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Solidarität zwischen Gott und den Menschen

Gottesdienst in Stellvertretung

Andreas Odenthal geht der Frage der Stellvertretung aus liturgiewissen­schaftlicher Perspektive nach. Dabei stellt er die Solidarität zwischen Gott und den Menschen als zentralen Begriff heraus und geht dem konkret im Blick auf den betenden Menschen vor Gott, auf die Solidarität mit Gott und seiner Heilsgeschichte, die Solidarität Gottes mit den glaubenden und betenden Menschen und die Stellvertretung des fehlenden Christus nach – ohne die Ambivalenzen zwischen stellvertretendem Gottesdienst und dem Bedürfnis nach Autonomie und Authentizität aus den Augen zu verlieren.

„Jemand muss zuhause sein,
Herr,
wenn du kommst.
Jemand muss dich erwarten,
unten am Fluss
vor der Stadt. […]
Herr,
und jemand muss dich aushalten,
dich ertragen,
ohne davonzulaufen.
Deine Abwesenheit aushalten,
ohne an deinem Kommen
zu zweifeln.
Dein Schweigen aushalten
und singen.
Dein Leiden, deinen Tod mitaushalten
und daraus leben.
Das muss immer jemand tun
mit allen anderen
und für sie.“

Diese Zeilen schrieb die schweizerische Benediktinerin Silja Walter im „Gebet des Klosters am Rand der Stadt“ (Wolitz 2018, 90–93). Sie zeigen eine besondere Dimension des Gebetes und des Gottesdienstes: Betende Menschen stehen letztlich nie alleine vor Gott, sondern immer auch stellvertretend für andere. Im Gottesdienst ereignet sich Solidarität mit der Welt und ihren Sorgen, aber auch mit Gott: Inmitten einer Welt, in der Gott nicht zu wirken oder gar nicht vorzukommen scheint, halten glaubende Menschen so einen Platz für Gott frei. Dadurch werden die vielen Erfahrungen seiner Abwesenheit in dieser Welt aufgebrochen auf eine offene Stelle hin. Und sogleich entsteht eine neue Praxis: Im Gottesdienst werden die alten Gottesgeschichten als Erfahrungen erzählt, die Menschen vergangener Zeiten mit diesem Gott gemacht haben. Diese Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen wird von den glaubenden Menschen wachgehalten, vor allem in der Feier des Gottesdienstes.

Solidarität und Stellvertretung der betenden Menschen vor Gott

Mönch oder Nonne zu sein, heißt zunächst, „alleine“ („monachus“) vor Gott zu stehen. Vorsichtiger formuliert: Es geht um das Alleinesein an der für Gott offengehaltenen Stelle. Genau deshalb bedarf das Mönch­tum der Gemeinschaft: Nur gemeinsam kann die Leerstelle ausgehalten werden, die für einen Gott steht, der sich weder ohne Weiteres zu erfah­ren gibt noch auch sofort auf unsere Wünsche reagiert. Oft ist die Erfah­rung seiner Abwesenheit einfach nur zu ertragen. Das aber kann man nur gemeinsam tun, so ist die klösterliche, eigentlich insgesamt die christliche Erfahrung. Gerade dann, wenn ich selbst kaum mehr zu beten vermag, greift Stellvertretung: „Wenn Sie für mich beten, halte ich es bis zum nächsten Mal aus“, so sagte eine depressive Patientin im psychiatrischen Kontext zur Seelsorgerin. Unser Beten benötigt die Erfahrungen anderer, die stellvertretend wachgehalten werden: Ihr Ringen, Zweifeln und Vertrauen bietet Trost und Horizont angesichts der eigenen Erfahrungen. Und wir brauchen das Beten anderer Men­schen. Darin scheint die Solidarität der Gottesdienst feiernden Men­schen vor Gott auf, die sogar mit dem Sterben nicht endet. Im katho­lischen Kontext wird Stellvertretung auch über den Tod hinaus geübt: Die Kirche betet für ihre Verstorbenen, und umgekehrt werden die Verstorbenen, die als Heilige als im Reiche Gottes bereits vollendet geglaubt werden, um ihre Fürsprache angerufen. Das nimmt dem Leben mit seinen Fährnissen nichts an Dramatik, auch dem Tod nicht, aber es kann Trost schenken.

