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Der nicht notwendige Gott

Die Erlösungsdimension als Krise und Kairos des Christentums inmitten seines säkularen Relevanzverlustes

Ist Gott irrelevant, weil nicht not-wendig? Mit dieser mehrdeutigen Frage charakterisiert Jan Loffeld, Professor für Pastoraltheologie in Tilburg, in seiner Habilitationsschrift das Grundproblem: Gott ist in der säkularen Gegenwart nicht notwendig, weil nicht not-wendend. Die Dimension der Erlösung – als der eigentliche und tiefste Grund und das Ziel christlichen Glaubens und kirchlicher Verkündigung und Feier – ist in die Krise gekommen, weil „Erlösung“ in der säkularen Gegenwart westeuropäischer Gesellschaften offenbar so nicht mehr gebraucht zu werden scheint.

Die Pastoraltheologie muss Säkularität ernst nehmen, nicht nur als Rahmen und Begleiterscheinung, sondern für eine Neuformulierung dessen, was als Kern der christlichen Verkündigung, nämlich die Botschaft von Rettung, Heil und Erlösung, was eben gerade in dieser Säkularität offenbar obsolet geworden zu sein scheint.

Es geht Loffeld also nicht primär um Erosions-, Entkirchlichungs- oder Entchristlichungsprozesse. Vielmehr ist angesagt, die „Relevanzkrise des Evangeliums zu adressieren, sie zu analysieren, dabei interpretativ begehbar zu machen, um ihr schließlich angemessen begegnen zu können“ (17). Diese Krise des inneren Zusammenhangs von zunehmender Bedeutungsminderung christlicher Religion und ihrem soteriologischen Uranliegen sieht der Autor gleichermaßen als Kairos und als Chance. Das Wagnis der Leerstelle und ein anderes Verständnis von Säkularität führen für ihn zu Erfahrungen an einem dritten Ort, die die Erlösungsdimension in neuer Weise füllen könnten.

In seiner detail- und kenntnisreichen Arbeit zeichnet der Pastoraltheologe zunächst den Religionsbegriff funktional und substantiell nach und diskutiert den Stand der religionssoziologischen Grundthesen zur Transformation des Religiösen: Säkularisierung, Individualisierung, Marktmodell. Da die Klassiker aber nicht mehr ausreichen, bietet Loffeld aktuelle Forschungsansätze der Fortschreibung an. Es sind dies bspw. Thesen des religiösen Bedeutungswandels als Konkurrenzsysteme auf verschiedenen Ebenen, Absorption, Distraktion, Verkopplung, multiparadigmatische Theorien religiösen Wandels sowie Ansätze von „fuzzy religion“ und dem Zusammenhang von Wertewandel und Schweigespirale. Jugendstudien und Religionsmonitor zeigen auf (was nicht ganz neu ist), dass Menschen sich nicht festlegen, vielmehr individuelle Religionscocktails gestalten. Der Zusammenhang zwischen Werten und Religion erodiert jedoch zunehmend. Der erste analytische Teil schließt mit Ansätzen von José Casanova und Peter Berger: Multiple Säkularitäten sorgen dafür, dass Säkularisierungen, religiöse Transformationen, Erweckungen und Resakralisierungen als wechselseitige Prozesse ablaufen, Religion aber nie ganz verschwindet. Das hat im Letzten etwas damit zu tun, dass multiple Modernitäten angenommen werden, in denen Konflikte und Wettbewerb zwischen Wertsphären in Westeuropa letztlich als Werteverlust wahrgenommen werden. Das Christentum ist in seinem Grundanliegen (heilsame, erlöste Existenz, Leben in Fülle) perspektivisch geworden.

In einem zweiten großen Teil versucht der Autor zu zeigen, warum Erlösungserfahrungen in säkularen Praktiken aufscheinen, die ihrerseits Relevanz aufzeigen und beanspruchen. Nach Charles Taylor wird „Fülle“ innerhalb eines immanenten Rahmens erfahren, es gibt offenkundig strukturelle Ähnlichkeit zwischen gläubiger und nicht-gläubiger Fülle-Erfahrung. Die Gegenwart bietet einen immanenten Rahmen, in dem die (tranzendent verstandene) Gnade irrelevant wird. Nach dem Historiker Thomas Großbölting erfolgt der „Verlust“ des Himmels durch den Wechsel zur Ich-Gesellschaft; innerhalb der Religionsgemeinschaften wurde ebenfalls eine Immanentisierung vorangebracht. Die Spannung zwischen Transzendenz und Immanenz ist aufgehoben. Von Hartmut Rosa wird das Konzept der Resonanz als säkulares Konzept der Weltbeziehungen und Welterfahrung beigesteuert. Byul-Chul Han zeigt den Optimierungsdrang der „Positivgesellschaft“ und ihren Ausschluss der Negation. Mit Peter Gross zeigt er auf, dass der Glaube an Erlösungspotenziale fehlt, weil Erlösung angesichts der radikalen Immanentisierung der Existenz immer mehr zur Emanzipation wird.

