Weil niemand allein leben kann
Stellvertretung: Annäherungen an einen Begriff
Vielleicht haben Sie das auch schon einmal erlebt: Jemand hat etwas für Sie erledigt, ohne das vorher mit Ihnen abzusprechen – und Sie sind nicht glücklich damit. Denn eigentlich wollten Sie das selbst machen und sehen, wie das läuft; oder schauen, ob Sie das auch selbst schaffen; oder bei dieser Gelegenheit einen Kontakt knüpfen …
Stellvertretung kann problematisch sein – nicht nur, wenn sie ungefragt geschieht. Auf der anderen Seite könnten wir nicht ohne stellvertretendes Handeln leben: Eltern regeln viele Dinge für ihre noch unmündigen Kinder. Mit der steigenden Lebenserwartung gibt es auch immer mehr Pflegebedürftige, die viele Rechtsgeschäfte und Erledigungen nicht mehr selbst machen können. Und auch, wer „im Vollbesitz seiner Kräfte“ ist, kann in die Lage kommen, dass er etwas nicht selbst erledigen kann – und sei es nur wegen einer Terminkollision.
Und noch ein aktuelles Beispiel: Nicht alle können sich gegen Corona impfen lassen; derzeit sind z. B. in Deutschland noch keine Impfstoffe für Kinder zugelassen. Hier sind dann alle anderen aufgerufen, sich impfen zu lassen und so eine Herdenimmunität zu schaffen, die allen zugutekommt.
Weite ich damit den Begriff der Stellvertretung zu sehr aus? Ich gehe sicherlich über das hinaus, was Gesetze als Stellvertretung definieren. Im rechtlichen (und kirchenrechtlichen) Bereich ist es wichtig, dass klar ist, wann sich jemand vertreten lassen darf und welche Regeln für eine solche Vertretung gelten.
Bei stellvertretender Leitung (etwa in einer Firma) kommen zu den rechtlichen Regelungen und offiziell übertragenen Kompetenzen auch noch ungeschriebene Gesetze und Verhaltensregeln hinzu. Ebenso geht stellvertretendes Handeln in Politik und in Organisationen üblicherweise von einer offiziellen Beauftragung aus.
Anders ist das in der Theologie, die sich am stellvertretenden Eintreten Jesu Christi für uns Menschen abarbeitet: Das ist nicht nur unbeauftragt, sondern auch existentiell, geht also weit über eine Stellvertretung in einem bestimmten Lebensbereich oder Arbeitskontext hinaus.
Der Stellvertretungsbegriff erhält also in verschiedenen Fachgebieten eine je eigene Bedeutung und ist damit vieldeutig und schwer zu fassen. Er erfährt aber mehr Kontur, wenn man ihn einigen anderen Begriffen gegenüberstellt:
Eher einfach fällt die Abgrenzung zu Fürsorge, wo jemand etwas an mir tut, während bei Stellvertretung jemand etwas zwar für mich, aber gegenüber anderen tut. Stellvertretung überschreitet also meinen persönlichen Bereich; sie ist eine indirekte Weise, in der Welt präsent zu sein.
Bei einer Repräsentation bin ich wie bei einer Stellvertretung nicht im eigenen Namen präsent. Wenn ich aber etwas repräsentiere, ist das eher eine Organisation, während ich Stellvertreter einer Person bin. Stellvertretung ist also nichts Unpersönliches, sondern geschieht immer in Beziehung zu einem Menschen. Außerdem kann Repräsentation sehr passiv erfolgen – etwa durch bloße Anwesenheit –, während mit Stellvertretung doch zumeist ein Handeln verbunden ist.
Ein Vertreter kann Verschiedenes sein: ein Exemplar einer bestimmten Spezies, ein Handelsvertreter, ein ständiger Vertreter in der Diplomatie. Auch eine Stellvertreterin ist eine Vertreterin. Ein Vertreter in einem Gremium – etwa ein Volksvertreter im Bundestag – ist aber kein Stellvertreter: Stellvertreter werden üblicherweise nicht gewählt und vertreten keine Personenmehrzahl.
