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Stellvertreterreligion als Modell der Zukunft der Kirche in Europa?

Christinnen und Christen als Minderheit, die ihre Religion stellvertretend für eine säkularisierte Mehrheit pflegt, die auf diese Ressource im Bedarfsfall wieder zurückgreifen kann? Der Religionssoziologe Gert Pickel stellt das Mo­dell der Vicarious Religion von Grace Davie vor und erdet es in der religiösen Realität Europas.

Von der schrumpfenden christlichen Kirche in Europa

Die christlichen Kirchen unterliegen in Europa (abgesehen von wenigen osteuropäischen Ländern) derzeit einer gemeinsamen und beunruhi­genden Erfahrung: Der Stamm ihrer Mitglieder wird von Jahr zu Jahr kleiner. Gleiches gilt seit den 1970er Jahren für die Bundesrepublik Deutschland, mit einer spezifischen forcierten Säkularisierung in Ost­deutschland. Dieser Schrumpfungsprozess, den man entweder als Entkirchlichung oder weiterreichend als Säkularisierung interpretieren kann, wird durch ein gegenwärtig ungünstiges Bild gerade der katho­lischen Kirche in der Aufdeckung und dem Umgang mit Missbrauch nur noch beschleunigt. Wenden sich viele von Religion und Glauben gene­rell ab, so distanzieren sich einige nur von der Kirche als der ihnen bekannten Sozialform von Religion. Gleichzeitig scheinen Kirche und religiöse Bezüge nahezu omnipräsent. Quasi jeden Tag begegnet einem Religiöses, meist Christliches in Zeitungen, Hörfunk, Fernsehen oder sogar den sozialen Medien. Auch die öffentlichen Debat­ten, in denen Religion eine Bedeutung spielt, sind beachtlich. Sowohl aufgrund der zunehmenden religiösen Pluralisierung, aber auch aufgrund von De­batten über Menschen persönlich betreffende politische Entscheidun­gen, welche moralischen Gehalt besitzen, wie zum Beispiel bei der De­batte um die Sterbehilfe und den assistierten Suizid, kommen immer wieder religiöse und christliche Positionen in den Blick und in die öffentliche Auseinandersetzung. Einmal ganz abgesehen von der kul­turellen Sichtbarkeit der Kirchen, die sich u. a. in Gebäuden, Symbolen und Personen widerspiegelt. In gewisser Hinsicht scheint das Christen­tum nicht aus Europa wegzudenken zu sein. Selbst wenn derzeit Ver­teidiger:innen des christlichen Abendlandes nichts weniger als etwas Christliches vor Augen haben, stellt sich doch die Frage, ob das Chris­tentum und seine Kirche nicht vielleicht doch trotz der unleugbaren Säkularisierung eine Zukunft in Europa besitzen.

Vicarious Religion oder Stellvertreterreligion

Ein Modell, welches Überleben und Bedeutsamkeit des Christentums in Europa mit der Beobachtung der Entkirchlichung zusammenbringen will, ist das der Vicarious Religion der englischen Sozialwissenschaft­lerin Grace Davie. Sie greift auf Vorüberlegungen der französischen Kultur­wissenschaftlerin Danièle Hervieu-Léger (2000) zurück, welche die tiefe kulturhistorische Verwurzelung der Religion in Europa als so etwas wie eine letzte Beschränkung der Säkularisierung ansieht, ohne Letztere zu leugnen (vgl. Pickel 2011, 193 f.). Hervieu-Léger verortet Religion und das Christentum als etwas, was als kulturelle Präsenz nicht verlöscht, nur zu bestimmten Zeiten an Bedeutung verliert, aber in Krisenzeiten eine Wiederbelebung erfährt. Dies liegt an der Veranke­rung des Chris­tentums in der kollektiven Erin­nerungskultur Europas, mit noch spe­zi­fischen Differenzen zwischen stärker protestantischen oder katholi­schen Historien. Auf diese Weise der auch symbolisch ge­stützten Sichtbarkeit findet sich eine Kette der kulturellen Erinnerung, welche Religiöses auch über Generationen weitervermittelt. Hervieu-Léger (2000, 73) erwartete dabei Anfang dieses Jahrtausends sogar eine „Explosion des Glaubens“ aufgrund der immer stärkeren Anforde­rungen der Individualisierung und der Komplexität spätmoderner Gesellschaften an die Individuen.

