Bedeutung von Leitung in Prozessen der Evangelisierung und Kirchenentwicklung
Leitung zeigt sich derzeit als ein zentrales Thema der Pastoral, über das nachgedacht und mit dem experimentiert wird. Äußerer Anlass mögen die derzeitigen pastoralen Strukturveränderungen in vielen deutschen Bistümern sein. Größere Pfarreien sollen Räume für veränderte Gemeinschaftsformen als „Orte von Kirche“ sein: herkömmliche „Gemeinden“, Personalgemeinden, aber auch Einrichtungen und Gemeinschaften sollen in der „Pfarrei neuen Typs“, wie es bspw. im Bistum Limburg heißt, das christliche und kirchliche Leben auf neue Weise ermöglichen. Gleichzeitig verbinden sich damit Hoffnungen auf eine sendungsorientiertere Gestalt von Kirche. Sie soll den Auftrag im Blick auf die sozialen Räume und die Menschen, mit denen Christen leben und für die sie Kirche sind, neu buchstabieren und realisieren. Es geht also nicht nur um Strukturveränderungen, die der Logik der Not geschuldet sind, sondern um eine Transformation kirchlicher Mentalitäten und der pastoralen Praxis des Gottesvolkes und seiner Glieder hin zu einer sendungsorientierten Kirche, es geht also um Kirchenentwicklung. Darin nehmen veränderte Formen von Leitung einen zentralen Platz ein.
Kontext des Themas Leitung in einer Kirche, die Kirchenentwicklung um der Evangelisierung willen in den Mittelpunkt stellen will
Getaufte sollen mehr Verantwortung für das Leben und die Sendung der Kirche übernehmen. Die Strukturveränderungen bringen die Unterscheidung zwischen Leitung einer Pfarrei und Leitung von Gemeinden oder „Orten von Kirche“ mit sich. Oft wird dies nicht sauber auseinandergehalten. Manchmal ist nicht bewusst, dass auch die Seelsorgeeinheit oder der Pfarreienverbund/Pfarrverband in der Vergangenheit von einem Priester geleitet wurde, der allerdings nur für eine der verbundenen Pfarreien als kanonischer Pfarrer bestellt wurde, für die anderen war er Administrator. Sie hatten also strenggenommen auch keinen eigenen Pfarrer.
In vielen Bistümern werden seit einiger Zeit Formen von Gemeindeleitungen durch Ehrenamtliche im Team ausprobiert, in einigen Bistümern sogar die Pfarreileitung. Nach c. 517 § 1 gibt es Erfahrungen in Teamleitung durch mehrere Priester (in solidum), bei der einer der kanonische Pfarrer ist. Nach c. 517 § 2 wird Leitung durch Beauftragte wahrgenommen, die nicht geweiht sein müssen, denen allerdings ein Priester zugeordnet ist, der „moderiert“, wie der CIC Leitung im Lateinischen ausdrückt.
Bei der Fixierung auf Pfarrei- und Gemeindeleitung sind jedoch andere Organisationsformen wenig im Blick, die ebenfalls geleitet werden: Gruppen, Orden und (geistliche) Gemeinschaften, Personalgemeinden wie Hochschul- oder Krankenhausgemeinden, Einrichtungen. Die deutschen Bischöfe stellen in „Gemeinsam Kirche sein“ (2015) eine vielfältige Landschaft von Gemeinschafts- und Leitungsformen als Vision vor Augen („Leitung in der Kirche hat viele Gesichter“).
Neben „Modellen“ von Leitung muss das Thema aber auch tiefer angegangen werden durch die Befassung mit Vorstellungen oder „Konzepten“ von Leitung, also wie Leitung durch Einzelne und Teams im Spannungsfeld von Person (persönliche Fähigkeiten und Leitungskompetenzen) und Rolle (institutionelle Position und Agieren in der Rolle im Agieren und Zusammenspiel mit anderer Personen und Rollen) tatsächlich wahrgenommen wird. So spielen beim Thema Leiten und Führen in der Kirche auch Aspekte aus verwandten Gebieten wie geistliche Begleitung, Moderation, Organisations-, Gemeinde- und Kirchenentwicklung eine Rolle.
