Leitung als Servant Leadership
Gemeindeleitung (nicht nur) für eine neue Generation
„Kann ich mir dein Ladekabel ausleihen?“ Manchmal ergeben sich die besten Gespräche, wenn man nicht mit ihnen rechnet. Es ist Samstagabend. Ich sitze müde ans Fenster gelehnt in einem ICE, als in Berlin dieser Endzwanziger zusteigt. Unser Gespräch beginnt mit einem leeren Smartphone und reist dann weiter durch sein Leben.
Um drei Uhr morgens ist er aufgestanden, um auf einem Coaching-Seminar zu sein. Warum sich so etwas antun? Er will an sich arbeiten, sich entwickeln. Mindestens einmal im Monat sitzt er irgendwo in Europa auf einer Veranstaltung, die etwas mit Selbstentwicklung zu tun hat. Mit einem stolzen Lächeln zieht er Michael Hyatts Buch „Your best year ever“ aus dem Rucksack. Missionarisch erzählt er, wie wichtig es ist, sich persönliche Ziele zu setzen. Bloß nicht stehen bleiben!
Nein. Ich glaube nicht, dass alle Vertreter der Generationen Y und Z so drauf sind, wie dieser Self-Developement-Hipster. Aber Untersuchungen belegen, dass sich bei den Heranwachsenden etwas verändert hat. Etwas, wofür mein Abteilgespräch typisch war. Die jüngeren Kohorten sind im Durchschnitt weniger interessiert an klassischen „9 to 5“ Bürojobs. Das, wozu sie morgens aufstehen, muss einen Unterschied machen. Das Leben ist ein Projekt. Sie fordern Feedback, sind selbstbewusster und reagieren skeptischer auf Autorität als noch ihre Elterngeneration.
All das ist nicht neu. Es sind gesellschaftliche Trends, die sich seit vielen Jahren vollziehen. Aber all das macht eben auch vor den Kirchtüren nicht halt. Das Ehrenamt in unseren Gemeinden verändert sich. Früher waren es vor allem „altruistische Motive“, die Menschen in der Gemeinde mit anpacken ließen. Für den Herrn opferte man sich gern auf. Heute hat Mitarbeit in der Gemeinde viel mit Selbstverwirklichung zu tun. Es geht darum, „seinen Platz zu finden“. Man will nicht nur eine Ressource in der Gemeindeaufbau-Phantasie eines Pastors sein.
Kompetente Gemeindeleitung stellt sich auf diese Trends ein. Das ist einer der Gründe, warum ich das Führungsmodell Servant Leadership für den kirchlichen Kontext besonders geeignet finde. Es passt zu meinem Hipster aus dem ICE.
Die unbiblischen Ursprünge von Servant Leadership
Die Verbindung von Dienst und Leitung mag manch einem Gemeindeveteranen wie ein alter Hut vorkommen. „Wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein.“ (Mk 10,43). Das Jesus–Wort klingt vertraut. Dienende Leitung scheint ein bekanntes biblisches Konzept zu sein.
Doch das ist es nicht. Servant Leadership wurde von Robert K. Greenleaf entwickelt. Greenleafs Ausgangspunkt war dabei nicht das Neue Testament, sondern Hermann Hesses „Die Morgenlandfahrt“. Darin erzählt Hesse die Geschichte einer Reisegruppe auf einer mystischen Expedition. Die Reisegruppe wird von dem Diener Leo begleitet. Doch irgendwann verschwindet Leo und die Gruppe zerstreitet sich und zerfällt. Leo war der Diener, der die Gruppe zusammengehalten hat. Er war der eigentliche Leiter.
Für Greenleaf dient Leo als Inspiration für gelingende Führung. Führen heißt zunächst einmal Dienen. Es geht darum, anderen dabei zu helfen, zu wachsen und erfolgreich zu sein. Gelingende Führung benutzt Menschen nicht für die eigenen Ziele, sondern hilft ihnen, stark zu werden und sich zu entfalten. Greenleaf bringt es so auf den Punkt: Bei Servant Leadership gehe es um einen „turn from people using to people building“.
