Inhalt

Bedeutung von Leitung in Prozessen der Evangelisierung und Kirchenentwicklung

In einem Ausbildungskurs für Wort-Gottesdienst-Leiter/innen wurde dem Autor und anderen Kursteilnehmern vor Jahren gesagt, sie möchten beim Leiten eines Wortgottesdienstes den „Priestersitz“ freihalten, um symbolisch deutlich zu machen, dass der nicht-eucharistische Gottesdienst gegenüber der Messfeier eine Notsituation darstelle und eigentlich der Priester da sein müsse. Heute weiß der Autor, dass die Sedes als liturgischer Ort aber eben nicht der Priestersitz, sondern der Vorstehersitz in der Leitung eines Gottes­dienstes ist. Die Sedes ist eben keine Bischofskathedra, die in einer Dom­kirche dem Bischof vorbehalten ist, auf die sich ein/e Leiter/in einer Liturgie nicht setzt, auch nicht ein Priester als Vorsteher der Eucharistiefeier. Und eine Wort-Gottes-Feier ist in sich auch keine Notsituation, sondern gefeierter Glaube des Gottesvolkes. In dieser kleinen Episode wird für den liturgischen Kontext etwas über bestimmte Verständnisse von Leitung und (Priester-)Amt in der Kirche deutlich.

Leitung zeigt sich derzeit als ein zentrales Thema der Pastoral, über das nachgedacht und mit dem experimentiert wird. Äußerer Anlass mögen die derzeitigen pastoralen Strukturveränderungen in vielen deutschen Bistümern sein. Größere Pfarreien sollen Räume für veränderte Ge­meinschaftsformen als „Orte von Kirche“ sein: herkömmliche „Gemein­den“, Personalgemeinden, aber auch Einrichtungen und Gemeinschaf­ten sollen in der „Pfarrei neuen Typs“, wie es bspw. im Bistum Limburg heißt, das christliche und kirchliche Leben auf neue Weise ermöglichen. Gleichzeitig verbinden sich damit Hoffnungen auf eine sendungsorien­tiertere Gestalt von Kirche. Sie soll den Auftrag im Blick auf die sozialen Räume und die Menschen, mit denen Christen leben und für die sie Kir­che sind, neu buchstabieren und realisieren. Es geht also nicht nur um Strukturveränderungen, die der Logik der Not geschuldet sind, sondern um eine Transformation kirchlicher Mentalitäten und der pastoralen Praxis des Gottesvolkes und seiner Glieder hin zu einer sendungsorien­tierten Kirche, es geht also um Kirchenentwicklung. Darin nehmen veränderte Formen von Leitung einen zentralen Platz ein.

Kontext des Themas Leitung in einer Kirche, die Kirchenentwicklung um der Evangelisierung willen in den Mittelpunkt stellen will

Getaufte sollen mehr Verantwortung für das Leben und die Sendung der Kirche übernehmen. Die Strukturveränderungen bringen die Unter­scheidung zwischen Leitung einer Pfarrei und Leitung von Gemeinden oder „Orten von Kirche“ mit sich. Oft wird dies nicht sauber auseinan­dergehalten. Manchmal ist nicht bewusst, dass auch die Seelsorgeein­heit oder der Pfarreienverbund/Pfarrverband in der Vergangenheit von einem Priester geleitet wurde, der allerdings nur für eine der verbunde­nen Pfarreien als kanonischer Pfarrer bestellt wurde, für die anderen war er Administrator. Sie hatten also strenggenommen auch keinen eigenen Pfarrer.

In vielen Bistümern werden seit einiger Zeit Formen von Gemeinde­leitungen durch Ehrenamtliche im Team ausprobiert, in einigen Bistü­mern sogar die Pfarreileitung. Nach c. 517 § 1 gibt es Erfahrungen in Teamleitung durch mehrere Priester (in solidum), bei der einer der kanonische Pfarrer ist. Nach c. 517 § 2 wird Leitung durch Beauftragte wahrgenommen, die nicht geweiht sein müssen, denen allerdings ein Priester zugeordnet ist, der „moderiert“, wie der CIC Leitung im Latei­nischen ausdrückt.

Bei der Fixierung auf Pfarrei- und Gemeindeleitung sind jedoch andere Organisationsformen wenig im Blick, die ebenfalls geleitet werden: Gruppen, Orden und (geistliche) Gemeinschaften, Personalgemeinden wie Hochschul- oder Krankenhausgemeinden, Einrichtungen. Die deut­schen Bischöfe stellen in „Gemeinsam Kirche sein“ (2015) eine vielfäl­tige Landschaft von Gemeinschafts- und Leitungsformen als Vision vor Augen („Leitung in der Kirche hat viele Gesichter“).

