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Durchs Fenster geschaut: die Erprobungsräume (der EKM)

Eröffnen

In zwei Wochen kommen Studierende aus Göttingen nach Erfurt. Sie wollen „Erprobungsräume“ im Rahmen eines Seminars kennenlernen. Wahrscheinlich, weil „Erprobungsräume“ – ein Projekt der Evangeli­schen Kirche in Mitteldeutschland (EKM), das sich in ähnlicher Form mittlerweile auch in anderen Landeskirchen findet – die EKD erreicht haben und in das 11 (bzw. 12)-Punkte-Papier des Z-Teams Eingang fan­den. Eine Studierende blieb skeptisch: „Sind das nicht ‚einfach‘ fresh expressions mit landeskirchlicher Förderung?“

Gute Frage, zweifellos. Sie soll hier den Auftakt bilden für einen flüch­tigen Blick durch das Fenster der Erprobungsräume. Was das ist, möchte ich daran erläutern; was wir damit erleben, bildet den zweiten Teil dieses kleinen Artikels.

Die Frage der Studierenden ist irreführend und erhellend zugleich: Denn Fresh X sind in England weitgehend ohne Förderung entstanden. Dass sie emergieren und oft von Ehrenamtlichen getragen werden, ist typisch für sie. Kann man Fresh X von oben fördern, ohne ihnen das Proprium zu nehmen? Dann werden Menschen bezahlt, solche strate­gisch auf den Weg zu bringen! Selbst wenn es sich dabei noch um Fresh X handelte, „einfach“ wäre diese Art von Initiierung auf keinen Fall! Denn solche Förderung kann nur indirekt laufen; als Stimulation gewissermaßen.

Nun könnte man freilich noch die Kriterien ins Feld führen: Die vier britischen [missional, kontextuell, lebensverändernd, ekklesial; d. Red.] und die sieben deutschen (s. u.). Aber auch das ist müßig. Denn wir be­wegen uns schon längst in einer weitaus komplexeren Situation, wo es nicht nur Fresh X und Erprobungsräume, sondern in den Nieder­landen die Pioniersplekken gibt und in der Pfalz die Laboratorien und in Berlin die Dritten Orte usw. D. h. Erprobungsräume und Fresh X sind keine Gat­tungsbezeichnungen, sondern Exemplare in der Gattung „neue Gemeinde­formen“ oder „soziale Innovationen im Raum der Kirche“. Und diese lassen sich überall dort beobachten, wo bewährte christliche Sozialformen dysfunktional geworden sind – vornehmlich in den sog. „Mainline-Churches“ weltweit, also auch in Australien, Chile, Südafrika und Kanada.

Erklären

Bei den mitteldeutschen Erprobungsräumen handelt es sich schlicht um die Erprobung anderer Sozialformen von Kirche (so sagt es die „Ordnung ‚Erprobungsräume‘“). Folgende Aspekte sollen diese knappe Definition erläutern:

  1. Der Raum, von dem hier die Rede ist, ist nicht geographisch oder juristisch zu verstehen, sondern sozial. Es geht nicht um Struktu­ren, Arbeitsvorgänge oder Regionen, in denen Regelungen außer Kraft gesetzt werden, sondern um eine andere Form des Miteinan­ders. Das schließt virtuelle, passagere und fluide Varianten aus­drücklich ein.
     
  2. Ein Erprobungsraum soll anders sein als die bewährte kirchliche Organisationsform, die Kirchengemeinde. Anders bezieht sich nicht notwendigerweise auf Symbolik, Theologie oder Bekennt­nis, sondern auf volkskirchliche Organisationsprinzipien. Die basalen Merkmale Parochie, hauptamtlicher Pfarrer und Gebäude werden an einer Stelle außer Acht gelassen.
     
  3. Anders muss nicht unbedingt neu heißen. „Innovation bezieht sich auf soziale Kontexte, so dass gleiche Handlungen in unter­schiedlichen Kontexten und mit verschiedenartigen Zielbestim­mungen durchaus innovativ sein können“ (Beetz 2005, 64). Es geht also nicht darum, „Dinge zum allerersten Mal zu denken, also zu erfinden, sondern vielmehr darin, bereits Bestehendes oder Bekanntes in einem anderen Setting neu zu denken“ (Schlegel u. a. 2016, 333).
     
