Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
diese Ausgabe widmet sich dem Thema „Stellvertretung“ und fragt, wie diese verstanden werden und ob sie für unsere pastoralen Überlegungen eine Rolle spielen kann. Seit Immanuel Kant taucht im Blick auf den Stellvertretungsgedanken immer wieder das Argument der Unvertretbarkeit des Einzelnen auf, das mit dem mündigen, aufgeklärten und selbst verantwortlichen Menschen verbunden ist. Dies ist gewissermaßen der Haupteinwand gegen das im vorliegenden Heft angezeigte Thema. Die Frage ist so, ob mit der Stellvertretung ein Geschehen gemeint ist, dass die Würde und Freiheit des Menschen zerstört, oder ob die Stellvertretung als etwas gedacht werden kann, das dem Menschen dort geschenkt wird, wo er selbst scheitert und an seine Grenzen kommt. Und natürlich muss auch gefragt werden, welche Rolle die Kirche dabei spielt. Denn wenn Kirche „anders ist als die ‚anderen‘, kann sie für ‚die anderen‘ etwas bedeuten, was diese nicht schon selbst sind. Aber was sie für die ‚anderen‘ bedeutet, hängt entscheidend von der Art und Weise ab, wie sie ihr Anderssein lebt“ (Karl-Heinz Menke). Um diesen Fragen nachzugehen und sie auf ihre pastorale Relevanz hin zu erschließen, sind im vorliegenden Heft verschiedene Beiträge versammelt.
Den Aufschlag macht Martin Hochholzer, der Stellvertretung in einer Tour d’Horizon als einen unverzichtbaren Aspekt des Lebens in vielen Facetten beschreibt. Den biblischen Befund erhebt Markus-Liborius Hermann, der vor allem Jesu Leben, Sterben, Tod und Auferstehung unter dem Vorzeichen der liebenden Hingabe und Proexistenz nachzeichnet. Ottmar Fuchs fragt nach den pastoralen Möglichkeiten für eine missionarische Kirche, die sich aus der theologischen Grundkategorie der Stellvertretung ergeben. Jan Loffeld reflektiert über pastorale Stellvertretung und Ent-Netzung. Dabei lenkt er angesichts der Erfahrung von Minderheit kirchlicher Präsenz die Aufmerksamkeit von dem aktiv Verbundenen auf das „Entnetzte“ (Urs Stäheli). Der Religionssoziologe Gert Pickel geht der Frage nach, ob eine Stellvertreterreligion als Modell der Zukunft der Kirche in Europa dienen kann. Dafür stellt er das Modell der „Vicarious Religion“ von Grace Davie vor und erdet es in der religiösen Realität Europas. Auch das Feld der Liturgie wird abgeschritten: Andreas Odenthal reflektiert über einen „Gottesdienst in Stellvertretung“ und nimmt dabei die Solidarität zwischen Gott und den Menschen und konkret den betenden Menschen in den Blick. Die Frage, ob und in welcher Weise Glaubende für andere, „für die Vielen“, stellvertretend beten können, wird von Stefan Tausch aus der Perspektive der Citypastoral erörtert. Dabei berichtet er von der Arbeit und geistlichen Grundhaltung im Katholischen Forum Dortmund und von seinen konkreten Erfahrungen damit, wie Menschen reagieren, wenn man ihnen sagt, dass man für sie beten wird. Dazu, wie diese Überlegungen bei Menschen ankommen könnten, die sich selbst als nicht glaubend verstehen, wurde Michael Matthes gebeten, Stellung zu nehmen. Einen monastischen Blick auf die Stellvertretung bietet abschließend der Beitrag von Sr. M. Sandra Gelbe OCist, die Stellvertretung als theologische, spirituelle und praktische Grundfigur auf verschiedenen Ebenen des klösterlichen Lebens und Selbstverständnisses in Helfta beschreibt.
Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre!
Mir selbst sei noch ein abschließendes Wort erlaubt. Nach über elf Jahren verlasse ich im Juli die KAMP, um eine neue berufliche Etappe zu beginnen. Ich möchte mich daher bei Ihnen, geschätzte Leserinnen und Leser, verabschieden. Ich wünsche Ihnen Gottes reichen Segen.
Ihr