Neben „Modellen“ von Leitung muss das Thema aber auch tiefer ange­gangen werden durch die Befassung mit Vorstellungen oder „Konzep­ten“ von Leitung, also wie Leitung durch Einzelne und Teams im Span­nungsfeld von Person (persönliche Fähigkeiten und Leitungskompe­tenzen) und Rolle (institutionelle Position und Agieren in der Rolle im Agieren und Zusammenspiel mit anderer Personen und Rollen) tatsäch­lich wahrgenommen wird. So spielen beim Thema Leiten und Führen in der Kirche auch Aspekte aus verwandten Gebieten wie geistliche Beglei­tung, Moderation, Organisations-, Gemeinde- und Kirchenentwicklung eine Rolle.

Leitung in der Kirche erfordert schließlich eine theologische Befassung damit. Dabei ist ein besonderes Augenmerk auf die Rolle der Geweihten zu legen, da in einer traditionellen Lesart nur die Geweihten Leitung in der Kirche haben. Es ist noch nicht ausgemacht, wie sich sakramentale Leitung des Geweihten in einer sich als Hierarchie verstehenden Kirche versteht, darstellt und vollzieht, wenn der betreffende Geweihte nicht tatsächlich organisationale Leitung ausübt. Hier gilt es neu nachzuden­ken und zu differenzieren, nicht nur aus der Logik der Not des (quantita­tiven wie qualitativen) Priestermangels, sondern um der Partizipation möglichst Vieler willen, dem Teilen von Verantwortung der Getauften für das Leben und die Sendung der Kirche. Über Leitung in der Kirche muss also jen­seits der Fixierung auf das geweihte Amt (ordo) und jen­seits der Fixierung auf nur Gemeindeleitung oder Pfarreileitung weiter diskutiert und nachgedacht werden.

Organisationstheoretische Aspekte von Leitung als Führung

Unabhängig davon, ob Leitung in der Kirche durch Geweihte oder nicht Geweihte wahrgenommen wird, können Aspekte beschrieben werden, die leitendes Handeln in Organisationen grundsätzlich ausmachen und qualifizieren. Die Kirche als soziales Gefüge macht da keine Ausnahme. Problematisch wird es auf jeden Fall, wenn organisationale Führung im Rahmen einer institutionellen Position zwar religiös-ideologisch (als Leitung) zugesprochen und in Anspruch genommen wird, ohne dass jedoch tatsächlich die notwendigen personalen und organisations­bezogenen Kompetenzen auf Seiten der betreffenden Person vorhanden sind oder erlernt werden (wollen und/oder können). Anders und etwas platter gesagt: Wer vor der Priesterweihe nicht gut kommunizieren, (Arbeits‑)Beziehungen gestalten oder in einer guten Weise führen und organisieren kann, kann es nach der Weihe auch nicht automatisch und nicht von selbst.

Aspekte der Führungsforschung, die mit Erkenntnissen aus dem Raum der Betriebswirtschaft, Unternehmensforschung, Organisationsent­wicklung und Arbeitspsychologie gespeist werden, können zunächst einmal das organisationale Leiten befruchten. Dabei gibt es natürlich auch hier verschiedene Schulen mit divergierenden Vorstellungen, z. B. über die nicht unumstrittene Abgrenzung von Leadership und Manage­ment (gestalten und verwalten), das Verständnis von Kybernetik (Steu­ermannskunst), also von wem und auf welche Weise ein soziales Gebil­de „gesteuert“ werden kann, sowie bspw. der Zusammenhang von Leiten und Entscheiden.

Im Kontext der post- oder spätmodernen Gegenwart mit dem postulier­ten Ende der großen Erzählungen, dem Abschied von einem einheit­lichen Wahrheitsverständnis sowie der Ausdifferenzierung und zuneh­menden Komplexität kann schon mit Fug und Recht gefragt werden, wie denn überhaupt noch Steuerung von Organisationen angesichts der systemischen Vervielfältigung interner und externer Bedingungen möglich ist.

Hier ist nicht der Platz, diese Aspekte auszufalten. Wichtig ist mir an dieser Stelle festzuhalten: Führung kann sehr unterschiedlich beschrie­ben und beobachtet werden, als Eigenschaft oder erwerbbare Fähigkeit, als aufgaben- oder personenorientiertes Verhalten (Führungsstil), wenn man die Führungskraft im Zentrum sieht. Die Bedeutung des/der Ge­führten und die umgebende Situation (Kontingenz), in der Führung stattfindet, oder ein Austauschprozess, der in der Interaktion von Füh­rendem und Geführ­tem besteht, erweitern die Perspektive über die Person des/der Führenden hinaus. In neuerer Zeit wird viel über trans­formationale Führung (Führung als Veränderung zu einem Ziel) nach­gedacht. Der Blick auf das (oft selbststeuernde) Team weitet die zwei­fache Beziehung von Führungskraft und Geführter/m auf das Team hin. Systemische Führung als Prozess, Aspekte von Führung als Kulturprä­gung versuchen, Führungshandeln in der Komplexität und Ambiguität der Gegenwart zu beschreiben und zu gestalten.