Doch was ist mit Jesus Christus und seinem stellvertretenden Leiden? Daran, dass man vom stellvertretenden Handeln Jesu spricht, er aber nur selten als Stellvertreter der Menschen bezeichnet wird, wird deutlich, dass man, was die Anwendbarkeit der Begriffe betrifft, zwischen „Stellvertreter“, „Stellvertretung“ und „stellvertretend“ unterscheiden muss: Letztere Begriffe gebraucht man auch in Situationen, wo man es vermeidet, jemanden als Stellvertreter zu bezeichnen. Wenn z. B. Amnesty International anwaltschaftlich für politische Gefangene eintritt, so mag dies zwar ein stellvertretender Protest gegen Menschenrechtsverletzungen sein, aber macht Amnesty International oder deren AktivistInnen noch lange nicht zu StellvertreterInnen der Gefangenen.
Hier wird der oftmals metaphorische Charakter der Rede von Stellvertretung deutlich.
So hat verschiedenes Handeln gerade auch durch seine anwaltschaftliche, exemplarische und zeichenhafte Funktion einen gewissen Stellvertretungscharakter:
WissenschaftlerInnen, ForscherInnen und ExpertInnen jeder Art bauen mit viel Zeit- und Ressourceneinsatz Wissen und Expertise auf, so dass andere das nicht tun müssen (sie hätten ja auch zuallermeist gar nicht die Zeit oder die Fähigkeiten dazu), gleichwohl aber darauf zurückgreifen können. Eine Theologin etwa hat sich durch ihr Studium Zugang zu 2000 Jahren christlicher Theologie erworben. Für die „einfachen Gläubigen“ ist es nicht möglich, zu jeder dogmatischen Detailfrage die Diskursgeschichte zu kennen – und es ist für sie zumeist auch nicht interessant und relevant. Wenn eine theologische Frage aber relevant ist, können sie auf die Expertise der Theologin zurückgreifen.
Ähnlich ist es mit Menschen, die professionell oder oft auch hobbymäßig fast vergessene Handwerkstechniken, alte Obstsorten etc. bewahren, die heute nicht mehr gefragt sind. Doch unter bestimmten Umständen werden solche Leute manchmal plötzlich sehr wichtig: etwa, wenn es um die Renovierung historischer Bauten geht oder wenn Züchtungen gesucht werden, die mit dem Klimawandel besser zurechtkommen.
Und dann gibt es Menschen, die stellvertretend etwas leben und erkunden: ob man ohne Plastik leben kann; wie nachhaltiges Wirtschaften gelingen kann; wie Frieden zwischen traditionell verfeindeten Bevölkerungsgruppen möglich ist.
Auch, wie man in der heutigen Zeit und Gesellschaft seinen Glauben leben kann? In der Rede vom stellvertretenden Glauben der Menschen, die nach wie vor zur Kirche kommen und auch im Alltag ihre Gottesbeziehung sichtbar werden lassen, schwingt schnell die Hoffnung mit, dass es wieder mehr werden könnten. Aber es kann darin auch eine Verbundenheit mit allen Menschen vor Ort zum Ausdruck kommen, für die man die Gottesdimension offenhalten will.
All das verweist auf das, was Stellvertretung im Kern ausmacht und überhaupt erst zu ihr führt: Niemand kann (und will) alles selbst tun, zumindest nicht immer. (Es sollte auch niemand versuchen, alles selbst zu tun – er würde sich restlos überfordern.) Wir sind immer auf andere angewiesen, und sei es auch nur vorübergehend. Das ist eine spirituelle Grundeinsicht. Und dass man gar nicht alles selbst tun muss, mag für viele tröstlich sein.
Das stellt aber auch die Frage: Sind wir in der Lage, Dinge abzugeben? Denn immer wieder erleben wir Menschen, die sich überlasten, weil sie alles selbst tun wollen.