Leitung in der Kirche erfordert schließlich eine theologische Befassung damit. Dabei ist ein besonderes Augenmerk auf die Rolle der Geweihten zu legen, da in einer traditionellen Lesart nur die Geweihten Leitung in der Kirche haben. Es ist noch nicht ausgemacht, wie sich sakramentale Leitung des Geweihten in einer sich als Hierarchie verstehenden Kirche versteht, darstellt und vollzieht, wenn der betreffende Geweihte nicht tatsächlich organisationale Leitung ausübt. Hier gilt es neu nachzudenken und zu differenzieren, nicht nur aus der Logik der Not des (quantitativen wie qualitativen) Priestermangels, sondern um der Partizipation möglichst Vieler willen, dem Teilen von Verantwortung der Getauften für das Leben und die Sendung der Kirche. Über Leitung in der Kirche muss also jenseits der Fixierung auf das geweihte Amt (ordo) und jenseits der Fixierung auf nur Gemeindeleitung oder Pfarreileitung weiter diskutiert und nachgedacht werden.
Organisationstheoretische Aspekte von Leitung als Führung
Unabhängig davon, ob Leitung in der Kirche durch Geweihte oder nicht Geweihte wahrgenommen wird, können Aspekte beschrieben werden, die leitendes Handeln in Organisationen grundsätzlich ausmachen und qualifizieren. Die Kirche als soziales Gefüge macht da keine Ausnahme. Problematisch wird es auf jeden Fall, wenn organisationale Führung im Rahmen einer institutionellen Position zwar religiös-ideologisch (als Leitung) zugesprochen und in Anspruch genommen wird, ohne dass jedoch tatsächlich die notwendigen personalen und organisationsbezogenen Kompetenzen auf Seiten der betreffenden Person vorhanden sind oder erlernt werden (wollen und/oder können). Anders und etwas platter gesagt: Wer vor der Priesterweihe nicht gut kommunizieren, (Arbeits‑)Beziehungen gestalten oder in einer guten Weise führen und organisieren kann, kann es nach der Weihe auch nicht automatisch und nicht von selbst.
Aspekte der Führungsforschung, die mit Erkenntnissen aus dem Raum der Betriebswirtschaft, Unternehmensforschung, Organisationsentwicklung und Arbeitspsychologie gespeist werden, können zunächst einmal das organisationale Leiten befruchten. Dabei gibt es natürlich auch hier verschiedene Schulen mit divergierenden Vorstellungen, z. B. über die nicht unumstrittene Abgrenzung von Leadership und Management (gestalten und verwalten), das Verständnis von Kybernetik (Steuermannskunst), also von wem und auf welche Weise ein soziales Gebilde „gesteuert“ werden kann, sowie bspw. der Zusammenhang von Leiten und Entscheiden.
Im Kontext der post- oder spätmodernen Gegenwart mit dem postulierten Ende der großen Erzählungen, dem Abschied von einem einheitlichen Wahrheitsverständnis sowie der Ausdifferenzierung und zunehmenden Komplexität kann schon mit Fug und Recht gefragt werden, wie denn überhaupt noch Steuerung von Organisationen angesichts der systemischen Vervielfältigung interner und externer Bedingungen möglich ist.
Hier ist nicht der Platz, diese Aspekte auszufalten. Wichtig ist mir an dieser Stelle festzuhalten: Führung kann sehr unterschiedlich beschrieben und beobachtet werden, als Eigenschaft oder erwerbbare Fähigkeit, als aufgaben- oder personenorientiertes Verhalten (Führungsstil), wenn man die Führungskraft im Zentrum sieht. Die Bedeutung des/der Geführten und die umgebende Situation (Kontingenz), in der Führung stattfindet, oder ein Austauschprozess, der in der Interaktion von Führendem und Geführtem besteht, erweitern die Perspektive über die Person des/der Führenden hinaus. In neuerer Zeit wird viel über transformationale Führung (Führung als Veränderung zu einem Ziel) nachgedacht. Der Blick auf das (oft selbststeuernde) Team weitet die zweifache Beziehung von Führungskraft und Geführter/m auf das Team hin. Systemische Führung als Prozess, Aspekte von Führung als Kulturprägung versuchen, Führungshandeln in der Komplexität und Ambiguität der Gegenwart zu beschreiben und zu gestalten.