Wie dem auch sei, Führen und Leiten stellt auch in der Kirche ange­sichts der handelnden Personen (Freiheitsdynamik, Arbeit und Engage­ment als Selbstgestaltung, Professionalität) und Prozesse im gesamtge­sellschaftlichen Kontext zunehmend eine Herausforderung dar, bei der es um Leitung im Sinne von Visionsarbeit, empowerment und Entwick­lung geht. Leitung auf verschiedenen Ebenen in der Kirche muss er­mächtigen, ermöglichen und maximale Partizipation fördern, indem den vielfältigen Kompetenzen (im Sinne von Begabungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, Wissen etc.) Raum zur Entfaltung gegeben wird. Lei­tende müssen zunehmend inspirieren, motivieren und Teamorientie­rung fördern. Sie sind gefordert, Verantwortung wahrzunehmen, indem sie zu beständiger Koordination, Kommunikation und Moderation bei­tragen. Sie brauchen die Bereitschaft, Verantwortung zu teilen und mit Macht sensibel umzugehen, Kritik anzunehmen und eine Kultur der Fehlertoleranz und des Feedback zu fördern.

Charisma und Institution bzw. Charisma und Amt

Es ist bereits angeklungen, dass Leitung sich auf das Ganze der Organi­sation bezieht und nur von dorther verständlich ist. Leitung in der Kir­che soll dem Zeugnis der Getauften, der Gläubigen (christifideles), der Glieder des Gottesvolkes, dienen. In diesem Zusammenhang wird nun verstärkt von Charismen- oder Gabenorientierung gesprochen. Die deutschen Bischöfe haben in „Gemeinsam Kirche sein“ diesen Zusam­menhang von Charismenorientierung und Leitung in der Kirche deut­lich hervorgehoben. Das Verhältnis von Leitenden und Geleiteten ist – wie wir gesehen haben – schon in säkularen Institutionen ein spannen­des und spannungsreiches Verhältnis, erst recht in der katholischen Kirche. Seit dem II. Vatikanischen Konzil reibt sich die Volk-Gottes-Theologie, zu der die Vorstellung von Charismen als von Gott den Men­schen gegebenen Gaben gehört, um Kirche – auch in neuen Formen von Partizipation – mitzugestalten, mit „traditionellen“ Vorstellungen von „Letztverantwortung“ der Geweihten in der hierarchischen Verfasstheit der römisch-katholischen Kirche. Der Versuch, diese Spannung produk­tiv zu lösen, ohne das charismatische und das hierarchische aufzuge­ben, ist auch in „Gemeinsam Kirche sein“ spürbar.

Es ist allerdings schon ein Unterschied, ob man das Amt einerseits als den Charismen als Geistesgaben der Gläubigen gegenüber und als „Kontrollinstanz“ vorgeordnet versteht, in dem Sinne, dass dem ge­weihten Amt allein die Unterscheidung und Entscheidung darüber vorbehalten bleibt, welche Charismen denn kirchlich seien. Oder ob andererseits das Amt seinerseits eine Geistesgabe unter anderen ist, was nicht auf Exklusivität und Vorordnung, sondern auf einen gemein­samen und aufeinander bezogenen Prozess des Verstehens und Unter­scheidens der Geister (discretio spirituum) hinausliefe. In diesem Falle wäre das Amt eingebettet in einen gemeinsamen Entdeckungs- und Verstehensprozess, in dem das Gottesvolk immer mehr zu seiner Beru­fung und Sendung findet. Auf der weltkirchlichen Ebene ist diese Span­nung ebenfalls präsent. So versucht das Papier der Glaubenskongrega­tionIuvenescit ecclesia vom Mai 2016 „über die Beziehung zwischen hierarchischen und charismatischen Gaben im Leben und in der Sen­dung der Kirche“ Charismen zwar wertzuschätzen, zu ihnen zu ermu­tigen und sie zu vervielfältigen, dem Amt jedoch die Kontrollinstanz vorzubehalten. Soziologisch geht es hierbei natürlich um die Frage nach Macht und Entscheidungs- und Gestaltungskompetenz in der Kirche und wie damit umgegangen wird. Theologisch wird sicher noch einiges zu leisten sein, um Leitung theologisch als tatsächlichen (nicht nur vor­geschobenen) Dienst am Weg des Gottesvolkes und seiner Sendung, dem Zeugnis vom wachsenden Gottesreich, zu qualifizieren und von dorther Kriterien für leitendes Handeln in der Kirche zu entwickeln. Neue Leitungsmodelle in der Kirche, egal auf welcher Ebene, und egal, ob es Getaufte oder Geweihte, Beauftragte oder Berufene sind, werden sich an diesen theologischen und soziologischen Aspekten bewähren müssen und die theologische Reflexion und Begründung hoffentlich ihrerseits voranbringen. Problematisch ist es sicherlich, ein christolo­gisch fundiertes Amtsverständnis und ein pneumatologisches Charis­menverständnis einander einseitig entgegenzusetzen und gegenein­ander auszuspielen. Sowohl in den Gaben als auch im Ordo wirken gleichermaßen Christus und die göttliche Geistkraft.