Besonders anregend lesen sich die Beschreibungen der ausgewählten Orte und Praktiken neuer immanenter Relevanz: der Fußball als die neue große Erzählung im Sinne der Ritualisierung von Berechenbarkeit und Zufall, der eigene Körper als Heilsort, wie es sich in Optimierung, Schönheitsbemühungen und Fitness erweist. Der Körper als Konstruktion, in der das Subjekt Zugang zu sich selbst findet, lässt Diätetik und Wellness als eine diesseitige und optionale Transzendierung verstehen. Konsumpraxis (Shopping) als Erlebnis- und Sinnmarkt: Durch die Beiträge der Konsumsoziologie wird deutlich, wie Bedürfnisse von Sicherheit, Zugehörigkeit, Inklusion (dazugehören wollen) und Exklusion (sich von anderen abheben) und Markenorientierung einen religionsanalogen Charakter annehmen. Schließlich wird der Tourismus als Sehnsucht nach positiven Orten zum personalen Sinnmarkt. Die Beispiele zeigen: Der Mensch möchte auf Fülle, Resonanz, Selbsttranszendenz und Selbstthematisierung nicht verzichten; dies ist allerdings nicht notwendigerweise religiös, sondern in der Eigenlogik säkularer Vollzüge unter Ausfall von Transzendenz möglich. Es geht dabei also weniger um Wiederkehr der Religion als um religionsanaloge und diesseitige Sakralisierungen. Loffeld resümiert, dass gerade diese Verschiebung des Fülle-Rahmens zum konstatierten Bruch zwischen Evangelium und Kultur führt. Ein Christentum, das mit Transzendenz/Immanenz-Codes arbeitet, verliert die Straße, auf die es die Kraft übertragen könnte. Was bleibt, ist ein leerer Ort und eine Entmächtigung des Christentums.

Die eingeschobenen systematischen Reflexionen auf Soteriologie sind nach Auffassung des Rezensenten nicht ganz so spannend zu lesen, zeigen aber, dass in der Theologiegeschichte der eine christliche Erlösungsglaube sich in unterschiedliche Paradigmen, Denkformen und Vorstellungen verschränkt hat und innerhalb zeitgenössischer Denkformen immer wieder reformuliert wurde. Keines der Paradigmen der aktuellen systematischen Diskussion eignet sich jedoch nach Loffeld mehr als Zentralperspektive oder als Masternarrativ.

Der letzte Teil versucht nun den konstatierten Tatbestand als Kairos, als Chance zu begreifen. Loffeld hat Recht: Die aktuellen Diskurse um Reformen und Strukturen von Sozialformen in der Kirche greifen zu kurz, es muss grundsätzlich mit unverrechenbarer Heterogenität und dem Ende aller Einheitskonstruktionen gerechnet werden. Insofern gälte es für Pastoral und ihre Planung, die Leerstelle als solche zu akzeptieren und auszuhalten, ohne sie traditionell zu füllen. Es gälte weiterhin, Fremdheit, Perspektivität, Ambiguität und Verflüssigung ernst zu nehmen und gleichzeitig entsprechende Räume erlösten Lebens zu entdecken oder zu eröffnen.