Wie dem auch sei, Führen und Leiten stellt auch in der Kirche angesichts der handelnden Personen (Freiheitsdynamik, Arbeit und Engagement als Selbstgestaltung, Professionalität) und Prozesse im gesamtgesellschaftlichen Kontext zunehmend eine Herausforderung dar, bei der es um Leitung im Sinne von Visionsarbeit, empowerment und Entwicklung geht. Leitung auf verschiedenen Ebenen in der Kirche muss ermächtigen, ermöglichen und maximale Partizipation fördern, indem den vielfältigen Kompetenzen (im Sinne von Begabungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, Wissen etc.) Raum zur Entfaltung gegeben wird. Leitende müssen zunehmend inspirieren, motivieren und Teamorientierung fördern. Sie sind gefordert, Verantwortung wahrzunehmen, indem sie zu beständiger Koordination, Kommunikation und Moderation beitragen. Sie brauchen die Bereitschaft, Verantwortung zu teilen und mit Macht sensibel umzugehen, Kritik anzunehmen und eine Kultur der Fehlertoleranz und des Feedback zu fördern.
Charisma und Institution bzw. Charisma und Amt
Es ist bereits angeklungen, dass Leitung sich auf das Ganze der Organisation bezieht und nur von dorther verständlich ist. Leitung in der Kirche soll dem Zeugnis der Getauften, der Gläubigen (christifideles), der Glieder des Gottesvolkes, dienen. In diesem Zusammenhang wird nun verstärkt von Charismen- oder Gabenorientierung gesprochen. Die deutschen Bischöfe haben in „Gemeinsam Kirche sein“ diesen Zusammenhang von Charismenorientierung und Leitung in der Kirche deutlich hervorgehoben. Das Verhältnis von Leitenden und Geleiteten ist – wie wir gesehen haben – schon in säkularen Institutionen ein spannendes und spannungsreiches Verhältnis, erst recht in der katholischen Kirche. Seit dem II. Vatikanischen Konzil reibt sich die Volk-Gottes-Theologie, zu der die Vorstellung von Charismen als von Gott den Menschen gegebenen Gaben gehört, um Kirche – auch in neuen Formen von Partizipation – mitzugestalten, mit „traditionellen“ Vorstellungen von „Letztverantwortung“ der Geweihten in der hierarchischen Verfasstheit der römisch-katholischen Kirche. Der Versuch, diese Spannung produktiv zu lösen, ohne das charismatische und das hierarchische aufzugeben, ist auch in „Gemeinsam Kirche sein“ spürbar.
Es ist allerdings schon ein Unterschied, ob man das Amt einerseits als den Charismen als Geistesgaben der Gläubigen gegenüber und als „Kontrollinstanz“ vorgeordnet versteht, in dem Sinne, dass dem geweihten Amt allein die Unterscheidung und Entscheidung darüber vorbehalten bleibt, welche Charismen denn kirchlich seien. Oder ob andererseits das Amt seinerseits eine Geistesgabe unter anderen ist, was nicht auf Exklusivität und Vorordnung, sondern auf einen gemeinsamen und aufeinander bezogenen Prozess des Verstehens und Unterscheidens der Geister (discretio spirituum) hinausliefe. In diesem Falle wäre das Amt eingebettet in einen gemeinsamen Entdeckungs- und Verstehensprozess, in dem das Gottesvolk immer mehr zu seiner Berufung und Sendung findet. Auf der weltkirchlichen Ebene ist diese Spannung ebenfalls präsent. So versucht das Papier der GlaubenskongregationIuvenescit ecclesia vom Mai 2016 „über die Beziehung zwischen hierarchischen und charismatischen Gaben im Leben und in der Sendung der Kirche“ Charismen zwar wertzuschätzen, zu ihnen zu ermutigen und sie zu vervielfältigen, dem Amt jedoch die Kontrollinstanz vorzubehalten. Soziologisch geht es hierbei natürlich um die Frage nach Macht und Entscheidungs- und Gestaltungskompetenz in der Kirche und wie damit umgegangen wird. Theologisch wird sicher noch einiges zu leisten sein, um Leitung theologisch als tatsächlichen (nicht nur vorgeschobenen) Dienst am Weg des Gottesvolkes und seiner Sendung, dem Zeugnis vom wachsenden Gottesreich, zu qualifizieren und von dorther Kriterien für leitendes Handeln in der Kirche zu entwickeln. Neue Leitungsmodelle in der Kirche, egal auf welcher Ebene, und egal, ob es Getaufte oder Geweihte, Beauftragte oder Berufene sind, werden sich an diesen theologischen und soziologischen Aspekten bewähren müssen und die theologische Reflexion und Begründung hoffentlich ihrerseits voranbringen. Problematisch ist es sicherlich, ein christologisch fundiertes Amtsverständnis und ein pneumatologisches Charismenverständnis einander einseitig entgegenzusetzen und gegeneinander auszuspielen. Sowohl in den Gaben als auch im Ordo wirken gleichermaßen Christus und die göttliche Geistkraft.
