Inhalt

Stellvertretung als theologische Grundkategorie im Horizont einer missionarischen Kirche

Ottmar Fuchs stellt die Frage nach den pastoralen Möglichkeiten für eine missionarische Kirche, die sich aus der theologischen Grundkategorie der Stellvertretung ergeben. Dabei geht er fünf Spuren nach, um zu erkunden, was Michel Certeaus Diktum „nicht ohne die Anderen“ konkret bedeutet und wie die Gläubigen stellvertretend für alle anderen diesen Glauben für die Rettung der ganzen Welt aufrechterhalten und im Leben und Ritual darstellen.

1. Theologische Grundlegung

Grundlegend für die folgenden Gedanken ist die alte Glaubenseinsicht: Mit dem historischen Misslingen der Sendung Jesu, das Reich Gottes zu bringen, misslingt noch lange nicht das Erlösungswerk Christi. Das Ster­ben Jesu unterbricht nicht das unbedingte Heilshandeln Gottes, son­dern radikalisiert es in der aufgezwungenen Unterbrechung der Ableh­nung. „Theologisch lässt sich mit einer derartigen Interpretation sicher­stellen, dass selbst die öffentliche Ablehnung Jesu die Wirksamkeit des von ihm proklamierten Heilshandeln Gottes nicht in Frage stellte. Sogar in der Ablehnung blieb Gottes Handeln wirkmächtig, indem er den Tod des eschatologischen Boten zum Akt der Sühne werden ließ“ (Merklein 2000, 64). Der stellvertretende Sühnetod Jesu rettet die Kontinuität der Gnade durch die Diskontinuität der Erfahrung der Ablehnung Jesu hin­durch. So erfüllt Jesus seine missionarische Sendung „durch dick und dünn“. Welche pastoralen Möglichkeiten für eine missionarische Kirche sind damit gegeben?

Ich begebe ich mich auf eine fünffache Spurensuche und schließe ab mit einem Ausblick.

2. Im „Tagebuch eines Landpfarrers“

Faszinierend ist in diesem Zusammenhang das priesterliche Selbst­verständnis des Bernanos’schen Landpfarrers: dass es zwei Wege gibt, die eigene Liebe zur Pfarrei und darin zu Jesus Christus und derart die eigene Seelsorgsmission zu verwirklichen: nämlich einmal die Absicht, die Menschen für das Reich Gottes, was immer das dann im Konkreten für die einzelnen Menschen bedeutet, zu gewinnen, zum anderen aber auch nicht mit der Sorge aufzuhören, wenn dies scheitert, sondern die Transformation dieser Liebe zu riskieren, nämlich für diejenigen, die sich nicht bekehren wollen oder können, die stellvertretende Sühne auf sich zu nehmen. Früher hätte man gesagt: das eigene Leiden, auch das körperliche, für die anderen aufzuopfern.

Der Priester leidet durch seine Pfarrei und zunehmend auch für sie (vgl. Bernanos 2015, 46). Genau darin wird er Christus ähnlich: der alles versucht, die Menschen für das Reich Gottes zu gewinnen, dessen unerschöpfliche Liebe ihn aber, als dies misslingt, drängt, am Kreuz stellvertretend für die Gottlosen bzw. die Bösen (was nicht identisch ist!) sich und sein Leiden hinzugeben (vgl. Neumann 2015, Anm. 162).

Als Priester trägt er Verantwortung für den Menschen, „als eine Seele für eine andere“. Darin ist er nicht allein, denn Gott selbst trägt in Christus diese Stellvertretung mit. Der Priester hat bei Bernanos die Aufgabe: „Die mit Christus verbundene Stellvertretung im Leben und Leiden sichtbar zu machen“ (ebd. Anm. 192).