Fakt ist, dass die Kirche in Deutschland auf Dauer immer mehr eine Kirche der Ehrenamtlichkeit sein wird. Das bedeutet, dass Getaufte viel stärker als bisher in die Verantwortung für den Glauben, für das Leben der Kirche am Ort wie auch für die Gestaltung der kirchlichen Sendung gerufen sind und sie übernehmen „müssen“. Dies scheint derzeit pro­blematisch, da die Zentrierung auf den Priester als Dreh- und Angel­punkt kirchlichen Geschehens, von dem alles erwartet wird oder von dem man sich alles erlauben lassen muss, immer noch sehr wirkmäch­tig ist. Oft genug verstehen Priester und Hauptberufliche und oft genug die Gläubigen selbst die „Ehrenamtlichen“ immer noch als Helfer des Priesters oder der Hauptamtlichen in ihrer „professionellen“ Rolle und die „Gläubigen“ als Adressaten, Empfänger oder Objekte pastoralen oder sakramentalen Handelns, das Hauptberufliche oder Geweihte an ihnen „vollziehen“. Derzeitige Erfahrungen mit „Ehrenamtsförderung“ in verschiedenen deutschen Diözesen zeigen, dass der Weg hin zu einem Bewusstsein, dass die Getauften tatsächlich ihre Verantwortung und Sendung (nicht primär für das „Funktionieren“ der herkömmlichen internen Gemeindeaktivitäten, sondern für die Wahrnehmung und Entwicklung von Kirche an konkreten Orten und ihre Sendung dort) wahrnehmen und auch Freiräume und Begleitung dazu erhalten, noch sehr lang und steinig ist.

Veränderte pastorale Strukturen und Leitung

Alle diese Aspekte von Leitung stellen sich in den veränderten pasto­ralen Strukturen nicht nur als möglich, sondern als unabdingbar und notwendig dar. Die veränderten pastoralen Strukturen (lokale Gemein­schaftsformen als „Orte von Kirche“ in großen Pfarreien) sind sozusagen der Experimentierraum, in dem ein neues Miteinander von Charismen und leitendem Handeln nicht nur ausprobiert werden kann, sondern muss. So wie bisher wird es wohl einfach nicht mehr weitergehen. Dabei ist nicht ausgemacht, ob die erforderlichen Lern- und Veränderungspro­zesse tatsächlich stattfinden, zu prägend scheinen derzeit bestimmte Bilder von und Erwartungen an „Gemeinde“ und die handelnden Perso­nen in ihren Rollen zu sein.

Für Priester ergibt sich eine Unterscheidung in leitende Pfarrer und nicht leitende Priester, die im Pastoralteam mitarbeiten. Die leitenden Pfarrer sollen in der Verwaltung zukünftig durch hauptberuflich instal­lierte Geschäftsführungen entlastet werden. Manche Pfarrer mögen dies als Befreiung erleben. Andere erleben dies als Leerstelle und haben Schwierigkeiten, ihre Lei­tung anders auszufüllen, weil von ihnen Lei­tung eben als Verwaltung wahrgenommen wurde. So mancher leitende Pfarrer lässt sich womöglich nicht gerne verwaltungsmäßig entlasten. Zunehmend ergibt sich also die Frage, wie Leitung jenseits von Ent­scheidungen über Ressourcen bei Immobilien, Finanzen und Personal und aussehen kann. Wie kann geistliche Leitung wahrgenommen wer­den? Ein Mitarbeiter eines deutschen Bistums sagte mir: „Man darf den Priestern die Entscheidungskompetenz auch nicht ganz wegnehmen, dann fallen sie in eine Identitätskrise.“