Fakt ist, dass die Kirche in Deutschland auf Dauer immer mehr eine Kirche der Ehrenamtlichkeit sein wird. Das bedeutet, dass Getaufte viel stärker als bisher in die Verantwortung für den Glauben, für das Leben der Kirche am Ort wie auch für die Gestaltung der kirchlichen Sendung gerufen sind und sie übernehmen „müssen“. Dies scheint derzeit problematisch, da die Zentrierung auf den Priester als Dreh- und Angelpunkt kirchlichen Geschehens, von dem alles erwartet wird oder von dem man sich alles erlauben lassen muss, immer noch sehr wirkmächtig ist. Oft genug verstehen Priester und Hauptberufliche und oft genug die Gläubigen selbst die „Ehrenamtlichen“ immer noch als Helfer des Priesters oder der Hauptamtlichen in ihrer „professionellen“ Rolle und die „Gläubigen“ als Adressaten, Empfänger oder Objekte pastoralen oder sakramentalen Handelns, das Hauptberufliche oder Geweihte an ihnen „vollziehen“. Derzeitige Erfahrungen mit „Ehrenamtsförderung“ in verschiedenen deutschen Diözesen zeigen, dass der Weg hin zu einem Bewusstsein, dass die Getauften tatsächlich ihre Verantwortung und Sendung (nicht primär für das „Funktionieren“ der herkömmlichen internen Gemeindeaktivitäten, sondern für die Wahrnehmung und Entwicklung von Kirche an konkreten Orten und ihre Sendung dort) wahrnehmen und auch Freiräume und Begleitung dazu erhalten, noch sehr lang und steinig ist.
Veränderte pastorale Strukturen und Leitung
Alle diese Aspekte von Leitung stellen sich in den veränderten pastoralen Strukturen nicht nur als möglich, sondern als unabdingbar und notwendig dar. Die veränderten pastoralen Strukturen (lokale Gemeinschaftsformen als „Orte von Kirche“ in großen Pfarreien) sind sozusagen der Experimentierraum, in dem ein neues Miteinander von Charismen und leitendem Handeln nicht nur ausprobiert werden kann, sondern muss. So wie bisher wird es wohl einfach nicht mehr weitergehen. Dabei ist nicht ausgemacht, ob die erforderlichen Lern- und Veränderungsprozesse tatsächlich stattfinden, zu prägend scheinen derzeit bestimmte Bilder von und Erwartungen an „Gemeinde“ und die handelnden Personen in ihren Rollen zu sein.
Für Priester ergibt sich eine Unterscheidung in leitende Pfarrer und nicht leitende Priester, die im Pastoralteam mitarbeiten. Die leitenden Pfarrer sollen in der Verwaltung zukünftig durch hauptberuflich installierte Geschäftsführungen entlastet werden. Manche Pfarrer mögen dies als Befreiung erleben. Andere erleben dies als Leerstelle und haben Schwierigkeiten, ihre Leitung anders auszufüllen, weil von ihnen Leitung eben als Verwaltung wahrgenommen wurde. So mancher leitende Pfarrer lässt sich womöglich nicht gerne verwaltungsmäßig entlasten. Zunehmend ergibt sich also die Frage, wie Leitung jenseits von Entscheidungen über Ressourcen bei Immobilien, Finanzen und Personal und aussehen kann. Wie kann geistliche Leitung wahrgenommen werden? Ein Mitarbeiter eines deutschen Bistums sagte mir: „Man darf den Priestern die Entscheidungskompetenz auch nicht ganz wegnehmen, dann fallen sie in eine Identitätskrise.“
Für die leitenden Pfarrer ergibt sich die Herausforderung, Leitung tatsächlich auszufüllen und diesbezüglich nicht vorhandene und nicht erwerbbare Kompetenz(en) nicht mit einer priesterlichen „Amtsautorität“ zu verdecken oder ersetzen zu wollen. Leitung in diesem organisationalen Sinne kann nicht einfach nur formal zugeschrieben werden, sondern muss auch wahrgenommen und gestaltet werden: Konflikte bearbeiten, Gespräche mit Mitarbeiter/innen zu deren Entwicklung führen, Verantwortung für Visionsarbeit und die Entwicklung der Organisation übernehmen, systemisches Wissen und Kompetenz erwerben, geistliche Unterscheidungs- und Entscheidungsprozesse fördern. Wer das von seiner Person her nicht kann und sich nicht entwickeln kann oder will, der sollte auch nicht mit einer leitenden Aufgabe betraut werden. Hier sehe ich die Bistumsleitungen angesichts großer Pfarreien in einer wirklich großen Verantwortung und Verpflichtung.