Solidarität mit Gott und seiner Heilsgeschichte

Wenn die Kirche Gottesdienst feiert, dann steht sie in Solidarität mit der ganzen Welt vor Gott. Sie bringt die vielfältigen Nöte und Klagen, aber auch den Dank stellvertretend vor Gott. Als Erzählgemeinschaft hält sie die vielen Glaubenserfahrungen der Menschen vergangener Zeiten fest, die unter anderem in der biblischen Tradition gesammelt sind. Sie übt Solidarität mit Gott, weil sie für ihn Zeugnis gibt. Gerade weil die Erfah­rung Gottes oft die seiner Abwesenheit ist, bedarf es dieser Erinnerung: Gott hat dieser Welt Heil zugesagt, was viele Menschen vor uns in unter­schiedlichen Situationen erfahren haben. Im Gottesdienst werden diese Erfahrungen rituell gefeiert. Dabei stehen in der Liturgie vor allem zwei Ereignisse des von Gott geschenkten Heils im Mittelpunkt. Das eine ist der Auszug Israels aus Ägypten mit dem vorhergehenden rituellen Mahl (Ex 12–15). Die Befreiung aus der Sklaverei Ägyptens ist ein befreiendes Ereignis, das als Handeln Gottes interpretiert wird. Das andere ist das Leben Jesu selbst, zielend auf sein Leiden, Sterben, Tod und Auferste­hen (etwa Mk 14–16): Im Schicksal Jesu zeigen sich Gottes Liebe und eine Erlösung für die ganze Welt. Im Letzten Abendmahl deutet Jesus selbst seine Lebenshingabe als Stellvertretung: „Das ist mein Leib für euch. Tut dies zu meinem Gedächtnis“ (1 Kor 11,24). Diese Erfahrungen hält die Kirche fest und feiert sie im Gottesdienst. In einer noch so ge­brochenen und unheilen Welt kann der Gottesdienst so zur „Heilsge­schichte“ werden, weil die feiernden Menschen eingeladen sind, hier ihre eigenen Erfahrungen mit der Botschaft des Evangeliums zu verbin­den. Das betrifft gelingendes wie misslingendes, entfaltetes wie bedroh­tes Leben. In der Feier des Gottesdienstes wird offenkundig, dass Gott selbst für die Menschen einsteht, bei der Befreiung Israels aus der Sklaverei ebenso wie im Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu. Trotz der unzähligen Erfahrungen von Lieblosigkeit, Hass und Gewalt, die Menschen immer wieder zugemutet sind, lässt Gott sich und sein Heil nicht schachmatt setzen – so feiert es die Christenheit an Ostern und bezeugt diesen Gott in ihrem Gottesdienst.

Solidarität Gottes mit den glaubenden und betenden Menschen

Es ist eine große Herausforderung: Gott ist nicht direkt und unmittelbar erfahrbar. „Es gibt niemals eine direkte Begegnung Gottes, von Du zu Du, mit dem Menschen, diese Begegnung ist immer vermittelt“, so der flämische Theologe Edward Schillebeeckx (Strazzari 1994, 90). Die Begegnung mit ihm bedarf notwendig einer Vermittlung und damit eines Stellvertreters. Der Glaube der Christen sieht Jesus als einen solchen Stellvertreter an: Er zeigt uns das menschliche Antlitz Gottes, ist Stellvertreter, ja Mittler zwischen Gott und den Menschen (1 Tim 2,5). Jesus vermittelt Gottes Heil in die Heillosigkeit der Welt und des Todes: Das Heil von Gott her, das Jesus verkündet, muss wie Jesus selbst durch den Tod hindurch. Das feiern wir, wenn wir in der Liturgie Jesu Tod und seine Auferweckung begehen. Im Kreuz Jesu zeigt sich die erlösende Gewaltlosigkeit Gottes, denn Gottes Liebe ist durch den Tod gegangen. Wir stehen hier im Brennpunkt des Zusammenspiels von Stellvertretung und Solidarität; genau darin wird die Feier des Gottes­dienstes relevant für unsere menschliche Praxis. Das Heil wird von Gott geschenkt, aber ohne die Menschen aus ihrer Verantwortung für eine menschenfreundliche Gestaltung dieser Welt zu entlassen. Gott übt Solidarität, und zwar weit über den Kreis der Frommen hinaus, mit den Verlorenen, den vom Tod Bedrohten, den Opfern der Weltgeschichte. Gottesdienst wird so zum Weltdienst. Es ist die Universalität der Liebe Gottes, die die Kirche stellvertretend in ihrem Gottesdienst feiert, nicht nur für die versammelte Gemeinde, sondern für eine ganze Welt, das heißt: anstelle und zugunsten aller Menschen.