  4. Erprobungsräume werden mit oben genannter Definition vor allem negativ beschrieben: Die Kirchenformen sollen „anders“ sein (siehe 2). Wie „anders“ konkret aussieht, gibt die Landes­kirche bewusst nicht vor. Das Logo der Erprobungsräume zeigt eine offene Klammer, die in der Mitte einen Freiraum bzw. einen Leerraum entstehen lässt. Genau darum geht es: Um das Eröffnen von Freiräumen, in denen mit anderen Kirchenformen experi­mentiert werden kann.
     
  5. So unberührt und offen der Raum des Klammerlogos auch sein mag: Darin soll Kirche entstehen. Dies ist das einzige inhaltliche Kriterium, dem ein Erprobungsraum genügen muss. Das heißt aber auch: Es muss nichts anderes als Kirche entstehen. Um Kir­che zu beschreiben, haben wir eher vermittelnd verschiedene Linien kompiliert: die klassischen drei (bzw. vier) Dimensionen der katholischen Tradition, die Confessio Augustana und Impulse aus der anglikanischen Gemeindeentwicklung. Sie sind eingeflos­sen in gewisse Merkmale, die den Erprobungsräumen zu eigen sein sollen. Diese Merkmale sind noch mit situationsbezogenen Erfordernissen angereichert worden. So weisen die Erprobungs­räume folgende Kennzeichen auf:
    • In ihnen entsteht Gemeinde Jesu Christi neu.
    • Sie überschreiten die volkskirchliche Logik an mindestens einer der folgenden Stellen: Parochie, Hauptamt, Kirchengebäude.
    • Sie erreichen die Unerreichten mit dem Evangelium und laden sie zur Nachfolge ein.
    • Sie passen sich an den Kontext an und dienen ihm.
    • In ihnen sind freiwillig Mitarbeitende an verantwortlicher Stelle eingebunden.
    • Sie erschließen alternative Finanzquellen.
    • In ihnen nimmt gelebte Spiritualität einen zentralen Raum ein.

Für das Entstehen solcher Erprobungsräume möchte die EKM Anreize setzen, in Form von Finanzen, aber vor allem durch ein inspirierendes Begleitprogramm, die Vernetzung von Akteuren und künftig auch ver­stärkt in Bildungsformaten. Solche Gemeindeformen können letztlich nur stimuliert werden, denn die Subjekte des Erprobens sitzen vor Ort, in Kirchengemeinden, in Gemeindegruppen, Einrichtungen oder Kir­chenkreisen.

Erproben

Dass unsere Erprobungsräume auf das Erproben verweisen, ist nicht zufällig. In Aufnahme einer Traditionsspur, die bei Ernst Lange beginnt, hoffen die Verantwortlichen, dass mit dem Erproben Haltungsände­rungen und eine Verflüssigung von kirchlichen Strukturen verbunden sind. Die EKM möchte sich damit auf den Weg machen.

Erproben: Das ist einerseits eine heuristische Strategie zum Lösen von Problemen, die man im Alltag intuitiv anwendet. Wenn man z. B. den Code für das Fahrradschloss vergessen hat, probiert man vertraute Zah­lenkombinationen aus. Das Erproben als Phänomen muss aber weiter gefasst werden. Es steht für eine Einstellung, eine Haltung zur Welt um uns herum. Da diese nicht offen und fertig vorliegt, benötigt es das per­manente Testen und Durchspielen von Ideen, Lebensentwürfen und Optionen. Die experimentelle Vorgehensweise der darstellenden Kunst in ihrem Versuch, Dinge immer wieder anders und neu zu sehen, Farben zu variieren, Rahmungen aufzulösen und Abstraktionen voranzutrei­ben, kann als Inbegriff eines zeitgenössischen Lebensstils verstanden werden. „[F]ast möchte man sagen, die Modernität des Zeitalters und der Geist des Experimentellen seien ein und dasselbe“ (Gamm/​Kertscher 2011, 10).