Angesichts nicht leitender Priester ergeben sich andere Fragen: So mancher Priester erlebt gerade seine nicht leitende Rolle als einen Mehrwert, sich selbst als Priester und geistlicher Begleiter mit mehr Möglichkeiten zur Seelsorge neu zu entwerfen. Dabei begegnet oft das Narrativ, dass der leitende Pfarrer doch „nur“ der Manager sei. Er selbst, der nicht Leitende, sei der „eigentliche Seelsorger“. Möglicherweise wird darüber das Gefühl einer „Zurücksetzung“ bearbeitet. Es wird jedoch zu zeigen sein, dass Seelsorge nicht nur in nicht leitender Funktion wahrgenommen werden kann, und dass auch die Art, wie Leitung durch einen leitenden Pfarrer wahrgenommen wird, in einem bestimmten Sinne Seelsorge sein kann. Es soll auch nicht verschwiegen werden, dass so mancher Priester, der nicht freiwillig eine Aufgabe als Kooperator übertragen bekommen hat, in eine Identitätskrise kommt. Die Seelsorgestudie hat diesen Zusammenhang zwischen Unzufriedenheit und der Gefahr von Krankheit bei nicht leitenden Priestern beschrieben, fokussieren sich doch das priesterliche Selbstverständnis und damit wahrscheinlich auch die Motive für die Entscheidung zum Priesterberuf wie auch die Ausbildungsstrukturen weithin immer noch auf das Rollenbild des (leitenden) Pfarrers. Ein positives Bild des kooperierenden Priesters muss sich womöglich erst noch entwickeln und festigen.
Doch auch andere Fragen stellen sich bei nicht leitenden Priestern im Zusammenspiel im Team. Empfinden sie sich tatsächlich als „Mitarbeiter“ des leitenden Pfarrers, werden hier organisationale Dienstvorgesetztenbefugnisse (wie Urlaubsanträge, Beurteilungsgespräche, Zielerreichung etc.) tatsächlich zwischen leitendem und nicht leitendem Priester wahrgenommen? Nimmt der mitarbeitende Priester die Rolle als „Kollege“ der nicht geweihten Mitglieder im Pastoralteam und aller Zuordnung zum Dienstvorgesetzten ernst, oder fühlt er sich als Geweihter doch auch immer ein bisschen als „Chef“?
Ein anderes Beispiel: In manchen Bistümern ist ein Priester (z. B. als Diözesanjugendseelsorger und Leiter einer Abteilung für Jugendpastoral) im Organigramm Mitarbeiter eines nicht geweihten Leiters/Leiterin der Hauptabteilung. Meine Wahrnehmung ist, dass in organisationaler Hinsicht die tatsächliche Gestaltung der dienstrechtlichen Zuordnung von nicht geweihtem Dienstvorgesetzten und geweihtem Mitarbeiter ein Tabu ist und oft nicht gestaltet wird, weil man dem Priester nicht zumuten will, einen nicht geweihten Vorgesetzten zu haben. Hier „beißen sich“ organisationale und theologische Hierarchievorstellungen. Hier sind Konfliktfelder angezeigt, aber gerade auch Lernerfahrungen möglich.
Hier wäre auch weiter zu fragen: Welche Aufgaben z. B. in der Leitung einer Diözese müssen wirklich einem Geweihten übertragen werden? So manches Bistum kann sich noch nicht recht vorstellen, dass bspw. die Leitung des Seelsorgeamtes von einem Nicht-Kleriker, gar einer Frau, wahrgenommen wird. Die Verwaltungsleitung wie jetzt im Erzbistum München und Freising (mit Prokura in Verantwortlichkeit, aber Zuordnung zum Generalvikar) ist ein weiterer Schritt. Ist es nicht auch möglich, dass ein Getaufter oder eine Getaufte als Personalverantwortliche/r im Auftrag des Bischofs pastorales Personal, darunter auch Geweihte, versetzt?