Besonders seit der Finanzkrise 2008 und dem anhaltenden Versagen diverser Eliten steht Servant Leadership als Führungsmodell hoch im Kurs. Studien zeigen, dass Organisationen, die nach den Grundsätzen von Servant Leadership geführt werden, vor allem langfristig erfolgreich sind. Wer nachhaltig in die Entwicklung von Mitarbeitern investiert, der sieht diese auf lange Sicht leistungsfähiger arbeiten. Das macht schlussendlich auch eine Organisation wie eine Kirchengemeinde erfolgreicher.
Wie sieht Servant Leadership konkret aus?
Wie kann es nun konkret aussehen, eine Gemeinde nach den Grundsätzen von Servant Leadership zu leiten?
- Servant Leadership ist kein Set von Tools, sondern eine Haltung.
Es geht weniger um die richtige Methode, sondern um innere Bilder. Sehe ich mich mit den Worten von Jim Collins als das „Genie mit 1000 Helfern“, dem andere zuarbeiten oder assistieren dürfen? Oder ist es mein Job, die mir anvertrauten Menschen groß zu machen? Ich glaube fest, dass man gute Gemeindeleitung an einer starken Gemeinde erkennt. Im Fußballbild: Ich bin der Trainer und die Mitarbeiter sind die Star-Stürmer, die nach dem Traumschuss bejubelt werden. - Servant Leadership denkt mehr von den Gaben als von Aufgaben her.
Stellen wir uns eine beliebige Gemeinde vor. Seit 40 Jahren hat ein treuer Kreis inzwischen betagter Damen den Schaukasten gestaltet. Liebevoll, gründlich. Doch das hat nun sein Ende. Nun zieht der Pastor durch die Gemeinde mit der Frage: „Wer kann sich um den Schaukasten kümmern?“ Nach viel Zureden lässt sich Frau Meier breitschlagen. Servant Leadership hingegen beginnt nicht mit dem Schaukasten, sondern mit Frau Meier. Wo sind ihre Gaben und wie können diese in der Gemeinde zur Entfaltung kommen? Dieser Grundsatz hat zweifellos unangenehme Konsequenzen. Denn womöglich gibt es in besagter Gemeinde dann keinen Schaukasten mehr. Vielleicht finden sogar andere, größere Dinge ein Ende. Servant Leadership verändert eine Gemeinde und das selten schmerzfrei. - Servant Leadership gewinnt konkret Gestalt in kompetenter Begleitung von Mitarbeitenden.
Dazu gehört, dass Menschen mit Potential eine herausfordernde Aufgabe nicht von heute auf morgen übertragen wird. Womöglich, weil der Pastor sie dringend selbst los sein möchte. Damit ist niemandem gedient. Delegation ist eine Kunst, ein mehrschrittiger Prozess und dienende Leiter beherrschen ihn. Hinzu kommt ein wechselseitiges und qualifiziertes Feedback. Ort dafür sind regelmäßige Mitarbeitergespräche. Solche Gespräche sind ein Ausdruck von Wertschätzung. „Du bist wertvoll. Für dich nehme ich mir gerne Zeit.“ Ich träume von Gemeinden, wo das für alle Mitarbeiter – ob haupt- oder ehrenamtlich – auf der Tagesordnung steht. - Servant Leadership kann direktiv sein, wenn es Mitarbeiter oder Aufgabe erfordern.
Dienende Leitung ist nicht kuschelig, liest den Mitarbeitenden jeden Wunsch von den Lippen ab und verzichtet auf Anweisungen. Es geht um die Frage: Was braucht der Mitarbeiter jetzt? In manchen Entwicklungsphasen brauchen Menschen vermehrt direktive Führung. Wer frisch eingearbeitet wird, dem helfen klare Vorgaben bei der ersten Orientierung. Manche Mitarbeiter sind auch charakterlich so gestrickt, dass ihnen detaillierte Anweisungen mehr helfen als große Freiheitsräume. Menschen sind verschieden. - Ziel ist es, dass Servant Leadership die Gemeindekultur prägt.