Der Leser wird aber dann relativ alleine gelassen, wie das praktisch aussehen könnte. Sicherlich ist der angeratenen doppelten Strategie pastoraltheologisch zuzustimmen, „Ohnmachtserfahrungen spiritualitätstheologisch zu nutzen bzw. zu begehen sowie kenotisch nach neuen Orten zu fragen, an denen sich im Volk Gottes das Neue bereits bislang unerkannt ankündigt“ (296). Dennoch bleibt trotz des Verweises auf Volksfrömmigkeit und auf gelebten Glauben vor Ort im Sinne des sensus fidelium hier eine gewisse Erwartung offen, in welcher Weise dies pastoral-praktisch angesichts der aktuellen Bedingungen, Begrenzungen und Probleme des kirchlichen und religiösen „Systems“ unterstützt werden könnte. Rahners Verhältnis von Erfahrung und deren Reflexion, die Phänomenologie zum „Wiederaufsuchen der Wurzelerfahrung des Glaubens“ (308), der Instinkt, der Hinweis auf die empirische Theologie („aufblitzen im Sehen“) und auf Disclosure-Erfahrungen („raus ins Feld!“), das ist alles in Ordnung! Steht aber der Ermutigung, „dorthin zu gehen, wo sich ein heutiges Sich-Ereignen des Dogmas vermuten lässt“ (333), und dem Ziel, den lebensweltlichen Erfahrungsgehalt des Erlösungsglaubens im Sinne einer Ordnung im Nachgang zu rekonstruieren, nicht doch einiges im Wege? Erstens: Will man damit nicht doch eine wie auch immer geartete Systematik, Ordnung, Einheit oder zumindest Kommunikabilität generieren, die angesichts der Singularität der Erfahrung von Fülle und Gnade vom Grundansatz der These her vielleicht nicht gewollt ist und angesichts der empirischen Befunde auch gar nicht möglich ist? Und zweitens: Wie verbindet sich diese kontextuelle zeitgenössische vielgestaltig-ambivalente Auslegung der Erlösungsdimensionen mit den „Ur-Kunden“ und mit der diachronen Auslegungstradition des jüdisch-christlichen kollektiv-historischen Glaubensweges? Kann man da noch miteinander im Gespräch sein?

Von Loffeld selbst angebotene Beispiele für eine radikal nachgelagerte erfahrungsbezogene Interpretation der Erlösungsrelevanz: Rupert Neudecks Leben in radikaler Solidarität, der literarische Niederschlag von Esther Maria Magnis’ „Gott braucht dich nicht“, die Eintragungen in einem Klostergästebuch, Façenda de Esperanza, öffentliche kirchliche Vergebungsbitten. Dem einen wird es zu frei sein, der anderen zu nah/persönlich! Leider verbleibt der letzte Teil thetisch, es bleibt offen, wie mit der Optionalität nicht hinreichender, sehr der persönlichen Deutung verhafteter Erfahrungen umgegangen werden kann. Und wie können Menschen miteinander im Dialog sein über Orte und Erfahrungen der Fülle und Erlösung und darüber, wie sie mit dem christlichen Grundanliegen korrespondieren, wie es durch seine Zeuginnen und Zeugen manifestiert wird? Was ist daran auf welche Weise das Erlösende?

Große Zustimmung zu Loffelds Hauptthese, dass sich der erlösende Gott pluriform, liquide, ungeplant und entgrenzt „ereignet“: „Die Zentraldimension des Christlichen ist damit in ihrer ursprünglichen Gestalt an sehr verschiedenen Orten präsent, die als kleine, zumeist sehr unscheinbare, aber lebendige und existentiell wirksame Personen, Initiativen oder Zellen innerhalb eines Christentums zum Vorschein kommen, dessen Größe und Bedeutung sich damit in völlig andere Wirkweisen hinein transformiert hat“ (369). Es bleiben dennoch Fragen: Wie sind die Bedingungen der Erfahrung und Wahrnehmung (durch wen?), der deutenden Erkenntnis und der Gestalt der Kommunizierbarkeit dessen, was als erlösend erfahren wird? Und: Angesichts der aktuellen vorfindlichen Haltungen und spirituellen Äußerungen des Christseins und der derzeitigen verfasst-kirchlichen Gestalt, wie kann durch Haltungen und Handeln von Einzelnen, von Verantwortlichen, durch einen spezifischen Umgang mit kirchlichen Ressourcen eine solche neue Form der Relevanz der Erlösung entdeckt und bezeugt werden?

Das Buch ist eine großartige Einladung, die Leerstellenerfahrung zuzulassen, um den ganz anderen Gott neu zu entdecken, daran die eigene (religiöse) Identität und die Relevanz des Säkularen neu zu lernen. Und so sehr ich zustimme, dass dazu ein neuer Habitus vonnöten ist, so sehr bleibe ich ein wenig unbegleitet in der Frage, wie dies in der aktuellen Gemengelage gehen kann und was ich dazu tun kann, um solche Prozesse zu unterstützen. Aber vielleicht ist das ja auch eine Aufgabe der pastoralen Praxis, nicht der Pastoraltheologie …

 

Hubertus Schönemann