Stellvertretung des fehlenden Christus

Noch einmal gefragt: Warum bedarf es überhaupt einer Stellvertretung? Eine grundlegende menschliche Erfahrung kommt ins Spiel: Stellvertre­tung hat ihren Grund in einem Mangel. Derjenige, der da sein sollte, fehlt. Er muss ersetzt werden, die frei gewordene Stelle muss ausgefüllt werden. Diese Erfahrung machen die Menschen vom Beginn des Lebens an. Es gilt auch im religiösen Bereich: Für den glaubenden Menschen bleibt immer ein Mangel, eine Leerstelle, und zwar in Bezug auf Gott. Er ist nicht ohne weiteres von Du zu Du erfahrbar, sondern es bleibt die Erfahrung seiner Abwesenheit. Diese Leerstelle wird zum Ort der beten­den und glaubenden Menschen. Gott kommt zu Hilfe, mit seinem Geist und mit dem Mittler Jesus. Paradox ist, dass dies aber der Erfahrung des Mangels kein Ende setzt, denn auch der Mittler – Jesus – „fehlt“: Er fehlt am Ostermorgen, in seiner Auferstehung. Das Christentum be­ginnt mit dem Entsetzen der Jüngerinnen und Jünger am Ostermorgen über das leere Grab, in dem der Leichnam Jesu fehlt. Diese Erfahrung ist zunächst kein Grund zur Freude: „Da verließen sie das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sie sagten nie­mandem etwas davon; denn sie fürchteten sich“ (Mk 16,8). So schwach, mutlos und angstvoll ist die Reaktion der ersten Zeuginnen und Zeugen der christlichen Botschaft, weil Jesus fehlt und niemand diese Lücke füllen kann. Genau das aber ist die Geburtsstunde des Christentums, so sagt es jedenfalls der französische Jesuit Michel de Certeau (1925–1986): „Das Christentum baut nämlich auf dem Verlust des Körpers auf – auf dem Verlust des Körpers Jesu […]. In der Tat: ein Gründungsverschwinden“ (de Certeau 2010, 127). Fortan muss das Christentum immer wieder neu mit dem Fehlen Christi umgehen und dieses Fehlen durch Stellvertretung kompensieren, unter anderem in seinen wiederkehrenden Ritualen: Wir feiern deshalb Gottesdienst, weil Jesus fehlt. Die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden wird hier zum Ort der Stellvertretung: Im gottesdienstlichen Tun wird die Lücke sakra­mental gefüllt, wenn auch nur auf Zeit. Das führt zu einer neuen Form von Solidarität: Das Fehlen des Gekreuzigt-Auferstandenen begründet das stellvertretende Beten der Kirche. Das ist Reichtum und Gefahr zu­gleich: Reichtum, insofern die Kirche den fehlenden Christus repräsen­tieren darf, Gefahr, wenn sie sich selbst an seine Stelle setzt und sein Fehlen verleugnet.

Bleibende Ambivalenzen: Stellvertretender Gottesdienst vor dem Bedürfnis nach Autonomie und Authentizität

Das spätmoderne Lebensgefühl bestimmen zwei Leitworte, nämlich Autonomie und Authentizität. Autonomie bedeutet, dass wir als Menschen in unserer Unabhängigkeit wahr- und ernst genommen werden wollen. Vor diesem Hintergrund bereitet der Gedanke der Stellvertretung zunächst Schwierigkeiten, denn der autonome Mensch möchte selbst vor Gott stehen und sich nicht vertreten lassen. Mehr noch: Der den Gottesdienst feiernde Mensch „muß darauf verzichten, seine eigenen Gedanken zu denken, seine eigenen Wege zu gehen. Er hat den Absichten und Wegen der Liturgie zu folgen […]. Er muß aus seinem gewohnten Gedankenkreis heraustreten und sich eine weit reichere, umfassendere Geisteswelt zu eigen machen“, so benannte Romano Guardini bereits im Jahre 1918 die Schwierigkeiten moderner Menschen mit der Liturgie (vgl. Guardini 1997, 32–36). Sie liegen darin begründet, dass der Gottesdienst nicht immer individuellen Bedürfnissen ent­spricht. Doch genau das kann zum Reichtum werden, insofern der Got­tesdienst in eine andere Welt führen und andere Horizonte eröffnen kann. Das Bedürfnis nach Autonomie muss sich also daran abarbeiten, dass es Erfahrungen anderer Menschen sind, die wir als Heilsgeschichte feiern. Den Erfahrungen anderer Menschen in ihrem Gottesglauben zu folgen, bedeutet zugleich, sich von Gott her ein Heil zusprechen zu lassen, das ich mir selber nicht geben kann. Der autonome Mensch angesichts der Gnade Gottes: kein spannungsfreies Geschehen, das in der Liturgie ritualisiert wird.