3. In einem „Titularbistum“

Für mich hatte vor Jahren, als solche Reisen noch möglich waren, ein Besuch in der alten römischen Stadt Dougga (etwas mehr als hundert Kilometer westlich von Hammamet in Tunesien) eine besondere Be­deutung, befanden wir uns dabei nicht nur in einer berühmten Aus­grabung, sondern auch in einer alten Bischofsstadt, wovon es heute in der gegenwärtigen Bevölkerung mit ihrer Kultur und Religion über­haupt keine Spuren mehr gibt. Trotzdem war diese Gegend das Titular­­bistum des mittlerweile verstorbenen Weihbischofs Werner Radspieler meiner Heimatdiözese Bamberg und ist seit 2018 Luis Eduardo Gon­zález Cedrés, Weihbischof in Montevideo (Uruguay), zugehörig.

Im Allgemeinen versteht man unter einem Titularbischof einen Bischof, dem nicht die Sorge für eine Diözese anvertraut ist (CIC can. 376). Gleichwohl handelt es sich um einen Bischof, der auf den Titel einer un­tergegangenen Diözese geweiht wird. Man könnte dies nun von vornher­ein negativ verstehen, nämlich als einen expansiven Herrschaftsan­spruch auf nicht-christliches Gebiet, weil es irgendwann einmal in der Geschichte dort Christen und Christinnen und einen Bischof gegeben hat. Sollte man den „Titel“ nicht aufgeben, oder könnte der Titel eine andere, theologisch interessantere Bedeutung haben, die mit der genuin christlichen Spiritualität der Stellvertretung zu erfassen wäre?

Die Kirche ist für die ganze Welt da. Aber wie? Die Kirche kann sich nicht einfach mit allem, was sie ist, zurückziehen, wenn sie vor Ort ihre Macht verliert, wenn sie bedrängt ist oder auch gänzlich im Lauf der Geschichte in ihrer institutionellen und gemeinschaftlichen Form ver­schwunden ist. Denn nach der Vorstellung des Zweiten Vatikanums, insbesondere der Pastoralkonstitution (besonders Nr. 1, 4 und 11), ist die Kirche nicht nur die Gemeinschaft des gläubigen Volkes Gottes, sondern sie ist auch verantwortlich für das gesamte Volk Gottes, nämlich für die ganze Menschheit.

In dieser Verantwortung gibt es so etwas wie eine proexistente „Omni­präsenz“, gewissermaßen ein „Für-alle-gegenwärtig-Sein“ der Kirche, nicht im flächendeckenden Eroberungsanspruch, sondern in jener Ver­antwortung für die Menschen, wie Jesus sie vom Kreuz her vorgelebt hat. Derart lernt die Kirche, dort, wo sie nicht mehr mit Einfluss und Institution gegenwärtig ist, eine ohnmächtige Gegenwart in den Blick zu nehmen, nicht mehr eine, in die sich andere integrieren müssten, sondern sie übernimmt die geistliche Verantwortung, Zeichen und Werkzeug der Liebe Gottes „für“ alle zu sein: im stellvertretenden Gebet für jene Orte, wo Verkündigung nicht (mehr) möglich ist. Dies ist keine Vereinnahmung, sondern ein Für-Sein für die anderen, ohne Zugriff, mit einer Solidarität, in der Gottes Heil für alle, auch die außerhalb der Kirche Lebenden, behauptet wird.

Dann erscheint der Titularbischof als ein Sinnbild der Stellvertretung dieser Kirche nach außen und vor allem dafür, dass auch das kirchliche Amt nicht nur eine Verantwortung nach innen, sondern nach außen hat, weil Christus nicht nur für die Gläubigen, sondern für alle Men­schen gestorben ist. Die Kirche lernt, nicht nur auf sich wie auf einen Verein zu schauen, der immer wieder neue Mitglieder braucht, sondern auch auf die anderen, die in das stellvertretende Gebet der Kirche für die ganze Welt aufzunehmen sind. Die Konstruktion des Titularbischofs „ohne Land“ fördert dann die Einsicht in die Ohnmacht der Kirche an diesem Ort und in die Annahme dieser Ohnmacht als Herausforderung einer Spiritualität der Absichtslosigkeit hinsichtlich der eigenen Insti­tution, einer Absichtslosigkeit, die über den Eigennutz hinaus die an­deren zu schätzen und zu schützen weiß: andere Völker, Länder und Religionen, auch wenn man bzw. wenn die Kirche „nichts davon hat“. Diese Fürsorgeverantwortung hat nicht nur gebetsbezogene, sondern auch politische und soziale Konsequenzen.

