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Innovative Projekte als Lernfelder und -chancen für die Kirche

Erfahrungen bei der Gründung und Entwicklung des Coworking Space Blau10

Bei der Initiierung von innovativen kirchlichen Projekten richtet sich das Augenmerk oftmals auf neue analoge und digitale Räume und Formate, neue Zielgruppen oder Sozialformen. Dabei wird versucht, den Auftrag in einem sich verändernden Umfeld wahrzunehmen und neue kirchliche Orte und Formen kontextbezogen zu entwickeln, jenseits und ergänzend zur traditionellen Struktur. Solche Projekte müssen gegenüber den kirchlichen Verantwortlichen, oftmals im Gegensatz zu bestehenden und traditionellen Angeboten und Aktivitäten der Kirche, besondere Rechenschaft ablegen über den Einsatz der investierten Finanzen und das Erreichen der erwarteten Wirkungsziele. Dabei wird teilweise vergessen, dass nicht nur die Außenwirkungen der Projekte evaluiert werden sollten, sondern auch nach den Chancen und Lernerfahrungen für die bestehende Kirche gefragt werden kann. Denn durch die Initiierung solcher neuen Projekte werden gemeinsam mit den Beteiligten Erfahrungen gemacht, die einerseits das bestehende System Kirche und die bisherigen Logiken herausfordern, andererseits aber auch inspirierend und entwicklungsfördernd sein können. In diesem Beitrag soll exemplarisch dargestellt werden, welche Lernfelder und ‑chancen sich am Beispiel der Initiierung des Coworking Spaces Blau10 in Zürich eröffnet haben und wie ein Lerntransfer in das hergebrachte System begünstigt werden kann.

Entstehung des Coworking Spaces Blau10

Im Jahr 2015 wurde die Verwaltung der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich umstrukturiert. Dabei gab es im Haus der neu geschaffenen Abteilung Kirchenentwicklung leerstehenden Raum, den es zu nutzen galt. Während einer Veranstaltung dieser neuen Abteilung im Impact Hub, dem größten Coworking-Space der Stadt Zürich, wurde die Idee geboren, im noch ungenutzten Raum ebenfalls einen Coworking-Space zu eröffnen. Dieser Coworking-Space sollte zu einem kreativen Raum entwickelt werden, wo kirchliche Mitarbeitende und nichtkirchliche Gründer:innen und Selbstständige sich begegnen und gemeinsam an ähnlichen Themen wie zum Beispiel Organisationsentwicklung, Migration, Diversity, Nachhaltigkeit oder soziale Innovation arbeiten. Dieser Coworking-Space sollte ein Raum für Innovation sein, der die Kirche als reife Organisation herausfordert, inspiriert und neue Vernetzungen und Kooperationen möglich macht (vgl. Josef/​Back 2018). Nach zwei Jahren interner Entwicklungs- und Überzeugungsarbeit konnte im April 2017 der Coworking Space Blau10 eröffnet und rasch eine Community von rund 40 Personen aufgebaut werden. Es wurden Möglichkeiten geschaffen, dass sich diese Community von meist nichtkirchlichen Coworker:innen mit den Mitarbeitenden der Abteilung Kirchenentwicklung durchmischt, sich in Veranstaltungen und Pausenräumen begegnet, gegenseitig inspiriert und dass so neue Vernetzungen und Kooperationen begünstigt werden.

Lernfelder bei der Initiierung und Entwicklung des Coworking-Spaces

Mit der Eröffnung eines Coworking-Spaces hat sich die Reformierte Kirche in ein komplett neues Feld begeben, mitten in die sich verändernde Arbeitswelt und im Besonderen in die Netzwerke und Kultur der Coworking-Spaces. Dieser Umstand war bestimmt hilfreich, da sich die Kirche dadurch von Beginn weg nicht primär als Expertin, sondern als Lernende verstanden hat. Innerhalb des kirchlichen Systems mussten dieser neue Weg und die neue Rolle jedoch nachvollziehbar kommuniziert und begründet werden.

Es konnten Lernerfahrungen gemacht werden, wie ein Coworking-Space-Konzept und eine neue eigenständige Marke entwickelt und als selbstorganisierter Raum innerhalb der bestehenden Strukturen etabliert werden konnte. Hier wurde die Abteilung Kirchenentwicklung selbst zur sogenannten Intrapreneurin (Unternehmerin innerhalb des Systems), da sie mit diesem innovativen Projekt neue Wege beschritt und eigene Erfahrungen in der Initiierung eines solchen Coworking-Spaces machen konnte.

