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Bange Zuversicht

Was Menschen in der Corona-Krise bewegt

Paul Zulehner ist für viele unterschiedliche Themen gut. Trotz seiner Emeritierung und seines vorgerückten Lebensalters setzt er sich wei­terhin aktiv mit den Vorgängen auseinander, die er wichtig findet; zuletzt hat er durch eine digitale Unterstützungsaktion für Papst Franziskus von sich reden gemacht. Nun hat er eine Umfrage durch­geführt, was Menschen in der Corona-Pandemie bewegt, wie sie damit umgehen, welche Gedanken ihnen wichtig sind, und legt die Ergebnisse vor. Es ist sehr angenehm und erfrischend, dass Wahrnehmungen von Kirche und Glaube erst am Schluss thematisiert werden. Größerer Raum wird gesellschaftlichen und persönlichen Fragestellungen eingeräumt.

Es geht um die Spaltungen in der Gesellschaft, um soziale Fragen, Ab­wägungen zwischen Gesundheit/​Erhalt von Menschenleben und Wirt­schaft, um Sicherheit und Freiheit, um Angst vor Abbau der Demokratie und staatlicher Kontrolle und Überwachung. Ebenso sind die Thema­tiken der Nachhaltigkeit und Klimapolitik, von Wirtschaft und Ökologie, Migration, von Individualismus und Solidarität, von Digitalisierung berührt. Die Frage, die wie ein Fixstern über dem Buch steht: Ist die Krise der Pandemie eine Chance für kreative Veränderungen? Oder anders: Werden wir etwas aus dieser Krise lernen? Und wenn ja, was?

In einem eigenen Teil (33–40) beschreibt der Autor die Ängste, die in der Befragung thematisiert werden. Neben (irrationaler) Hysterie steht bei vielen die Angst vor dem Verlust der Existenz und vor wirtschaftlichem Abstieg und die Sorge, dass Spontaneität und Unbefangenheit einer per­sönlichen Begegnung verlorengegangen sind. Ängste werden jedoch auch instrumentalisiert, das Vertrauen in die Politik sinkt. Es zeigt sich aber auch ein vernünftiges Umgehen mit den Ängsten und der Wille, sich nicht in Angst versetzen zu lassen. Insgesamt wird deutlich, dass das Gefühl um sich greift, nicht alles planen zu können und unter Kontrolle zu haben.

Ein weiterer Teil ist dem Balanceakt zwischen Freiheit und Solidarität (41–82) gewidmet. Mehrheitlich sind die Befragten dafür, dem Schutz der Gesundheit von Risikogruppen den Vorzug zu geben, anderseits gibt es die Erfahrung, dass manche sich ihre Freiheiten nicht nehmen lassen wollen. Diese Spaltung wird weiter beschrieben als die Abkehr von ei­nem neo-liberalen Wirtschaftsmodell einerseits und die Sorge anderer vor einem sich schleichend entwickelnden Gesundheits-, Polizei- und Überwachungsstaat. Die wahrgenommene Lagerbildung zeigt sich auch zwischen der „Generation Ballermann“ (dabei Junge und Alte), deren Vertreter sich nicht einschränken lassen wollen, und Verschwörungs­theoretikern, die ohne Rücksicht auf andere die erforderlichen Ein­schränkungen missachten. Es werden Konflikte zwischen Impfbefür­wortern und Impfgegnern befürchtet. Freiheit, so Zulehner, ist nicht: Ich mache, was ich will. Er hofft mit einigen Befragten auf „[d]ie Pan­demie als Lehrmeisterin für eine solidarisch gelebte Freiheit“ (49). Es wird eine Neubewertung von Globalität mit den internationalen Ab­hängigkeiten von Produkten und Lieferketten und die Aufwertung regionaler Produkte propagiert. Manche wünschen sich als Ergebnis der Pandemie die Entwicklung einer ökosozialen Marktwirtschaft und damit das Ende von Kapitalismus und Neoliberalismus.