Jurisdiktionsvollmacht und sakramentale Leitung durch Geweihte
Es gibt Leitung mit Vollmacht (Jurisdiktion), die als Ganze mit einem Amt (z. B. dem Amt des Pfarrers, Offizials oder Generalvikars) nur einem Geweihten übergeben werden kann. Der Codex nennt dies potestas regiminis vel iurisdictionis (c. 129 CIC). Allerdings ergibt sich hier schon bei der (Voll‑)Macht der Leitung oder Jurisdiktion die Frage, ob Leitung immer bedeutet, sich eine „Letztverantwortung“ vorzubehalten. Natürlich gibt es Situationen, in denen ein bevollmächtigter Leiter/Leiterin eine Entscheidung treffen muss. Nur sind diese Situationen gar nicht so häufig, wie mancher gerne insinuiert. Leitungshandeln realisiert sich, wie gesehen, in vielen Aspekten und nur zu einem sehr geringen Teil in tatsächlichen „Entscheidungen“. Viele Entscheidungen werden durch Delegation von Aufgaben und (hoffentlich) der zugehörigen Entscheidungs‑„Kompetenz“ auf „untere“ organisationale Ebenen gegeben. Und es ist eine Engführung von Leitung, wenn der Betreffende denkt, er habe „alles“ zu entscheiden oder er habe ggf. ohne Berücksichtigung aller vorher gelaufenen Entscheidungsfindungsprozesse auf verschiedenen Ebenen „immer“ letztgültige Entscheidungskompetenz. Welche Verantwortung hat also ein leitender Pfarrer, der vom Bischof mit dem Amt des Pfarrers die umfassende Hirtensorge (plena cura pastoralis) für die ihm Anvertrauten erhalten hat? Ist diese oft eingeforderte „Letztverantwortung“ über alles nicht ein „Totschlagargument“, das eine tatsächliche Partizipation der Glieder des Gottesvolkes verhindert, eine Partizipation, die man für das Leben der Kirche und für die Entwicklung ihrer Sendung doch eigentlich realisieren möchte? Sollte man statt von einer „Letztverantwortung“ nicht lieber von einer „Grundverantwortung“ sprechen?
Damit kommen wir zu der wichtigen Frage, wie sich eigentlich die sakramental verstandene Leitung des Geweihten darstellt und versteht, auch wenn der Geweihte nicht mit Vollmacht eines Leitungsamtes ausgestattet ist. Die Leitung der Eucharistie ist dem geweihten Priester als Hirte des Gottesvolkes (pastor) vorbehalten. Angesichts der großen Pfarreien wird aber deutlich, dass hier Eucharistieleitung nicht unbedingt mit Pfarreileitung gekoppelt ist, sonst müsste dies ja immer der leitende Pfarrer vollziehen. Mit Gemeindeleitung (unterhalb der Pfarrei) ist der Eucharistievorsitz offenbar auch nicht verbunden, sonst müsste man die nicht geweihten Leiter/innen ordinieren. Im Übrigen nennt das Konzil als erste Aufgabe der Priester nicht die Messfeier, sondern die Verkündigung und Evangelisierung (LG 28; 25; 19; 24; PO 2; 4).
Ein weiteres theologisches „Problem“ ergibt sich darin, dass es seit dem II. Vatikanischen Konzil wieder Diakone gibt, die als Ständige Diakone (eben nicht nur in der Vorbereitung auf das Priesteramt), zum großen Teil verheiratet und mit Zivilberuf, obwohl nicht leitend dennoch geweihte Kleriker sind. Nach dem CIC werden Diakone nicht zur Leitung, sondern zum Dienst geweiht (als ob Priester nicht zum Dienst geweiht würden …). Die Leitung scheint also nicht unbedingt mit der Weihe und dem Klerikerstand, sondern mit einer bestimmten Weihestufe, eben des Priesters und des Bischofs verbunden zu sein. Es scheint also geboten, theologisch noch klarer zu beschreiben, was priesterlich-sakramentale Leitung (ordo) ausmacht.
Und um die Aporien noch weiter aufzuzeigen, wird hier noch angeführt, dass nach Lumen Gentium 10 die Getauften in der Taufe durch Wiedergeburt und Salbung mit dem Heiligen Geist zu einem geistigen Haus und zu einer königlichen Priesterschaft (sanctum sacerdotium) geweiht werden (consecrantur). Das gemeinsame Priestertum aller Getauften (sacerdotium commune fidelium) wird so zum Urgrund und Bestimmungsort für das Priestertum des Dienstes oder des hierarchischen Priestertums (sacerdotium ministeriale seu hierarchicum).