Durch den anschließenden Betrieb und die Entwicklung des Blau10 wurden weitere Lernfelder eröffnet. So konnten die Mitarbeitenden der Abteilung in folgenden Themen Erfahrungen sammeln (vgl. hierzu auch Burri 2021, 118 ff.):

  • Iterative Strategieentwicklung
  • Förderung und Klärung von Partizipation aller Beteiligten
  • Community-Building
  • Netzwerke fördern und entwickeln
  • Branding und digitale Kommunikation auf sozialen Medien

Falls neue Projekte nicht komplett außerhalb und losgelöst von der Kirche etabliert werden, ist eine solche Initiierung immer auch eine Intervention im System selbst. So wurden die kirchlichen Mitarbeitenden alleine durch die Präsenz der neuen und wachsenden Coworking-Community herausgefordert, ihre Räume zu teilen, Gastfreundschaft, Neugier und Offenheit für die Coworker:innen und ihre Themen zu entwickeln. Die Initiierung eines solchen Projekts innerhalb der Liegenschaft der Abteilung Kirchenentwicklung hatte so auch eine beobachtbare Auswirkung auf der kulturellen Ebene des Zusammenarbeitens. Durch diese Kollision der teilweise sehr unterschiedlichen Arbeitskulturen entstand teilweise aber auch Reibung. Dies wurde bewusst in Kauf genommen, und das verantwortliche Team der Abteilung Kirchenentwicklung war und ist immer wieder herausgefordert, eine intermediäre Rolle zwischen den verschiedenen Welten einzunehmen, zu vermitteln und sie in Verbindung zu halten.

Potential für die Kirche

Die Abteilung Kirchenentwicklung konnte sich durch die Initiierung und Entwicklung des Coworking-Spaces eine glaubwürdige Expertise erarbeiten, die sie gerne auch mit anderen interessierten kirchlichen Akteuren aus Ortsgemeinden und Landeskirchen teilt. Durch die Möglichkeit von Besuchen des Coworking-Spaces konnten in den ersten fünf Jahren des Coworking-Spaces weitere kirchliche Verantwortungsträger:innen inspiriert werden. Daraus sind mindestens zwei neue Coworking-Spaces entstanden. Es hat sich gezeigt, dass die Idee und das Potential von Coworking-Spaces von vielen Kirchen oder Kirchgemeinden erkannt und begrüßt wird, aber die konkrete Umsetzung doch mit einigen Hindernissen bestückt ist respektive mehr Zeit braucht als erwartet.

Zusätzlich zu den oben gemachten Kernerfahrungen gibt es im Coworking-Space weiteres Potential für Inspiration und Vernetzung mit der Kirche durch die dort arbeitende Coworking-Community. Die kuratierte Community arbeitet im Blau10 an denselben Themen, an denen auch die Kirche interessiert und in denen sie engagiert ist. Dieses Potential gilt es in Zukunft noch mehr zu fördern und den Coworking-Space noch stärker als Inkubator für gemeinsame Themen und Zusammenarbeit zu entwickeln. Hier ist im Besonderen das Leitungsteam des Coworking-Space gefragt. Es kann sich auf die Suche nach möglichen Vernetzungen und Kooperationen machen und das Potential noch mehr sichtbar machen, zum Beispiel durch Veranstaltungen oder Storytelling auf sozialen Medien. Dabei gilt es, die Balance zu wahren zwischen einer aktiven Rolle im Inkubator und auf der anderen Seite dem Vertrauen und der Stärkung der Community als Raum für mögliche Vernetzung, die sich auch ohne Zutun eines Teams oder Moderation und Vermittlung ereignet.

Weiteres Potential für die Kirche liegt in den ehemaligen Coworker:innen. Diese haben eine positive Erfahrung mit der Kirche gemacht und bleiben durch ihre Arbeit und gemeinsame Zeit im Coworking-Space mit der Idee und dem Raum selbst verbunden. Um dieses Netzwerk zu pflegen, wurde auf LinkedIn eine geschlossene Gruppe eröffnet. Weitere Vernetzungen ergaben sich auch durch den Kontakt mit befreundeten Coworking-Spaces oder Coworking-Organisationen in der Schweiz (zum Beispiel Coworking Switzerland und Village Office). Die Kirche wird hier als Akteurin in der Coworking-Landschaft wahrgenommen, auch wenn der Coworking-Space klein ist und als Community-orientierter Space mit Fokus auf soziale Innovation ein besonderes Profil hat.