4. In der stellvertretenden Sühne Albert Schweitzers

Zugleich ist jene christliche Möglichkeit in den Blick zu nehmen, dass auch stellvertretend Sühne gelebt und getan werden kann, für Täter und Täterinnen, die nicht gesühnt haben, weil sie nicht sühnen wollten, weil sie nicht sühnen konnten und können oder weil sie gestorben sind. Wie die Genugtuung (wobei das „genug“ selbstverständlich immer eine Übertreibung ist), so ist auch ein solches Sühnehandeln nur möglich auf dem Hintergrund des Christusgeschehens „pro nobis“ (für uns), in dem uns nicht ersatzweise abgenommen wird, was wir selber wiedergut­machen und sühnen können bzw. müssen, sondern von dem her uns dies ermöglicht ist (vgl. Fuchs 2005a).

Stefan Zweig hat in seiner eindrucksvollen Beschreibung eines Besuches bei Albert Schweitzer im Jahre 1932 die Quintessenz dessen Denkens und Handelns getroffen, wenn er schreibt: „Aber um seiner höchsten Tat willen, um jenes Spitals, das er aus reiner menschlicher Aufopferung, einzig um eine europäische Schuld zu sühnen, im Urwald von Afrika ganz allein, ohne irgendeine staatliche Hilfe gegründet und geschaffen, um dieser einzigartigen und beispielgebenden Selbstpreisgabe willen liebt und bewundert ihn jeder, der um das Menschliche weiß, all jene, denen Idealismus nur dann groß erscheint, wenn er über das geredete und geschriebene Wort hinausgeht und durch Selbstaufopferung zur Tat wird“ (Zweig 1961, 11). Stefan Zweig bringt hier den Begriff der Sühne. Albert Schweitzer selbst hatte verdeutlicht: Die Tatsache, dass es kein Leben gibt, das nicht schuldig werden müsste, nämlich in der „unaus­weichlichen Notwendigkeit […], Leiden zu verursachen, zu töten und uns damit abzufinden, dass wir, eben aus Notwendigkeit, schuldig werden“ (Schweitzer 1961, 235), treibt uns zur permanenten Sühne, „dass wir keine Gelegenheit versäumen, lebendigen Wesen Hilfe zu leisten“ (ebd.).

Zweig schreibt weiter: „[…] dieser eine Mensch will für seine Person jenes ungeheure, unsagbare Unrecht sühnen, das wir Europäer, wir, die angeblich so kulturelle weiße Rasse, an dem schwarzen Erdteil seit hun­derten Jahren begangen haben. Würde einmal eine wahrhafte Geschich­te geschrieben werden, was die Europäer an Afrika verbrochen […] ha­ben […], dann würde eine solche historische Aufstellung eines der größ­ten Schandbücher unserer Rasse werden und unser frech getragenes Kulturbewusstsein für Jahrzehnte zur Bescheidenheit dämpfen. Einen winzigen Teil dieser ungeheuren Schuld will nun dieser eine religiöse Mensch mit dem Einsatz seiner Person bezahlen durch die Gründung eines Missionsspitals im Urwald – endlich einer, der nicht in die Tropen geht um des Gewinns, um der Neugier willen, sondern aus reinem hu­manen Hilfsdienst an diesen Unglücklichsten der Unglücklichen“ (Zweig 1961, 12 f.). Albert Schweitzer stellt sich in seiner Verantwor­tung der Vergangenheit gegenüber auf die Seite derer, die den afrikani­schen Völkern Unrecht, Leid und Tod gebracht haben, und übernimmt die Sühne ihrer Taten.