Selbst wenn diese optimistische Hoffnung sich in dieser Weise nicht eingestellt zu haben scheint, entbehrt das von Grace Davie weiterge­führte Argument doch nicht einer gewissen Plausibilität. Auch Davie verweist auf die kulturhistorische und kulturelle Relevanz des Christen­tums in Europa. Diese lässt sich mindestens in Feiern, Ritualen, Musik und Gebäuden wiederfinden. Für den Lebensalltag der Menschen ver­lieren sie allerdings an Bedeutung. Dies sieht auch Davie und positio­niert sich damit nicht gegen gängige Deutungen der Entwicklungen im religiösen Feld als Säkularisierung. Die Folge ist einfach zu ermitteln: Es bleibt irgendwann nur noch eine Minderheit, welche die Religion und ihre Riten pflegt. Oder eben religiöse Expert:innen, die diese Rituale vollziehen und am Leben erhalten. Dies muss man aber nicht unbedingt negativ auslegen oder die Hoffnung für das Christentum verlieren. Denn gleichwohl übersteht auf diese Weise das Christentum in seiner kultu­rellen Verankerung und aufgrund seiner aktiven Minderheit, die es am Leben erhält, diese ungünstige Phase. Das Christentum und seine religi­ösen Angebote bleiben eine im Notfall aktivierbare kulturelle Ressource. Sie wird üblicherweise dann aktiviert, wenn sich massive und weitrei­chende Krisen in der Gesellschaft entwickeln, die dann auch den einzel­nen Menschen treffen und zu persönlichen Krisen werden. Genau dann kann diese Ressource christlicher Hoffnung und Sicherheit durch Mit­glieder der Gesellschaft belebt und für sich in Anspruch genommen werden. Diese latente, aber nur bei einer Minderheit aktive Präsenz von Religion nennt Grace Davie (2006) Vicarious Religion oder Stellvertre­terreligion. „By vicarious, I mean the notion of religion performed by an active minority but on behalf of a much larger number, who implicitly at least not only understand, but quite clearly, approve of what the minority is doing” (Davie 2006, 24; vgl. Müller 2019, 467). Die aktive Minderheit sind faktisch die Stellvertreter für ein weiterreichendes Christentum. Sie bewahren die wichtige Ressource, damit alle sie, wenn es notwendig ist, wieder aufgreifen können. Damit werden wenige Gläubige zu denjenigen, welche das Religiöse für die und unter Aner­kennung der Mehrheit der Gesellschaft aufrechterhalten.

Realitäten einer Stellvertreterreligion

Und in der Tat kann zumindest festgestellt werden, dass in den sich säkularisierenden Gesellschaften keineswegs eine Abneigung oder Geg­nerschaft bezüglich Religion entsteht. Nach Ergebnissen des Bertels­mann Religionsmonitors 2017 fühlen sich gerade einmal zehn Prozent der Deutschen, Schweizer:innen, Österreicher:innen, Brit:innen und Französ:innen durch das Christentum bedroht. Die überwältigende Mehrheit der Europäer:innen steht dem Christentum freundlich oder neutral gegenüber (vgl. Pickel 2019, 82–84). Nun stellt sich die Frage, inwieweit dieser Befund ausreichend ist, das Modell einer Stellvertre­terreligion als gegeben anzunehmen. Bei genauerer Ansicht muss man zumindest Zweifel äußern. So zeigte sich im Umfeld der größten und viele Menschen persönlich betreffenden Krise in Europa der letzten Jahrzehnte – der Covid-19-Pandemie – kaum eine Revitalisierung des Religiösen. Zumindest nicht bis zu den jetzt verfügbaren Daten. Teil­weise wird sogar eine Beschleunigung der Säkularisierung befürchtet. Hier zeigt sich ein Problem des potentiellen Erfolges einer Stellvertre­terreligion in Krisenzeiten: Es muss eine Basis der Revitalisierung und der Anschlussfähigkeit an religiöse und christliche Deutungsmuster bestehen. Nur wenn mir diese überhaupt noch irgendwie geläufig sind, kann ich im Krisenfall darauf zurückgreifen. Und gerade um diese An­schlussfähigkeit wird es durch den durchgreifenden Prozess der Säkula­risierung immer schlechter. Allein der Blick nach Ostdeutschland zeigt dies. So sind dort immer mehr der Menschen ohne Religionszuge­hö­rigkeit – und dies eben bereits seit mehr als einer Generation. Ihnen sind religiöse Bräuche teilweise genauso unbekannt wie die religiöse Rede, die in Gotteshäusern oder von Pfarrer:innen und Priestern ver­wendet wird. Und in Westdeutschland sowie europäischen Nachbar­staaten ist dies, wenn vielleicht auch meist auf einem etwas höheren Mitgliedsniveau, kaum anders.