Für die leitenden Pfarrer ergibt sich die Herausforderung, Leitung tat­sächlich auszufüllen und diesbezüglich nicht vorhandene und nicht erwerbbare Kompetenz(en) nicht mit einer priesterlichen „Amtsauto­rität“ zu verdecken oder ersetzen zu wollen. Leitung in diesem organi­sationalen Sinne kann nicht einfach nur formal zugeschrieben werden, sondern muss auch wahrgenommen und gestaltet werden: Konflikte bearbeiten, Gespräche mit Mitarbeiter/innen zu deren Entwicklung führen, Verantwortung für Visionsarbeit und die Entwicklung der Organisation übernehmen, systemisches Wissen und Kompetenz erwerben, geistliche Unterscheidungs- und Entscheidungsprozesse fördern. Wer das von seiner Person her nicht kann und sich nicht entwickeln kann oder will, der sollte auch nicht mit einer leitenden Aufgabe betraut werden. Hier sehe ich die Bistumsleitungen angesichts großer Pfarreien in einer wirklich großen Verantwortung und Verpflich­tung.

Angesichts nicht leitender Priester ergeben sich andere Fragen: So mancher Priester erlebt gerade seine nicht leitende Rolle als einen Mehrwert, sich selbst als Priester und geistlicher Begleiter mit mehr Möglichkeiten zur Seelsorge neu zu entwerfen. Dabei begegnet oft das Narrativ, dass der leitende Pfarrer doch „nur“ der Manager sei. Er selbst, der nicht Leitende, sei der „eigentliche Seelsorger“. Möglicherweise wird darüber das Gefühl einer „Zurücksetzung“ bearbeitet. Es wird jedoch zu zeigen sein, dass Seelsorge nicht nur in nicht leitender Funk­tion wahrgenommen werden kann, und dass auch die Art, wie Leitung durch einen leitenden Pfarrer wahrgenommen wird, in einem bestimm­ten Sinne Seelsorge sein kann. Es soll auch nicht verschwiegen werden, dass so mancher Priester, der nicht freiwillig eine Aufgabe als Koopera­tor übertragen bekommen hat, in eine Identitätskrise kommt. Die Seel­sorgestudie hat diesen Zusammenhang zwischen Unzufriedenheit und der Gefahr von Krankheit bei nicht leitenden Priestern beschrieben, fokussieren sich doch das priesterliche Selbstverständnis und damit wahrscheinlich auch die Motive für die Entscheidung zum Priesterberuf wie auch die Ausbildungsstrukturen weithin immer noch auf das Rol­len­bild des (leitenden) Pfarrers. Ein positives Bild des kooperierenden Priesters muss sich womöglich erst noch entwickeln und festigen.

Doch auch andere Fragen stellen sich bei nicht leitenden Priestern im Zusammenspiel im Team. Empfinden sie sich tatsächlich als „Mitar­beiter“ des leitenden Pfarrers, werden hier organisationale Dienstvor­gesetztenbefugnisse (wie Urlaubsanträge, Beurteilungsgespräche, Ziel­erreichung etc.) tatsächlich zwischen leitendem und nicht leitendem Priester wahrgenommen? Nimmt der mitarbeitende Priester die Rolle als „Kollege“ der nicht geweihten Mitglieder im Pastoralteam und aller Zuordnung zum Dienstvorgesetzten ernst, oder fühlt er sich als Geweih­ter doch auch immer ein bisschen als „Chef“?

Ein anderes Beispiel: In manchen Bistümern ist ein Priester (z. B. als Diözesanjugendseelsorger und Leiter einer Abteilung für Jugendpasto­ral) im Organigramm Mitarbeiter eines nicht geweihten Leiters/Leiterin der Hauptabteilung. Meine Wahrnehmung ist, dass in organisationaler Hinsicht die tatsächliche Gestaltung der dienstrechtlichen Zuordnung von nicht geweihtem Dienstvorgesetzten und geweihtem Mitarbeiter ein Tabu ist und oft nicht gestaltet wird, weil man dem Priester nicht zumuten will, einen nicht geweihten Vorgesetzten zu haben. Hier „bei­ßen sich“ organisationale und theologische Hierarchievorstellungen. Hier sind Konfliktfelder angezeigt, aber gerade auch Lernerfahrungen möglich.

Hier wäre auch weiter zu fragen: Welche Aufgaben z. B. in der Leitung einer Diözese müssen wirklich einem Geweihten übertragen werden? So manches Bistum kann sich noch nicht recht vorstellen, dass bspw. die Leitung des Seelsorgeamtes von einem Nicht-Kleriker, gar einer Frau, wahrgenommen wird. Die Verwaltungsleitung wie jetzt im Erzbistum München und Freising (mit Prokura in Verantwortlichkeit, aber Zuordnung zum Generalvikar) ist ein weiterer Schritt. Ist es nicht auch möglich, dass ein Getaufter oder eine Getaufte als Personalverant­wortliche/r im Auftrag des Bischofs pastorales Personal, darunter auch Geweihte, versetzt?