Das Konzil hat so den reformatorischen Gedanken der drei Ämter Christi (Priester, Prophet und König) auf die Getauften und Gesalbten durch ihre Eingliederung in Christus ausgeweitet (muneris Christi sacerdotalis, prophetici et regalis suo modo participes). Nach LG haben die Getauften also „auf ihre Weise“ (suo modo) Anteil an den tria munera Christi. Gleichzeitig hält das Konzil fest, dass zwischen allen Gläubigen eine wahre Gleichheit in Würde und Tätigkeit (dignitas und actio), je nach Stellung und Aufgabe (condicio und munus) besteht (vgl. c. 208 CIC). Es ist also theologisch noch weiter auszufalten und im praktischen kirchlichen Miteinander einzuüben, dass und wie das Priestertum des Dienstes und das gemeinsame Priestertum aller Getauften aufeinander bezogen, sich gegenseitig zugeordnet sind und sich so gegenseitig vervollständigen. Die Kompromissformel, dass sich das Priestertum des Dienstes nicht nur dem Grade, sondern auch dem Wesen nach (essentia et non tantum gradu differant) vom gemeinsamen Priestertum unterscheidet, ist dabei nicht wirklich hilfreich.
Die Herausforderung besteht also darin, theologisch und pastoral-praktisch zu realisieren, was es tatsächlich bedeutet, dass die Getauften auf ihre Weise Anteil an den Ämtern Christi haben, ihn also darstellen. Für das dreifache geweihte Amt ist einerseits die Zuordnung als Dienstamt zu der Wahrnehmung der Ämter Christi durch die Getauften zu bestimmen, aber ebenso die innere Ausfaltung und Differenzierung der drei Ämterstufen, von denen der Bischof die volle Jurisdiktion, der Priester eine davon abgeleitete und mit Amt übertragene und der Diakon keine Jurisdiktion „hat“. Derzeitige theologische Entwürfe versuchen, die Teilhabe der drei Weihestufen zu je einem der Ämter Christi zuzuordnen. Dabei geht es nicht um eine exklusive „Verkörperung“, sondern um eine Weise, wie einer der drei munera-Aspekte in einer bestimmten Weihestufe in besonderer Weise symbolisch verwirklicht und dargestellt wird, obwohl in der Weihe alle drei Ämter Christi „übertragen“ werden. So könnte der Bischof sakramental in besonderer Weise dem königlichen Leitungsamt Christi zugeordnet sein, der Priester dem Heiligungsamt. Dem Diakonat bliebe es, den prophetischen Aspekt zu verwirklichen. Dies alles unbeschadet einer Darstellung der Ämter durch die Gläubigen des Gottesvolkes, möglicherweise auf „andere Weise“.
In dieser Spur könnte man dann dazu kommen, sakramentale Leitung des Priesters, auch wenn er nicht durch ein Amt mit Jurisdiktionsgewalt versehen ist, als eine Darstellung (repraesentatio) der Beziehung zum Ursprung (Christus, das Evangelium, …) zu verstehen. Wie gesagt, dies tut der performativen Darstellung Christi durch das gesamte Gottesvolk (was auch sakramental zu verstehen ist) keinen Abbruch. Beide sakramentalen Seinsweisen können nicht gegeneinander ausgespielt werden, indem eine sich exklusiv setzt. Presbyteral-sakramentale Leitung eines organisational nicht leitenden Priesters kann also als eine nicht ausschließliche, sondern bezogen auf andere Funktionen des kirchlichen „Organismus“ symbolische Darstellungsweise verstanden werden, die nicht verbunden ist mit einer de facto Entscheidungs- und Leitungsgewalt, wie sie als Jurisdiktion (gesetzgebende, ausführende, richterliche Gewalt, vgl. c. 135 CIC) mit einem Kirchenamt vergeben wird.
Man könnte hier eher von „ekklesialer Leitung“ sprechen in dem Sinne, dass Kirche nicht aus sich heraus und nicht für sich selbst lebt. Auch Dienst an der Einheit und die Verbindung zu Orts- und Universalkirche könnten als Aspekte eines solch sakramental-symbolischen Leitungsdienstes genannt werden.
Das Priestertum des Dienstes (als Hierarchie, d. h. als Hinweis zum heiligen Ursprung) könnte so – nicht exklusiv in Abgrenzung zu den nicht geweihten Getauften und Gefirmten – sondern im Sinne einer „Garantie“ oder Sicherstellung verstanden werden, dass der Kirche die Zuwendung Gottes verbindlich und bleibend zugesagt ist, um ihren gleichermaßen sakramentalen Dienst in der Welt und für die Menschen zu vollziehen (Sendung).