Dies bildet den Horizont des Erprobens in der EKM. So lassen sich die Erprobungsräume als ein Versuch verstehen, der Liquidität des Umfelds zu begegnen. Im Gefühl permanenten Wandels und eines immerwäh­renden Testbetriebs möchte unsere Kirche ein experimentelles Selbst- und Weltverhältnis einüben, eine lernende Haltung gewinnen und dem Erproben anderer Formen des Kirche-Seins Raum geben. Solche Zeit­genossenschaft versteht sie nicht als billige Anpassungsleistung, son­dern als Erinnerung an das biblische Leitbild eines wandernden Gottes­volkes. „Als Gemeinde unterwegs“ war denn auch der Prozess der ersten EKM-Synode überschrieben, in dessen Rahmen der Beschluss zu den Erprobungsräumen gefallen ist. Zum „Weg-Erproben“ gehört, dass man das Ziel noch nicht sieht, in Sackgassen gerät und Schleifen drehen muss. So sind die Erprobungsräume kein ausgefeiltes „Reformpro­gramm“ mit klaren Meilensteinen, fixen Zielen und definierten Pro­zessschritten. Oft sind auch wir als Verantwortliche ratlos und wissen nicht, wie es geht. Das öffnet die Tür für ernsthafte Beratung und ein intuitives bzw. pragmatisches Vorgehen. Offenbar ist dies auch der goldene Weg in komplexen Situationen, wie die Cynefin-Matrix nahelegt.

Erfahren

Nach sechs Jahren merken wir, dass die EKM durchaus in Bewegung gekommen ist. Oder besser: Die Erprobungsräume weisen als gesamter Prozess Merkmale der Bewegung auf (vgl. dazu u. a. Hauschildt/​Pohl-Patalong 2013, 144 f.): Darin sind Individuen oder Gruppen lose zusam­mengeschlossen, sie eint der Wille, den Status quo zu verändern, der Aufbruchscharakter zeigt sich u. a. am persönlichen Engagement; über­haupt spielt die Vernetzung von Personen eine wichtigere Rolle als z. B. Ämter oder Hierarchien. Die Affinität der Erprobungsräume mit einer Bewegung ist ihnen schon vom Konzept her eingeschrieben. Denn Bewegungen zeichnen sich durch „Flexibilität der Formen“ und den „Mut zum Experiment“ (Pohl-Patalong 2021, 72) aus, beides Charakte­ristika, die man mit dem landeskirchlichen Prozess bewusst fördern wollte.

Dazu passt, dass die Erprobungsräume zusammenbrachten, was schon da war. Viele der Initiativen experimentierten schon lange, bevor es dieses Förderprogramm gab. Damit wurde also nicht nur Aufbruch er­möglicht, sondern vor allem eingesammelt. Im Ergebnis partizipiert(e) unsere Kirche also von Bewegungen, die sie nicht verursacht hat, aber die sie vernetzte. Die Bedeutung der Erprobungsräume als Kristalli­sationspunkt kann wohl nicht überschätzt werden.

Damit hängt zusammen, dass Begleitung und Vernetzung viel mehr Auf­merksamkeit verdienen, als anfangs gedacht. Zunächst lag das Augen­merk darauf, überhaupt Erprobungsräume in der EKM auf den Weg zu bringen. Als es aber immer mehr wurden, merkten wir, dass es nicht nur um die Initiierung, sondern auch um die Etablierung geht – und waren in diesem Zusammenhang fast ein wenig überrascht, als auch die Akteure und Akteurinnen das einforderten: Sie sollten gar nicht so sehr in Ruhe gelassen werden, wie wir anfangs meinten, sondern freuten sich über Besuche, wünschten Beratung und nahmen Vernetzung und Inspiration dankbar auf. Dies sind die zentralen Steuerungsinstrumente im Prozess.

Natürlich auch die Finanzen. Geldmittel setzen Anreize, die erwünsch­ten Dinge anzustreben bzw. umzusetzen. Wenn man Innovation möch­te, muss man diejenigen belohnen, die innovativ sind. So einfach könn­te man den Mechanismus beschreiben. So simpel verhält er sich aber in der Praxis nicht. Geld weckt Neid; Geld stellt still; Geld verändert die Motivation usw. Monetäre Ressourcen sind eine durchaus ambivalente Steuerungsgröße. Auch deshalb kehrt die Förderrichtlinie von 2020 die Logik um: Das Programm „Erprobungsräume“ soll nur noch sekundär als Finanzgeber verstanden werden; in erster Linie soll durch Begleitung und Vernetzung gefördert werden.