Jurisdiktionsvollmacht und sakramentale Leitung durch Geweihte

Es gibt Leitung mit Vollmacht (Jurisdiktion), die als Ganze mit einem Amt (z. B. dem Amt des Pfarrers, Offizials oder Generalvikars) nur einem Geweihten übergeben werden kann. Der Codex nennt dies potestas regiminis vel iurisdictionis (c. 129 CIC). Allerdings ergibt sich hier schon bei der (Voll‑)Macht der Leitung oder Jurisdiktion die Frage, ob Leitung immer bedeutet, sich eine „Letztverantwortung“ vorzube­halten. Natürlich gibt es Situationen, in denen ein bevollmächtigter Leiter/Leiterin eine Entscheidung treffen muss. Nur sind diese Situa­tionen gar nicht so häufig, wie mancher gerne insinuiert. Leitungshan­deln realisiert sich, wie gesehen, in vielen Aspekten und nur zu einem sehr geringen Teil in tatsächlichen „Entscheidungen“. Viele Entschei­dungen werden durch Delegation von Aufgaben und (hoffentlich) der zugehörigen Entscheidungs‑„Kompetenz“ auf „untere“ organisationale Ebenen gegeben. Und es ist eine Engführung von Leitung, wenn der Betreffende denkt, er habe „alles“ zu entscheiden oder er habe ggf. ohne Berücksichtigung aller vorher gelaufenen Entscheidungsfindungspro­zesse auf verschiedenen Ebenen „immer“ letztgültige Entscheidungs­kompetenz. Welche Verantwortung hat also ein leitender Pfarrer, der vom Bischof mit dem Amt des Pfarrers die umfassende Hirtensorge (plena cura pastoralis) für die ihm Anvertrauten erhalten hat? Ist diese oft eingeforderte „Letztverantwortung“ über alles nicht ein „Totschlag­argument“, das eine tatsächliche Partizipation der Glieder des Gottes­volkes verhindert, eine Partizipation, die man für das Leben der Kirche und für die Entwicklung ihrer Sendung doch eigentlich realisieren möchte? Sollte man statt von einer „Letztverantwortung“ nicht lieber von einer „Grundverantwortung“ sprechen?

Damit kommen wir zu der wichtigen Frage, wie sich eigentlich die sa­kramental verstandene Leitung des Geweihten darstellt und versteht, auch wenn der Geweihte nicht mit Vollmacht eines Leitungsamtes ausgestattet ist. Die Leitung der Eucharistie ist dem geweihten Priester als Hirte des Gottesvolkes (pastor) vorbehalten. Angesichts der großen Pfarreien wird aber deutlich, dass hier Eucharistieleitung nicht unbe­dingt mit Pfarreileitung gekoppelt ist, sonst müsste dies ja immer der leitende Pfarrer vollziehen. Mit Gemeindeleitung (unterhalb der Pfar­rei) ist der Eucharistievorsitz offenbar auch nicht verbunden, sonst müsste man die nicht geweihten Leiter/innen ordinieren. Im Übrigen nennt das Konzil als erste Aufgabe der Priester nicht die Messfeier, sondern die Verkündigung und Evangelisierung (LG 28; 25; 19; 24; PO 2; 4).

Ein weiteres theologisches „Problem“ ergibt sich darin, dass es seit dem II. Vatikanischen Konzil wieder Diakone gibt, die als Ständige Diakone (eben nicht nur in der Vorbereitung auf das Priesteramt), zum großen Teil verheiratet und mit Zivilberuf, obwohl nicht leitend dennoch ge­weihte Kleriker sind. Nach dem CIC werden Diakone nicht zur Leitung, sondern zum Dienst geweiht (als ob Priester nicht zum Dienst geweiht würden …). Die Leitung scheint also nicht unbedingt mit der Weihe und dem Klerikerstand, sondern mit einer bestimmten Weihestufe, eben des Priesters und des Bischofs verbunden zu sein. Es scheint also geboten, theologisch noch klarer zu beschreiben, was priesterlich-sakramentale Leitung (ordo) ausmacht.

Und um die Aporien noch weiter aufzuzeigen, wird hier noch angeführt, dass nach Lumen Gentium 10 die Getauften in der Taufe durch Wiederge­burt und Salbung mit dem Heiligen Geist zu einem geistigen Haus und zu einer königlichen Priesterschaft (sanctum sacerdotium) geweiht wer­den (consecrantur). Das gemeinsame Priestertum aller Getauften (sacer­dotium commune fidelium) wird so zum Urgrund und Bestimmungsort für das Priestertum des Dienstes oder des hierarchischen Priestertums (sacerdotium ministeriale seu hierarchicum).