Die zweite große Sehnsucht ist die nach authentischer Nähe in unseren Beziehungen, und so auch im religiösen Leben. Doch bleiben die so sehr erwünschten authentischen Erfahrungen mit Gott schwierig, denn Gott ist nicht ohne Weiteres zu haben, da er immer der Jenseitig-Fremde bleibt. Zur authentischen Erfahrung der Nähe Gottes würde so auch die Erfahrung seiner Abwesenheit gehören. Damit ergibt sich ein neuer Blick auf die Liturgie: Wir feiern deshalb Gottesdienst, weil Christus seiner Kirche fehlt. Diese Ambivalenzen gilt es anzuerkennen, wollen wir als autonome Menschen authentisch vor Gott stehen.

Der „heilsame Raum“ des Gottesdienstes

Als Geschenk, Freiraum des Atemholens vermag der Gottesdienst gera­dezu spielerisch die Ambivalenzen zu umfassen, die das Leben und den Glauben prägen. Solchermaßen aus den engen Kategorien einer Kosten-Nutzen-Rechnung befreit, kann Gottesdienst in dieser Perspektive zu einem echten Luxus des Lebens werden. Im Gottesdienst vermag der Mensch einerseits autonom vor Gott zu stehen und andererseits darum zu wissen, dass er der Solidarität der Kirche als Erzählgemeinschaft und der Gnade Gottes bedarf. Hier können glaubende Menschen stellvertre­tend für eine ganze Welt beten, ohne ihr die Freiheit des eigenen Glau­bens oder Nicht-Glaubens zu nehmen. Hier lässt sich die Anwesenheit des Gekreuzigt-Auferstandenen erfahren, ohne sein bleibendes Fehlen leugnen zu müssen. Im Gottesdienst kann das eigene Leben bis hinein in seine Alltäglichkeit zur Sprache kommen, um dann als Teil der Heilsge­schichte Gottes mit den Menschen neu erfahren und gedeutet werden zu können. Der Gottesdienst ist in vielen seiner Formen vorgefunden und erprobt, aber er gibt den Menschen zugleich auch den Raum, ihn neu zu erfinden und zu entdecken. In der Liturgie werden die vielen Glaubenserfahrungen Israels und der Kirche ritualisiert, um die immer neuen Erfahrungen des Lebens und Glaubens deuten zu können (vgl. Odenthal 2019). Ein stellvertretendes Beten für Andere kann sich deshalb im Luxus des Freiraumes vollziehen, weil Gott eigentlich immer schon weiß, was den Menschen nottut. Der betende Mensch singt Gottes Lob, obwohl dieser des Lobes nicht bedarf: „Du bedarfst nicht unseres Lobes, es ist ein Geschenk deiner Gnade, dass wir dir danken. Unser Lobpreis kann deine Größe nicht mehren, doch uns bringt er Segen und Heil“, so sagt eine der Präfationen des Messbuches. Gottesdienst ist so ein Grundvollzug glaubender Menschen, aber er geht nicht auf in den vielen „Zwecken“ dieser Welt, auch nicht in den Zwecken der Kirche (vgl. Guardini 1997, 61). Er führt vielmehr zum Geheimnis Gottes, an dem sich glaubende Menschen ein Leben lang abarbeiten. Wie sagte die Benediktinerin Silja Walter aus ihrer persön­lichen jahrzehntelangen Erfahrung mit dem stellvertretenden Beten: „Dein Leiden, deinen Tod mitaushalten und daraus leben. Das muss immer jemand tun mit allen anderen und für sie.“