5. Im „Leben im Stand der Täter“

Vieles und kaum Verzichtbares ist in den Jahrzehnten nach 1945 bis heute zu dem Thema geschrieben worden: Leben im Land der Täter! Wie gehen Menschen damit um, dass sie sich in ihrer Geschichte, auch in ihrer Familiengeschichte, an Menschen zu erinnern haben, die schlimmste Verbrechen getan und unermessliche Schuld auf sich geladen haben? Interessant ist in diesem Zusammenhang der neue Roman von Heike Duken: „Denn Familie sind wir trotzdem“ (Duken 2021). Darin schildert die Autorin die intensive, schmerzliche und doch auch irgendwie notwendige Verbindung von Nachkommen der Täter mit den Tätern in einer Familienverbindung, die bei aller schlimmen Gegensätzlichkeit doch nicht aufgegeben wird. Mit den Anteilen von Schuld, Verantwortung, mit der Spannung zwischen Sühneübernahme und Verantwortungsübernahme, jedenfalls mit einer in der Familie eindrucksvollen Bezogenheit „unschuldiger“ Nachkommen auf ihre schuldbeladenen Väter und Großväter.

Mir ist in den letzten Jahren in erschreckender Weise aufgegangen, dass es so etwas im Stand der Priester zwischen denen, die Menschen im geistlichen und leiblichen Bereich missbraucht haben, und den Pries­tern, die diesbezüglich „unschuldig“ sind, kaum gibt. Merkwürdig stumm verhalten sich die „Unschuldigen“, mit einem Entsetzen, das auch apotropäische, von sich selbst abweisende Anteile hat. Analog zu den Familienbanden gibt es nun allerdings eine Verbindung zwischen Tätern und, sagen wir einmal, Nichttätern, nämlich ihre immer wieder beanspruchte, formulierte, unterstellte und manchmal auch realisierte Mitbrüderlichkeit. Im katholischen Bereich dazu noch auf der Basis eines gemeinsamen Sakramentes, nämlich der Priesterweihe. Welchen Wert hat dieses geheiligte Standesdenken? Könnte es einen Inhalt be­kommen, der die kirchliche Ständegesellschaft zur Selbstabschaffung treibt? Was heißt hier, analog zu Albert Schweitzer, die Verantwortung stellvertretender Sühne wahrzunehmen und derart nach innen missio­narisch zu handeln?

Der Priesterstand ist nie mehr ohne seine Missbrauchsgeschichte zu denken, nicht nur bezüglich der aktuellen letzten Jahrzehnte, und dies sicher in allen Ländern, wo es Priester gibt, sondern von daher auch in die Jahrhunderte der vergangenen Geschichte hinein, wo solche Ver­brechen ganz oder fast ganz abgedunkelt, verschleiert und verdrängt wurden. Ein nachträgliches „Weißeln“ des eigenen Standes ist nicht möglich. Dies benötigt zunächst die sühnebereite Bereitschaft, den gesellschaftlichen Imageabsturz des je eigenen Priesterseins auszuhal­ten und nicht mit noch schärferem Klerikalismus zu kompensieren. Aber das ist nicht genug!

Auch wenn die Dimensionen unvergleichlich anders sind: Was in der Spannung zwischen Kollektivschuld und Verantwortungsübernahme bezüglich der Shoa gedacht und geschrieben wurde (vgl. Fuchs 2005b), sollte auch für diesen Zusammenhang zu denken geben. Ähnliches be­zieht sich überhaupt für alle Getauften auf das Verhältnis von Kir­chen­zugehörigkeit und Verantwortung dafür, was in dieser Kirche alles an Schlimmem durch die Geschichte hindurch bis heute geschehen ist. Die Ideologie der kirchlichen Reinheit und Unsündigkeit hat hier Immu­nisierungsbarrieren aufgestellt, die bis heute wirksam sind (vgl. Freyer 2010).