Das Konzil hat so den reformatorischen Gedanken der drei Ämter Chris­ti (Priester, Prophet und König) auf die Getauften und Gesalbten durch ihre Eingliederung in Christus ausgeweitet (muneris Christi sacerdotalis, prophetici et regalis suo modo participes). Nach LG haben die Getauften also „auf ihre Weise“ (suo modo) Anteil an den tria munera Christi. Gleichzeitig hält das Konzil fest, dass zwischen allen Gläubigen eine wahre Gleichheit in Würde und Tätigkeit (dignitas und actio), je nach Stellung und Aufgabe (condicio und munus) besteht (vgl. c. 208 CIC). Es ist also theologisch noch weiter auszufalten und im praktischen kirch­lichen Miteinander einzuüben, dass und wie das Priestertum des Diens­tes und das gemeinsame Priestertum aller Getauften aufeinander bezo­gen, sich gegenseitig zugeordnet sind und sich so gegenseitig vervoll­ständigen. Die Kompromissformel, dass sich das Priestertum des Diens­tes nicht nur dem Grade, sondern auch dem Wesen nach (essentia et non tantum gradu differant) vom gemeinsamen Priestertum unterscheidet, ist dabei nicht wirklich hilfreich.

Die Herausforderung besteht also darin, theologisch und pastoral-prak­tisch zu realisieren, was es tatsächlich bedeutet, dass die Getauften auf ihre Weise Anteil an den Ämtern Christi haben, ihn also darstellen. Für das dreifache geweihte Amt ist einerseits die Zuordnung als Dienstamt zu der Wahrnehmung der Ämter Christi durch die Getauften zu bestim­men, aber ebenso die innere Ausfaltung und Differenzierung der drei Ämterstufen, von denen der Bischof die volle Jurisdiktion, der Priester eine davon abgeleitete und mit Amt übertragene und der Diakon keine Jurisdiktion „hat“. Derzeitige theologische Entwürfe versuchen, die Teilhabe der drei Weihestufen zu je einem der Ämter Christi zuzuord­nen. Dabei geht es nicht um eine exklusive „Verkörperung“, sondern um eine Weise, wie einer der drei munera-Aspekte in einer bestimmten Wei­hestufe in besonderer Weise symbolisch verwirklicht und dargestellt wird, obwohl in der Weihe alle drei Ämter Christi „übertragen“ werden. So könnte der Bischof sakramental in besonderer Weise dem königli­chen Leitungsamt Christi zugeordnet sein, der Priester dem Heiligungs­amt. Dem Diakonat bliebe es, den prophetischen Aspekt zu verwirk­lichen. Dies alles unbeschadet einer Darstellung der Ämter durch die Gläubigen des Gottesvolkes, möglicherweise auf „andere Weise“.

In dieser Spur könnte man dann dazu kommen, sakramentale Leitung des Priesters, auch wenn er nicht durch ein Amt mit Jurisdiktionsgewalt versehen ist, als eine Darstellung (repraesentatio) der Beziehung zum Ursprung (Christus, das Evangelium, …) zu verstehen. Wie gesagt, dies tut der performativen Darstellung Christi durch das gesamte Gottesvolk (was auch sakramental zu verstehen ist) keinen Abbruch. Beide sakra­mentalen Seinsweisen können nicht gegeneinander ausgespielt werden, indem eine sich exklusiv setzt. Presbyteral-sakramentale Leitung eines organisational nicht leitenden Priesters kann also als eine nicht aus­schließliche, sondern bezogen auf andere Funktionen des kirchlichen „Organismus“ symbolische Darstellungsweise verstanden werden, die nicht verbunden ist mit einer de facto Entscheidungs- und Leitungs­gewalt, wie sie als Jurisdiktion (gesetzgebende, ausführende, richter­liche Gewalt, vgl. c. 135 CIC) mit einem Kirchenamt vergeben wird.

Man könnte hier eher von „ekklesialer Leitung“ sprechen in dem Sinne, dass Kirche nicht aus sich heraus und nicht für sich selbst lebt. Auch Dienst an der Einheit und die Verbindung zu Orts- und Universalkirche könnten als Aspekte eines solch sakramental-symbo­lischen Leitungsdienstes genannt werden.