Problematisch wird es jedoch – wie bereits angedeutet –, wenn eine solche geistlich-symbolische Selbst- und/oder Fremdzuschreibung zur Kompensation von personalen psychischen oder kommunikativen Defiziten (mangelndes Selbstwertgefühl, Resilienz, Selbstwirksamkeit) oder gar Pathologien benutzt wird. Die pädagogische und kirchenentwicklerische Herausforderung liegt sicher in der Gestaltung gemeinschaftlicher Lernprozesse, in denen alle Beteiligten (Priester, hauptberufliche Mitarbeiter/innen, Freiwillige) ihre erworbenen Habitus-Konzepte in Bezug auf Leitung kritisch reflektieren und modifizieren.
Ausblick
Die aktuellen pastoralen und strukturellen Transformationsprozesse zielen auf veränderte Gemeinschaftsformen des Christlichen und damit auf veränderte Leitungsmodelle. Die Pfarrei, neu verstanden, ermöglicht hoffentlich viele unterschiedliche Formen von Gemeinschaftsbildung, die unterschiedliche Leitungsformen bedingen. Vielfältige Sozialformen bringen vielfältige Formen von Leitung mit sich. Leitung wird (hoffentlich) zunehmend durch Getaufte statt allein durch Geweihte oder hauptberuflich Beschäftigte wahrgenommen werden. Die Leitung von Gemeinschaftsformen/Gemeinden als „Orte von Kirche“ ist dabei dogmatisch und kirchenrechtlich gar kein Problem. Gemeinden, Einrichtungen und frische Ausdrucksformen von Kirche als neue Orte müssen nicht durch Priester geleitet werden. Auch bei der Leitung der Pfarrei wird es Veränderungen geben. Die Rolle des Geweihten wird sich dabei (hoffentlich) im beschriebenen Sinne als Ermöglicher und Begleiter verändern. Ansätze solcher Leitungsinnovationen gibt es bereits. Kirchenrechtlich ist es bspw. möglich, Gemeinschaftsformen als Vereine von Gläubigen (c. 312 ff CIC) mit Leitung durch Laien (moderator c. 317 § 1 CIC) und einem priesterlichen cappellanus als kirchlichem Assistent (assistens ecclesiasticus) zu sehen. In kirchlichen Verbänden ist dies weithin schon Realität. Doch gibt es noch weitere Möglichkeiten der Innovation von Leitung. In Ordensgemeinschaften gibt es eine lange Tradition der Leitung durch Wahl, die Leitung ist in der Regel zeitlich begrenzt, um Wechsel und damit Wandel zu ermöglichen. Leitung wird in der Kirche zunehmend als geteilte Leitung wahrgenommen werden, wobei Aspekte der Leitung auf Personen verteilt werden können. Solche Teamleitung, wo sie gelingt, wird das Verständnis der Kirche als communio und das Aufeinander-Bezogen-Sein von verschiedenen Diensten, Ämtern, Begabungen und Aufgaben stärken und die Sendung der Kirche unterstreichen. Leitung in Teams durch Geweihte (in solidum), durch Geweihte mit hauptberuflichen und ehrenamtlichen Laien (wie derzeit im Bistum Trier für die Pfarreileitung angedacht), durch ehrenamtliche Laien (Gemeindeteams, Teams gemeinsamer Verantwortung) werden hoffentlich zukünftig Leitungshandeln verändern und damit Prozesse der Evangelisierung und Kirchenentwicklung unterstützen.
Leitung ist mehr als Organisieren von „Gemeinde“. Leitung hat Anteil an Pastoral- und Kirchenentwicklung. Beteiligende und ermöglichende Leitung eröffnet Räume für die Verantwortung des ganzen Gottesvolkes und trägt Verantwortung für die Orientierung kirchlichen Tuns am Auftrag von Kirche vor Ort, dem Charisma des Ortes und den Ressourcen. Dabei benötigt es vielfältige und bevollmächtigende Formen von Leitung. Maximale Partizipation bedeutet nicht, möglichst viele „Arbeitsbienen“ oder „Ameisen“ für das kirchliche „Programm“ zu gewinnen, oder Menschen zu gewinnen, einsam getroffene Entscheidungen mitzutragen, sondern unterschiedliche, angemessene und kontextuelle Gestalten zum Entdecken und Bezeugen der Dynamik des Evangeliums zu ermöglichen.