Die diesbezüglich „unschuldigen“ Priester können nicht so tun, als ginge sie das nichts an, als hätten sie damit nichts zu tun. Oder anders formu­liert: Wie sieht beides aus, obgleich beides zusammen kaum auszuhal­ten ist: strikte Solidarität mit den Opfern und die Wahrnehmung des Priesterstandes aus deren Definitionsmacht heraus; und: „Solidarität“ mit den Tätern, analog dazu, dass Jesus den Sündern und Sünderinnen nahekommt, ohne zum Täterschutz oder zur Täterverteidigung zu entarten? Weil sich der eigene Stand primär von den Opfern her begreift!

6. In den „Hymnen an die Kirche“ von Gertrud von Le Fort

In ihren „Hymnen an die Kirche“ verdeutlicht Gertrud von Le Fort, wofür die Kirche da ist, nämlich für das Tedeum und dafür, dass alle Menschen es aus ihren unterschiedlichen Situationen der Freude und des Leidens heraus zu beten vermögen, aber zugleich niemand zwingen könnend und wollend und deshalb die Stellvertretungsaufgabe über­nehmend, auch für die anderen und an ihrer statt dieses Gotteslob zu beten. Dieser Zusammenhang verstärkt sich unter der Rubrik der „letzten Dinge“: Die Kirche spricht von ihrer Solidarität mit den Men­schen, von ihrem Mitleid mit ihnen und von ihrer ihr von Christus geschenkten Liebessehnsucht, dass am Ende niemand vergessen wird und dass die Barmherzigkeit Gottes siegt. Die Kirche ringt mit dem Gericht des Ewigen, sie steht als Letzte auf der großen Brücke des Abschieds und hält in den Armen alle, die das Leben wegstößt.

Für Gertrud von Le Fort hat das Für-Gebet eine doppelte Bedeutung: Einmal für Menschen zu beten, wobei mitgedacht werden kann, dass auch sie selbst beten; aber auch für Menschen zu beten im Sinne von an ihrer statt zu beten, weil sie selbst nicht beten. Das Gebet der Kirche ist deshalb immer „mehr“ als das Gebet der einzelnen Gläubigen, wie es Gertrud von Le Fort unübertroffen formuliert hat:

„Deine Gebete sind kühner als alle Gebirge der Denker!
Du baust sie wie Brücken ins Uferlose,
du lässt sie wie Adler ins Schwindelnde steigen […]“
(von Le Fort 1961, 28 f.)

So bittet die Kirche für das Volk Gottes aller Menschen, Religionen und Kulturen um die schützende Hand Gottes. Dies geschieht im stellver­tretenden Gebet, nämlich für die Menschen und an ihrer Stelle zu glauben, davon Zeugnis abzugeben und stellvertretend für sie die Sakramente zu feiern und für sie das Heil zu erwarten. So wird in der Eucharistie, so wird im Abendmahl das Heil der ganzen Welt gefeiert, die Erlösung aller Menschen, in expliziter Stellvertretung für diejeni­gen, die davon nichts wissen oder nichts wissen wollen. Denn Gottes Liebe ist nicht von ihrer thematischen Erfahrbarkeit abhängig.

Wie Jesus am Ende das Scheitern seiner Mission am Kreuz erlebt und noch in diesem Scheitern für diejenigen, die die Botschaft nicht an­nehmen, ja für die Täter, stellvertretend betet und stellvertretend sühnt, so ist auch die kirchliche Mission nicht mit dem Scheitern zu Ende, sie zieht sich dann nicht auf sich zurück, sondern begibt sich in den anderen Modus, in die andere Qualität des missionarischen Han­delns, nämlich in das stellvertretende Fürbittgebet und in ein sakra­mentales Feiern, das die Nichtdazugehörigen, die ganz Anderen nicht aus dem Blick verliert, sondern im Radius des universalen Heiles wahrnimmt. So zeigt sich die Stellvertretung als ein wichtiger Vollzug einer missionarischen Kirche.