Und auf der Gegenseite braucht es auch Menschen, die Stellvertretung und damit Verantwortung übernehmen. Auch das ist nicht selbstverständlich.
Und schließlich gibt es Fälle, wo die Herausforderung darin besteht, Dinge nicht an StellvertreterInnen abzugeben: Manche Probleme – etwa der Schutz des Klimas oder die Eindämmung des Coronavirus durch Einhaltung von Hygieneregeln – kann man nicht an ein paar wenige vorbildliche StellvertreterInnen delegieren, sondern es braucht die breite Masse, die mitmacht.
Kann es dann überhaupt legitim sein, wenn jemand – ungefragt – etwas für jemand anderen erledigt, auch auf die Gefahr hin, dass sich dieser dann beschwert: Das hätte ich gerne selbst gemacht? Ja, es gibt diese Fälle: etwa, wenn jemand auf Anweisung des Jugendamts ein Kind in Obhut nimmt. Ansonsten aber ist Vorsicht geboten bei ungefragter oder unbeauftragter Stellvertretung: Sie könnte als Anmaßung und Überheblichkeit gesehen werden; als Kränkung und Abwertung, wenn der Vertretene den Eindruck erhält, man würde ihm etwas nicht zutrauen. Sie kann Benachteiligung sein, wenn sie dem anderen Herausforderungen wegnimmt, an denen er wachsen und lernen kann.
Hier zeigt sich der Machtaspekt von Stellvertretung. Man muss nicht auf den „Stellvertreter Christi“ verweisen, um zu demonstrieren, wie mächtig Stellvertreter sein können. Auch HerrscherInnen, die StatthalterInnen etc. Macht zuteilten, mussten erleben, dass sie sie danach nicht einfach zurückfordern konnten. Wer Stellvertretung zulässt, kann einerseits durch die Machtverteilung seine eigene Macht in der Fläche ausbauen, andererseits aber gibt er auch Macht ab und macht sich angreifbar, da er StellvertreterInnen nicht gänzlich kontrollieren kann. Stellvertretung hat also viel mit Vertrauen zu tun – gerade, da StellvertreterInnen Entscheidungen treffen können und ggf. müssen, die danach nicht mehr zurückgenommen werden können und die weitreichende Folgen auch für die Stellvertretenen haben.
Umgekehrt kann Stellvertretung aber auch Ausdruck und Folge eines Mangels an Macht sein. Es kommt z. B. vor, dass ein Vorgesetzter einen Stellvertreter vorschickt, um sich in einer problematischen, unangenehmen Situation nicht selbst zu exponieren. Manchmal drücken sich Leitungspersonen vor einer klaren Entscheidung; notgedrungen müssen auf den unteren Ebenen pragmatische Regelungen getroffen werden, die dann aber unter einem Mangel an Legitimation leiden. Das wohl grausamste Beispiel sind aber Stellvertreterkriege, mit denen Hegemonialmächte ihre Konflikte anderen Ländern aufbürden.
Wir sehen: Stellvertretung hat unterschiedliche Aspekte und ist ein vielschichtiger Begriff, dessen Facetten in diesem Beitrag gar nicht alle entfaltet werden konnten. Stellvertretung in den verschiedenen Formen spiegelt die Wechselfälle menschlichen Lebens wider. Und: Ohne Stellvertretung kommt niemand aus, ist menschliches Leben gar nicht möglich.
Allein schon wegen dieser Unverzichtbarkeit legt sich eine theologische Auseinandersetzung mit dem Begriff, die nicht auf Fragen der Soteriologie verengt ist, nahe; aber auch, weil in Kirche und pastoraler Praxis Stellvertretung in vielen Ausprägungen vorkommt. Darüber hinaus ist stellvertretendes Christsein schließlich als Weise zu bedenken, den kirchlichen Grundauftrag zu realisieren: allen Menschen den Platz freizuhalten für ein Leben vor Gottes Angesicht.