Das Priestertum des Dienstes (als Hierarchie, d. h. als Hinweis zum heiligen Ursprung) könnte so – nicht exklusiv in Abgrenzung zu den nicht geweihten Getauften und Gefirmten – sondern im Sinne einer „Garantie“ oder Sicherstellung verstanden werden, dass der Kirche die Zuwendung Gottes verbindlich und bleibend zugesagt ist, um ihren gleichermaßen sakramentalen Dienst in der Welt und für die Menschen zu vollziehen (Sendung).

Problematisch wird es jedoch – wie bereits angedeutet –, wenn eine sol­che geistlich-symbolische Selbst- und/oder Fremdzuschreibung zur Kompensation von personalen psychischen oder kommunikativen Defi­ziten (mangelndes Selbstwertgefühl, Resilienz, Selbstwirksamkeit) oder gar Pathologien benutzt wird. Die pädagogische und kirchenentwickle­rische Herausforderung liegt sicher in der Gestaltung gemeinschaft­licher Lernprozesse, in denen alle Beteiligten (Priester, hauptberufliche Mitarbeiter/innen, Freiwillige) ihre erworbenen Habitus-Konzepte in Bezug auf Leitung kritisch reflektieren und modifizieren.

Ausblick

Die aktuellen pastoralen und strukturellen Transformationsprozesse zielen auf veränderte Gemeinschaftsformen des Christlichen und damit auf veränderte Leitungsmodelle. Die Pfarrei, neu verstanden, ermög­licht hoffentlich viele unterschiedliche Formen von Gemeinschaftsbil­dung, die unterschiedliche Leitungsformen bedingen. Vielfältige Sozial­formen bringen vielfältige Formen von Leitung mit sich. Leitung wird (hoffentlich) zunehmend durch Getaufte statt allein durch Geweihte oder hauptberuflich Beschäftigte wahrgenommen werden. Die Leitung von Gemeinschaftsformen/Gemeinden als „Orte von Kirche“ ist dabei dogmatisch und kirchenrechtlich gar kein Problem. Gemeinden, Ein­richtungen und frische Ausdrucksformen von Kirche als neue Orte müs­sen nicht durch Priester geleitet werden. Auch bei der Leitung der Pfar­rei wird es Veränderungen geben. Die Rolle des Geweihten wird sich dabei (hoffentlich) im beschriebenen Sinne als Ermöglicher und Beglei­ter verändern. Ansätze solcher Leitungsinnovationen gibt es bereits. Kirchenrechtlich ist es bspw. möglich, Gemeinschaftsformen als Ver­eine von Gläubigen (c. 312 ff CIC) mit Leitung durch Laien (moderator c. 317 § 1 CIC) und einem priesterlichen cappellanus als kirchlichem Assistent (assistens ecclesiasticus) zu sehen. In kirchlichen Verbänden ist dies weithin schon Realität. Doch gibt es noch weitere Möglichkeiten der Innovation von Leitung. In Ordensgemeinschaften gibt es eine lange Tradition der Leitung durch Wahl, die Leitung ist in der Regel zeitlich begrenzt, um Wechsel und damit Wandel zu ermöglichen. Leitung wird in der Kirche zunehmend als geteilte Leitung wahrgenommen werden, wobei Aspekte der Leitung auf Personen verteilt werden können. Solche Teamleitung, wo sie gelingt, wird das Verständnis der Kirche als commu­nio und das Aufeinander-Bezogen-Sein von verschiedenen Diensten, Ämtern, Begabungen und Aufgaben stärken und die Sendung der Kirche unterstreichen. Leitung in Teams durch Geweihte (in solidum), durch Geweihte mit hauptberuflichen und ehrenamtlichen Laien (wie derzeit im Bistum Trier für die Pfarreileitung angedacht), durch ehrenamtliche Laien (Gemeindeteams, Teams gemeinsamer Verantwortung) werden hoffentlich zukünftig Leitungshandeln verändern und damit Prozesse der Evangelisierung und Kirchenentwicklung unterstützen.

Leitung ist mehr als Organisieren von „Gemeinde“. Leitung hat Anteil an Pastoral- und Kirchenentwicklung. Beteiligende und ermöglichende Leitung eröffnet Räume für die Verantwortung des ganzen Gottesvolkes und trägt Verantwortung für die Orientierung kirchlichen Tuns am Auf­trag von Kirche vor Ort, dem Charisma des Ortes und den Ressourcen. Dabei benötigt es vielfältige und bevollmächtigende Formen von Lei­tung. Maximale Partizipation bedeutet nicht, möglichst viele „Arbeits­bienen“ oder „Ameisen“ für das kirchliche „Programm“ zu gewinnen, oder Menschen zu gewinnen, einsam getroffene Entscheidungen mit­zutragen, sondern unterschiedliche, angemessene und kontextuelle Gestalten zum Entdecken und Bezeugen der Dynamik des Evangeliums zu ermöglichen.