Entsprechende Brüche sieht übrigens auch Davie selbst. Die Kombina­tion aus Säkularisierung und religiöser Pluralisierung führt aus ihrer Sicht im Übergang zwischen den Generationen zu einem Verblassen der kulturellen Erinnerungskultur. Neben dem religiösen Wissen ver­schwinden die teilweise in der Familie weitergegebenen christlichen Narrative und religiösen Erzählungen. Diese fehlende Anschlussfähig­keit lässt es dann auch als sehr unwahrscheinlich erscheinen, dass diese Menschen im Krisenfall auf religiöse Angebote zurückgreifen. Und dies trifft nicht nur auf Menschen ohne Religionsangehörigkeit zu. Selbst unter den stetig weniger werdenden Kirchenmitgliedern ist der Rück­griff auf den Glauben nur eingeschränkt vorhanden. Gerade einmal zwei Drittel der evangelischen Kirchenmitglieder glauben an Gott. In der katholischen Kirche dürfte dies nicht viel anders aussehen. Immerhin für sie könnte eine Stellvertreterfunktion der aktiven Gläubigen und Expert:innen wirken. Da es oft allerdings weniger Glaubensinhalte und Spiritualität als die soziale Ausrichtung von Kirche und Religion ist, welche Kirchenmitglieder in ihrer Glaubensgemeinschaft hält, stellt sich die Frage, wie diese Stellvertretung sein soll. Sicherlich nicht mit abgehobenen, hierarchisch übermächtigen Expert:innen. Vielmehr dürfte die soziale Anschlussfähigkeit einer für das Soziale existierenden Religion für die Zukunft zielführend sein.

Diese Argumente sollen nicht die bleibende kulturhistorische Veranke­­rung der christlichen Kirchen ignorieren – dies bleibt genauso wie eine öffentliche Sichtbarkeit und kulturelle Tradierung (z. B. Musik) erhal­ten. Allerdings besitzt diese Existenz keinen spirituellen Charakter an sich. Das heißt, für eine religiöse und nicht allein kulturelle Deutung entsprechender Symbole und Praktiken als religiös bedarf es religiösen Wissens und religiöser Erfahrung. Sonst werden Kirchen zu Kultur­denkmälern und nicht zu Stätten der Stellvertreterreligion. Und wenn allein es das Wissen ist, dass einem der Glauben in Krisenphasen wei­ter­helfen kann … Denn dies ist nur dem bewusst, der es gelernt hat und vor allem Vertrauen in diese Kraft besitzt. All dies führt wieder zur An­schluss­­fähigkeit zurück und spricht gegen zu hohe Erwartungen an eine Stell­vertreterreligion, oder besser deren breitflächige Aktivierung des Christentums im Krisenfall. Hier ist es sicherer, die nüchterne Perspek­tive einer sinkenden Schar an sozial und religiös engagierten Chris­t:in­nen ohne Stellvertretungsaufgabe vor Augen zu haben.

Fazit: Stellvertreterfunktionen ohne Massenrevitalisierung im Krisenfall

Das Modell der Stellvertreterreligion wirft einen interessanten Blick auf das europäische Christentum in Zeiten der Säkularisierung auf. So ver­weist es auf die kulturelle und kulturhistorische Verwurzelung von christlichen Kirchen in Europa. Dies sichert dem Christentum Sicht­barkeit und öffentliche Relevanz. Solches zeigen religiöse Riten und eine öffentliche Präsenz, die heute allerdings gelegentlich den Weg in zivil­religiöse religionspluralistische Vollzüge gehen. Gelegentliche Betrach­tungen religiöser Praxis lassen dabei ein Modell einer Stellvertreter­religion, wie es von Grace Davie vor einigen Jahren vorgeschlagen wur­de, durchaus als nicht abwegig und vielleicht sogar attraktiv erscheinen. Nur wenige bleiben, quasi auch als religiöse Eliten, aktiv für viele, die dann im Krisenfall auf sie und den Glauben zurückkommen. Realistisch ist dies allerdings nicht. Zu stark entfernen sich Menschen, die in der zweiten oder dritten Generation keiner Religionsgemeinschaft ange­hören, von Kirche und letztendlich auch dem Glauben. Das religiöse Wissen schwindet und damit auch die Anschlussfähigkeit an religiöse Praktiken und Denkweisen. Einfach gesagt: Wer nicht weiß, wo er im Krisenfall Hilfe bekommen kann, der wird dort auch nicht hingehen. Es geht sogar noch weiter: Wenn sich einem Gott offenbart, dann würde man dies gar nicht erkennen, weil dazu eine religiöse Deutung notwen­dig ist. Und diese nehmen säkulare Menschen in der Regel nicht vor. Wenn sie sich der christlichen Kirche wieder zuwenden, so geschieht dies zumeist aufgrund deren sozialer Kraft und der Möglichkeit sozialer Vergemeinschaftung. Hierfür muss allerdings der Ruf der Kirche besser werden, als er zuletzt war. Dies öffnet für die christlichen Kirchen an­dere Wege der Arbeit an sich als der – fast elitäre und übergriffige – Gedanke einer kleinen Schar, die zum Wohle aller wirkt. Vielmehr gilt es für die kleiner werdende Zahl an Christ:innen, sich klar zu werden, für was sie stehen, und dies in Gemeinschaften, die einer modernen Gesell­schaft entsprechen, umzusetzen. Das dürfte schon genug an Aufgabe sein.