Auch im Teil über „Alte und neue Normalität“ (83–150) werden Balan­cen beschrieben zwischen: „Es wird kein Stein auf dem anderen blei­ben“ und: „Es werden sich recht schnell wieder die herkömmlichen Routinen einschleichen.“ Auch hier werden Veränderungen bei der Digitalisierung, die Aufwertung der häuslichen Lebenswelt, eine neue Nachdenklichkeit und eine Mobilitätswende erhofft; das Ende des Kreuzfahrttourismus wird prophezeit. Ökosensibilisierung, Konsum­reduzierung und ein Umdenken beim Umgang mit Ressourcen würden sich durchsetzen, gleichzeitig bringe die Situation Gefahren für Demo­kratie und Sozialstaat. Gerade die Teile 2 bis 4 lesen sich ein wenig redundant, werden doch immer wieder ähnliche Gegensatzpaare zwi­schen „banger Skepsis“ (152) einerseits und „hoffnungsschwangerer Zuversicht“ (162) andererseits aufgetan und beschrieben.

Der letzte Abschnitt (171–214) ist den Kirchen und ihrem Gottesdienst in der Pandemie gewidmet: den erwartbaren Rückgängen an Beteili­gung bei Gottesdienst und Gemeindeleben, der Frage der Relevanz (oder besser: Nicht-Relevanz) kirchlicher Vollzüge und Angebote für viele Menschen, verbunden mit dem Aspekt der (mangelnden) Qualität und Nutzerorientierung. Zentral sind Zulehners Zusammenfassungen zur Privatisierung der Gottesverehrung, die sich an kreativen Hauskirchen zeigt, verbunden mit einem verstärkten Prozess der „Selbstermächti­gung von Christen und Christinnen“ (191). Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um das Auslaufen des herkömmlichen Pastoralbe­triebs. „Kirchliche Strukturen (Amtskirche, Sonntagspflicht, Sakra­mente) und der persönliche Glaube sind durch den Lockdown ins Wan­ken gekommen“ (191). Zentral sind die Bemerkungen zur Gottes­frage: Wie handelt Gott? Warum lässt er eine solche Pandemie zu? Die Ant­worten bewegen sich zwischen innerem Abschied von Gott aufgrund von eigenen irritierten Bildern einerseits und dem spirituellen Reifen andererseits, das das pure Leben als Geschenk entdecken und erleben kann.

Zum Abschluss formuliert Zulehner zusammenfassend fünf Thesen: Es braucht Brückenbauer und geht nicht ohne die Kunst des Balancierens. Eine neue soziale Frage kommt auf uns zu. Es braucht eine Ökologisie­rung der Ökonomie. Gott verschwand im Lockdown.

Der Pastoraltheologe hat hier viel Material zusammengetragen. Es ist gefühlt irgendwie alles drin, es ist alles angesprochen, dennoch lässt der Band den Leser in einer Balance eines (katholischen?) et – et verharren. Der Leser ist gehalten, seine eigenen Positionen in Auseinandersetzung mit dem Angebotenen zu klären.

Als das Buch im Herbst 2020 Druck war, hatte sich die Pandemie wieder verschärft. Die Antworten der Umfrage beziehen sich also lediglich auf die erste pandemische Phase im Frühjahr 2020. Vielleicht noch etwas zu früh, um grundsätzliche und langfristige Linien einzuschätzen, die heu­te, im Sommer 2021, an einigen Punkten noch klarer abzufragen wären. Die Auswahl der befragten Personen scheint nicht zufällig, die meisten sind über einen bereits bestehenden Kontakt über eine digitale Solidari­tätsaktion für Papst Franziskus mit dem Forscher in Kontakt gekom­men. Möglicherweise begegnet uns hier kein repräsentativer Quer­schnitt von Aussagen. Die Mehrheit der Antwortenden ist aus West­europa, Akademiker:innen, kirchlich verortet. Dies hat sicher auch Auswirkungen auf die Ansichten, die bei den meisten Befragten ähnlich sein dürften. Leider gehen manchmal die Formen von Beschreibung, Deutung und eigener Interpretation und Wertung des Autors ineinan­der, die Grenzen sind stellenweise nicht deutlich genug markiert. Das Buch stellt dennoch einen interessanten Querschnitt der Fragestellun­gen dar, die in der Pandemie aufgekommen sind. Und Paul Zulehner ist – wie anfangs gesagt – für viele unterschiedliche Themen gut.

Hubertus Schönemann