Dienende Leitung strahlt aus. Sie übersteigt die Beziehung zweier Menschen und verändert eine Gemeinde. So wird „Leitung als Dienst“ zum Teil der kirchlichen DNA. In der Tat zeigen Untersuchungen: Dienen steckt an. Dass liegt in dem Grundbedürfnis von Menschen begründet, sich reziprok zu verhalten. Wem ein Gefallen getan wurde, der möchte instinktiv „etwas zurückgeben“. So kann eine Gemeinde zu einem Ort des wechselseitigen Dienstes werden, was weit über die Gemeindegrenzen ausstrahlt. Eine solche von Dienst geprägte Gemeinde, die die Potentiale in Menschen zur Entfaltung bringt, ist potentiell attraktiv für meinen Freund aus dem ICE.
Der schmerzliche Realitätscheck
Doch seien wir ehrlich! Obwohl wir all das wissen, sieht es in den Niederungen des Alltags anders aus. Servant Leadership klingt in mancher Gemeinde wie ein kitschiges Märchen aus einer fremden Welt. Vor einigen Wochen hatte ich in meinem Amtszimmer ein ernstes Gespräch mit einer Ehrenamtlichen. Was diese Frau beschäftigte: Sie wird nicht wertgeschätzt. Überall sei das zu spüren. Termine werden so gelegt, dass nur die Pastoren Zeit haben.
Das ist meine Realität: Eigentlich liebe ich Servant Leadership und doch ist der pastorale Alltag das Gegenteil. Menschen stark zu machen, kostet Zeit und oft habe ich sie nicht. Oder ehrlicher: Andere Dinge sind mir wichtiger. Ich bin mir wichtiger.
Das ist die Realität der Sünde. Wir sind nicht die Diener, die wir nach Gottes Wort sein sollten. Die Sünde kann sogar den Grundgedanken von Servant Leadership pervertieren. Aus Dienst kann ein Instrument von Macht und Kontrolle werden. Der Grund ist die Reziprozität. Menschen wollen Gefallen erwidern. Das kann leicht missbraucht werden. Da ist jemand, der sich aufopfert und mit einem leidenden Gesichtsausdruck sagt: „Schon ok. Ich mache das gerne.“ Bei einem selbst bleibt nur ein schlechtes Gefühl zurück und der Impuls, nun selbst irgendetwas tun zu müssen. Dienst als Macht. Perfide Dynamiken, die sich auch in Gemeinden abspielen.
Deswegen sitzt das Herz von Servant Leadership ganz woanders. Wenn die Bibel über dienende Leitung spricht, dann geht es im Kern nicht um unser Dienen, sondern um die gute Nachricht, dass wir einen Diener haben. „Denn der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.“ (Mk 10,45).
Der entscheidende Dienst ist bereits getan. Er wurde vollbracht durch das Leiden und Sterben von Jesus Christus. Jesus stirbt für versagende Gemeindeleiter. Er trägt unsere Schuld, wo wir anderen vieles schuldig geblieben sind. An seinen Händen trägt er unsere Narben. Es sind die grausamen Spuren, die verletzende Worte hinter verschlossenen Gemeindehaustüren hinterlassen haben. Er zahlt das Lösegeld. Sind wir gefangen in der Sünde, verstrickt in als Dienst getarnten manipulativen Machtspielen, kauft er uns frei. Am Ende brauche ich Jesus nicht wegen meiner Selbstentwicklung, sondern wegen seiner Vergebung.
Hier schlägt das Herz von Servant Leadership. Der niederste Dienst wurde bereits durch Jesus vollbracht. Steht das im Mittelpunkt, fängt dienende Leitung als Furcht auf eine natürliche Art und Weise an zu wachsen.