Ein christliches Profil oder eine christliche Unternehmenskultur seien etwas, was sich im konkreten Tun und dessen Reflexion immer neu konstituieren und erweisen müsse, kein statisches, lehrhaft vorgegebenes Proprium.
„Diakonische Identität entsteht im Handeln“ (77), so auch Bruno Schrage. Er sieht nur ein einziges Alleinstellungsmerkmal bei christlichen Trägern: „Der Glaube darf in der Arbeit thematisiert werden und Mitarbeitende haben einen Anspruch darauf!“ (80). Seine Folgerung, mit der er nicht alleinsteht: „Führungskräfte sind gefordert, solche Prozesse des Dialogs zu ermöglichen und auf diese Weise eine christliche Kultur und Gemeinschaftswerdung zu stiften“ (ebd.).
Und hier kommt die Bibel ins Spiel. Bereits im ersten Teil fragten zwei Beiträge nach der Bedeutung der Bibel für eine christliche Unternehmenskultur: Doch den Ausführungen von Konrad Nagel-Strotmann, der die Exoduserfahrung in den Mittelpunkt stellt, und von Birgit Pottler-Calabria, die die echten Paulinen heranzieht, kann man eher entnehmen, dass die Bibel zwar durchaus ethische Grundorientierungen vermittelt, aber nur indirekt etwas zu und für Betriebe und Unternehmen sagt. Und doch kann auch dieses Indirekte relevant werden, wie sich im zweiten Teil des Bandes zeigt.
Hier wird nämlich ein konkretes Projekt „Bibelorientierte Unternehmenskultur“ ausführlich dokumentiert. Durchgeführt wurde es in der Katholischen Jugendagentur Leverkusen, Rhein-Berg, Oberberg gGmbH, die Trägerin verschiedener Einrichtungen der Jugendhilfe ist, in den Jahren 2018 bis 2020. Dafür wurden eine Steuerungsgruppe gebildet sowie eine Projektgruppe, die aus Unternehmensmitarbeitenden sowie Mitarbeitenden des Instituts für pastorale Praxisforschung und bibelorientierte Praxisbegleitung (IbiP) an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen bestand.
Im Zentrum des Programms stand die Auseinandersetzung mit biblischen Texten, die mit der eigenen beruflichen Tätigkeit in Beziehung gebracht wurden. Grundlage dafür war die Methode 3D, deren hermeneutische Basis, aber auch deren praktische Durchführung im Band vorgestellt werden. Sie setzt auf einen erfahrungsbezogenen Schriftzugang, der die Bedeutung gleichermaßen der ErstleserInnen wie der heutigen LeserInnen für den Text ernst nimmt. Konkret bedeutete das, dass die Teilnehmenden durchaus mit exegetischen Erkenntnissen (etwa zum historischen Kontext der Texte) konfrontiert wurden, zugleich aber auch Unternehmensmitarbeitende, die bisher keine Erfahrungen mit Bibelarbeit oder der Bibel überhaupt hatten, methodisch sorgfältig begleitet wurden.
In die Prozesse, die in größeren Tagesveranstaltungen, aber vor allem in Gruppen stattfanden, flossen freilich auch Modelle der Unternehmenskultur ein; die Konzeption von Edgar H. Schein etwa, die auch im ersten Teil des Bandes thematisiert wird, macht deutlich, dass hinter den in einer Organisation üblichen Verhaltensweisen Werte und Grundannahmen liegen: Sie sind es, die die Organisationskultur letztlich wesentlich bestimmen.
Wie der Prozess der bibelorientierten Unternehmenskultur die Jugendagentur langfristig prägen wird, ist natürlich offen – auch wenn bereits einiges strukturell verändert wurde. Auf jeden Fall lässt die Projektdarstellung erkennen, wie sich aus der Arbeit der Gruppen verschiedene Einsichten, Überlegungen und auch konkrete Vorschläge für Weiterarbeit und Verstetigung herauskristallisierten, die die Weiterentwicklung der Unternehmenskultur in verschiedenen Aspekten voranbringen könnten.
Denn Unternehmenskultur ist vielschichtig und facettenreich: Das zeigte sich bereits im ersten Teil des Bandes mit seinen Aufsätzen mit grundlegenden Überlegungen. Hans-Joachim Sander z. B. weist auf die Bedeutung des Außen für eine Organisation (und deren Glaubwürdigkeit und Unternehmenskultur) hin – speziell im Blick hat er in seinem Beitrag die von Missbrauchsskandalen betroffene katholische Kirche. Elisabeth Jünemann behandelt die Thematik der Geschlechterverteilung in kirchlichen Leitungspositionen. Werner Wertgen erläutert, warum Unternehmenskultur die Steuerungswirkung durch Regelsetzung nicht obsolet macht. Melanie Kluth fragt nach katholischer Unternehmenskultur in Pfarreien, denkt dabei aber nach Ansicht des Rezensenten ein Stück weit zu hierarchisch und pfarrerzentriert. Ulrich Feeser-Lichterfeld und Rainer Krockauer plädieren für eine stärkere Sozialraumorientierung und diakonische Pastoral in Kooperation von Caritas und diözesaner Pastoral: Solche „explorative Diakonie“ könne die Haltungen von Einzelnen in der Kirche wie die Kultur der Organisation insgesamt verändern.
„Die Fähigkeit, im Führungshandeln christliche Merkmale wie Werte, Haltungen[,] aber auch kirchliche Vorgaben und Vorstellungen in der Ausübung der jeweiligen Dienste umzusetzen, wurde […] bei entsprechender Konfessionszugehörigkeit, lebendigem Bezug zum Gemeindeleben sowie der Einhaltung von Loyalitätsobliegenheiten einfach vorausgesetzt“ (65), schreibt Bruno Schrage nicht nur über lange vergangene Zeiten. Doch so einfach war es vielleicht nie und ist es heute bestimmt nicht mehr. Von daher tut ein Nachdenken darüber, was christliche Unternehmensführung und -kultur ausmacht, not. Der vorliegende Band bietet dazu Impulse für die eigene Auseinandersetzung mit der Thematik.
Martin Hochholzer