Förderliche Faktoren für einen Lerntransfer

Wie können nun die Lernerfahrungen des Coworking Spaces Blau10, oder generell von neuen kirchlichen Initiativen, für das bestehende System Kirche fruchtbar gemacht werden? Aus der Erfahrung mit Blau10 gibt es einige förderliche Faktoren, die ein solches Lernen begünstigen. Drei davon sollen im Folgenden kurz dargestellt werden.

a) Selbstorganisierter Entwicklungsraum

Förderlich für den Lernprozess war der Umstand, dass von Seiten der kirchlichen Verantwortlichen von Beginn weg ein klares Mandat erteilt worden ist, mit gewissen Rahmenbedingungen und zwei Jahren Pilotphase. Dabei ist für diese Zeit ein selbstorganisierter und ‑verantwortlicher Raum zur Verfügung gestellt worden. In diesem Raum innerhalb des bestehenden Systems konnten die beschriebenen Lernerfahrungen gemacht werden. Dieses Vorgehen erfordert von Seiten der Kirchenleitung Mut und Vertrauen, begünstigt aber einen echten Lernprozess.

b) Intermediäres Team

Es gilt nochmals zu betonen, dass allein die Initiierung eines solchen Projekts eine Intervention im bestehenden System darstellt. Diese läuft in der Regel nicht ohne Reibungen ab, da es unweigerlich zu Kollisionen von unterschiedlichen Kulturen, Erwartungen oder Bedarfen kommt. Teilweise wird dies sogar begrüßt, dient es doch einem internen Lernprozess. Förderlich ist dabei, dass ein intermediäres Team für die Initiierung und den Betrieb des Coworking-Spaces beauftragt worden ist. Dieses Team aus Mitarbeitenden der Abteilung Kirchenentwicklung lebt in beiden Welten, vermittelt und kommuniziert zwischen diesen beiden Kulturen.

c) Kommunikation und Erfahrungsräume

Weiterer förderlicher Faktor für einen Lerntransfer ist die Kommunikation mit den unterschiedlichen Anspruchsgruppen innerhalb und außerhalb der Kirche. Dafür ist es wichtig, statistische Daten und Storys von Beginn weg zu sammeln und zu kommunizieren. Weiter ist es wichtig, informelle und formelle Räume zu schaffen und zu fördern, in welchen die kirchlichen Mitarbeitenden den Nutzen und Gewinn des Coworking-Spaces selbst erleben können. Dies geschieht zum Beispiel in sogenannten Impulsen über Mittag oder geselligen Veranstaltungen, in welchen sich Coworker:innen und Mitarbeitende der Kirche begegneten.

Fazit

Neue kirchliche Projekte eröffnen ein großes Potential an Lernerfahrungen. Diese gilt es als Kirche zu nutzen und einen Lerntransfer anzustreben. Bei der Gründung des Coworking Space Blau10 war als Voraussetzung dafür die Haltung der Kirche entscheidend, sich im neuen Projekt als echte Lernende zu verstehen und die Coworker:innen und Expert:innen aus anderen Coworking-Spaces als Mitlernende und Mitgestaltende auf Augenhöhe zu sehen und miteinzubeziehen. Hier vermischen sich die Grenzen zwischen kirchlich und nichtkirchlich, intern und extern, zwischen Subjekt und Objekt. Der Raum wird gemeinsam bespielt und entwickelt. Im Zentrum steht dabei nicht die Dienstleistung oder das Angebot der Kirche, sondern das Thema Coworking und der Space als Raum hierfür. Diesen Schritt weg von einer Dienstleistungs- oder Angebotshaltung hin zu einer Lernhaltung erweist sich als Schlüssel, aber auch als Herausforderung für einen effektiven Lernprozess und ‑transfer. Die Kirche eröffnet in diesem Sinne wirklich einen Space und nimmt in ihm eine hörende und lernende Rolle ein, gemeinsam mit den Coworker:innen, den kirchlichen Mitarbeitenden und weiteren Akteuren. Ein solcher Lernweg braucht Zeit, Geduld und Vertrauen von Seiten der Kirche als Auftraggeberin und Investorin, denn ein solcher Weg eröffnet auch Unsicherheiten und Unwegsamkeiten. Er stellt jedoch eine große Möglichkeit dar, statt lediglich Ähnliches vom Bisherigen zu reproduzieren, tiefgreifende Lern- und Entwicklungsprozesse zu gestalten und diese Erfahrungen für die Kirche nutzbar zu machen.