7. Ausblick

Mit einer auch stellvertretend missionarischen Kirche verliert die nicht aufgebbare Universalität des neutestamentlichen Missionsbefehls (Mt 28,18–20) ihr irrsinnig fundamentalistisches Missverständnis, als müsse sich die ganze Welt ins Christentum integrieren, ein fatales Miss­verständnis, das Millionen von Menschen Freiheit und Leben gekostet hat und auch heute zunehmend wieder in den Religionen Platz greift. Die „exklusive“ Einmaligkeit der christlichen Wahrheit besteht darin, dass alle Exklusivismen, welche religiöses Heil und zwischenmensch­liche Solidarität begrenzen, als nichtwahrheitsfähig und als nichtle­bensfördernd ausgegrenzt werden. Die paulinische Behauptung, dass alle Menschen von Gott geliebt sind, noch bevor und auch wenn sie sich nicht verändern (vgl. Fuchs 2017), hat also selbst eine scharfe Grenze gegenüber jedem Heilsexklusivismus.

Allerdings wird diese Art von Exklusivität selber nochmals im Christen­tum unterlaufen von der Versöhnungsbotschaft und dem Versöhnungs­­handeln Jesu, wenn er den Sündern und Sünderinnen begegnet und sie nicht ausgeschlossen haben will. Und wenn er genau dies am Kreuz endgültig verwirklicht. Vom Kreuz her bittet Jesus für die Täter, also für die, die ihn ans Kreuz schlagen, die einen Siegerexklusivismus vertreten und Menschen Leid zufügen, um Vergebung und offenbart darin, dass auch sie nicht aus dem Heil Gottes exkludiert sind.

Wenn es richtig ist, dass Gott freie Menschen will und dass diese Frei­heit unter keinen Sanktionen steht – denn was soll eine Freiheit, die durch Drohung begrenzt ist –, dann kann die tragende Basis dieser Freiheit nur sein, dass dieser freie Mensch, was immer er entscheidet und tut, von Gott unbedingt angenommen ist und bleibt. Jeder reale oder angedrohte Liebesentzug würde die Freiheit zum schlechten Witz machen. Lieben heißt nicht, dass man Haltung und Handeln der Gelieb­ten gutheißen müsste, um sie lieben zu können. Eltern lieben oft auch dann ihre Söhne und Töchter noch, wenn sie schlimm werden, dann allerdings nicht mehr mit Freude, sondern mit Schmerz. Die Intensität verändert sich nicht. Dies ist eine wichtige Erfahrungsspur für die bedingungslose Liebe Gottes. Das Kreuz Jesu ist die Wirklichkeit des Gottesschmerzes.

Der mittlerweile im Christentum weitgehend anerkannten Universali­tät der Diakonie, nämlich dass alle Menschen, welchen Glaubens oder Nichtglaubens sie auch immer sind, welche Schuld auch immer sie auf sich geladen haben, ein Anrecht auf Hilfe und Barmherzigkeit, Befrei­ung und Gerechtigkeit haben, entspricht eine eigenartige Universalität des Glaubens: nämlich dass in ihm darauf vertraut wird, dass alle Men­schen von Gott geliebt sind, dass der Glaube genau dies sagt, ohne sich selbst zur Bedingung der Liebe zu machen, und dass die Gläubigen stell­vertretend für alle anderen diesen Glauben für die Rettung der ganzen Welt aufrechterhalten und im Leben und Ritual darstellen. So dass die Gläubigen stellvertretend für diejenigen, die nicht glauben können oder wollen, glauben und beten. Michel Certeaus Diktum „nicht ohne die Anderen“ gilt unbegrenzt und radikal, nicht nur im diakoni­schen, son­dern auch im glaubens-spirituellen Sinn. Daraus folgt eine missionari­sche Kirche, die ihr Wesen auch dann nicht aufgibt, wenn sie ohne Ge­winn im Sinne von Erfolg und Rekrutierung bleibt.