Schaut man auf die Erprobungsräume vor Ort, so könnte man summa­risch formulieren: Kirche begegnet dort eher als fluides Netzwerk, hat starke Anklänge an die Form der Gruppe, ist bewegungsförmig, offen, spontan – und auch vergänglich. Die Unsicherheit trägt zum Charme der einzelnen Initiativen bei und erhöht den Wert von Personen und ihren Anliegen. Beziehungen sind generell wichtiger als institutionelle Strukturen. Wer da ist, gehört dazu. Sachargumente schlagen Hierarchie und Mitgliedschaft. Der Raumbezug spielt eine eminent wichtige Rolle, auch wenn dies nicht die Nachbarschaft sein muss, sondern verschie­dene Orte oder die digitale Welt umfassen kann. Nähe und Dienst sind Schlüsselbegriffe für die Wirkung von Erprobungsräumen. Präsenz ist wichtiger als Programm, Verlässlichkeit wichtiger als Aktionismus. Er­probungsräume richten sich nicht an alle und bieten auch kein Kom­plett­programm an. Kirche erscheint hier fragmentiert und ergän­zungs­bedürftig, ist eher als Knoten im Netz kirchlicher Akteure zu sehen. Erprobungsräume sind mittelgroß.

Anfangen und Beenden

Wie verhalten sich solch neue, nichtparochiale Gemeindeformen zur Ortsgemeinde? Fünf Jahre Erprobungsräume haben das schöne Leitbild einer „mixed economy“ erweitert und in gewisser Weise geerdet: Ja, sol­ches Miteinander gibt es; aber es gibt auch Nebeneinander und durch­aus Gegeneinander. Dass sich dies oder jenes einstellt, dafür sind oft ganz allgemeine Regeln der Kommunikation und Kollegialität aus­schlaggebend.

Meine Euphorie in Sachen mixed economy hat abgenommen. Weniger wegen der praktischen Erdung in der EKM. Sondern wegen eines Miss­verständnisses, zu dem das Konzept schnell führen kann: Denn als blankes Nebeneinander kann es den Status quo zementieren und wird so zur Mogelpackung. Das Neue will man – und das Alte auch! Da geht es den Landeskirchen im Großen wie dem Pfarrer im Kleinen genau gleich: In der Regel verstehen wir Neuerungen in evangelischer Kirche additiv: Sie treten neben das Bestehende und ergänzen es. Man hübscht das Neben­einander rhetorisch mit der postmodernen Vielfalt auf und macht daraus ein Konzept: Es ist für jeden etwas dabei! Der volkskirch­liche Reflex, allen eine Heimat bieten zu wollen, tut das Übrige: Wenn das hinter mixed economy steckt, ist es ein Euphemismus für fehlenden Mut, sich zu verabschieden.

Gerade im Umkreis des Innovationsprogramms Erprobungsräume ist die Erkenntnis gewachsen: Ohnekonsequente Abschiedewird es auch keinen Neuanfang geben! Diese Aussage mag überraschen. Folgen die Erprobungsräume nicht der Idee, Innovationen neben dem Bestehenden zu etablieren? Gerade dadurch sollen sie auf das Gesamtsystem zurück­strahlen! Und so denken auch Erprobungsräume Innovation additiv. Ja, das ist richtig. Aber gerade, wo das Zurückstrahlen gelingt und ein inno­vatives Klima entsteht, wird deutlich: Viele Kollegen sind offen für Innovation und Neuanfänge inmitten ihrer ganz klassischen parochialen Arbeit. Das hat Corona bekräftigt. Aber sie können sie nicht umsetzen, wenn es keinen gezielten Kirchen-Lockdown gibt, der Freiräume ermög­licht! Die Verwaltung des Bestehenden bindet sie derart, dass schlicht­weg die Luft fehlt, neue Wege zu gehen. Das konzeptlose Schrumpfen mit dem „Immer-weiter-so“ fällt uns doppelt vor die Füße. Weil sich dadurch die immer gleiche Arbeit so verdichtet hat, dass die Zeitge­nossen noch weniger Nischen für Innovatives finden als ihre Eltern­generation. Wenn wir die innovationsfreudigen Menschen nicht noch weiter frustrieren wollen, benötigen sie Freiraum und Rückenstärkung für das Neue! Vermutlich wirken Erprobungsräume auch deshalb so attraktiv für junge Kolleginnen und Studenten. Die Gruppe aus Göttingen hat sich jedenfalls intensiv mit dem Konzept beschäftigt. Hoffentlich wird sie bei ihrem Besuch ermutigt, Neues zu probieren. Auch wenn dies heißen kann, alte Zöpfe abzuschneiden.