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„Vor Ort lebt Kirche“ (VOlK)

Verantwortung von Laien für das Leben der Kirche vor Ort – ein Projekt des Bistums Magdeburg

Klaus Tilly berichtete zusammen mit Julia Modest, Gemeindereferentin und Begleiterin eines VOlK-Teams, beim <link ausgabe-1-2018 termine-berichte vernetzungstreffen-ehrenamt>Vernetzungstreffen Ehrenamt 2018 von den Erfahrungen von und mit Ehrenamtlichen in Gemeindeleitung im Bis­tum Magdeburg. Hier wird nun ein Überblick zum VOlK-Projekt und den zugrundeliegenden Haltungen geboten sowie Versuche der spirituellen Praxis werden dargestellt.

VOlK bedeutet „Vor Ort lebt Kirche“. Dieses Projekt...

  • ist eine Möglichkeit zur Entwicklung von Gemeinden,
  • meint eher eine Haltung denn eine feste Struktur,
  • möchte eine Form geistlichen Lebens sein,
  • blickt auf die örtliche Realität gerade neben Kirche und katholischer Gemeinde (und sucht dafür Partner).

Wichtig ist dabei, dass der Ansatz von VOlK keine Zugehörigkeit zum Projekt selbst braucht, sondern im Bistum Magdeburg in unterschied­licher Weise verwirklicht wird. Manchmal verwirklicht sich das, was mit der Idee des VOlK-Projekts verbunden ist, auch dort, wo es formal nicht so benannt wird, z. B. im Kreis von Wort-Gottes-Feier-Leiter/​innen, in den Ortsausschüssen des Pfarrgemeinderats oder bei einzelnen enga­gierten Menschen am Ort. Zu Fortbildungen des VOlK-Projektes sind so beispielsweise alle an einer lokalen Kirchenentwicklung Interessierten eingeladen und bringen dort ihre Projekte und Erfahrungen mit ein. Gerade an diesen Fortbildungen nehmen deutlich mehr Teams aus Pfar­reien teil, die nicht formal zum VOlK-Projekt gehören. Von grundlegen­der Bedeutung ist das Motto von Bischof Gerhard Feige für die Realität von Kirche in Gesellschaft: schöpferische Minderheit sein (vgl. Feige 2018). Der Rahmen für die VOlK-Arbeit zeigt dabei, wie Kirche in dieser Minderheit leben kann.

Die Ausgangslage

Die Ausgangslage für das VOlK-Projekt ist im Bistum Magdeburg sicher nicht anders als die zumindest im mitteldeutschen Raum vertraute Rea­lität. Hier wäre zunächst die geringer werdende Zahl von pastoralen Mitarbeiter/​innen zu nennen. Dies hat zur Folge, dass diese vor Ort nicht dauernd präsent sind und in ihre Zuständigkeit zudem größere Räume oder auch kategoriale Aufgaben fallen.

Im Blick auf die Geschichte des VOlK-Projekts stechen besonders fol­gende Ereignisse heraus: die Vorstellung der „Pastoralequipen“ aus dem Bistum Châlons im Rahmen der Magdeburger Bistumswallfahrt 2007; die Gründung von 44 Pfarreien aus 180 Seelsorgestellen im Jahr 2010 und die im Jahr 2015 deutlich werdende Realität, dass in Zukunft nicht mehr jede Pfarrei mit einem eigenen Pfarrer besetzt werden kann. Daraus ergab sich die Frage, ob die pastoralen Räume noch weiter angepasst, d. h. vergrößert werden sollten. Doch dies hätte zur Folge gehabt, dass a) die Kirche vor Ort geschwächt wird, da sie von Überschaubarkeit und zwi­schenmenschlicher Nähe lebt, und b) Priester v. a. in die Rolle als „Funktionär“ und „Organisator“ gedrängt würden.

So formulierte Bischof Gerhard Feige in seinen ZukunftsbildernAspekte, die für den VOlK-Ansatz grundlegend sind:

„Wir geben die Fläche nicht auf.“

„Wir suchen neue (kollegiale) Leitungsformen.“

„Die kollegiale Verantwortung braucht neue Leitungsformen für Pfarreien.“

„Wir sind aufmerksam für Charismen in unseren Gemeinden.“

„Wir nehmen Menschen in unserer Umgebung wahr.“

„Das Leben in Gemeinden = an konkreten Lebensorten lässt Menschen auf ihren Glaubenswegen wachsen.“

Anlass für das VOlK-Projekt war also Erfahrung einer Not. VOlK ist aber keine „Notlösung“, sondern ein Beitrag zur Entwicklung einer künftigen Gestalt von Kirche.

Der spirituelle Ansatz

VOlK wäre falsch verstanden, würde man es als Modell zum Funktio­nieren eines schwachen „Organismus Gemeinde“ zu nutzen versuchen, quasi als „Beatmungsmaschine“. Es ist vielmehr als Inkarnation des Atems Gottes zu verstehen, der Kirche vor Ort lebendig hält. So ist VOlK letztlich ein geistlicher Weg, für den es einen Blickwechsel bei den Hal­tungen der VOlK-Teams braucht und den es immer wieder neu einzuüben gilt. Das geschieht überall dort, wo Menschen einen geistlichen Weg gehen wollen: Wenn viele Menschen diesen mitgehen und an der Verantwortung für Kirche beteiligt werden sollen, braucht es einen Blickwechsel in der Pastoral. Ein solcher geistlicher oder spiritueller Weg bekommt für jede/n Getaufte/n eine konkrete Gestalt, wenn für sie/​ihn Jesus Christus in der Mitte der persönlichen Beziehungen steht. Das soll auch die Haltung der VOlK-Teams prägen und sie vor reinem Aktionismus (Funktionieren) bewahren.

Theologische Grundsätze

Das VOlK-Projekt fußt auf verschiedenen theologischen Grundsätzen:

  • So sind wir aus missionswissenschaftlicher Perspektive davon über­zeugt, dass Gott schon da ist, bevor Kirche oder jemand von Kirche in einer konkreten Lebenswirklichkeit von Menschen ankommt. Der Auftrag von Getauften ist es so (nur), eben diesen Gott dort zu bezeu­gen und das Leben dort zu deuten. Das bedeutet, dass sich unser „In-der-Welt-Sein“ und auch unser „Kirche-Sein“ allein dem Handeln Gottes verdankt.
  • Ekklesiologisch betrachtet verwirklicht sich Kirche überall dort, wo Getaufte ihren Glauben (wie auch immer) lebendig halten.
  • Spiritualität wird dann erfahrbar, wenn in der Gestaltung des eigenen Lebens Jesus Christus im Mittelpunkt der persönlichen Beziehungen steht, aber auch dort, wo Christus im Gesicht des anderen erkannt wird.
  • Die konkrete Gemeinde betrachten wir als familia Dei (Medard Kehl).

VOlK gründet so insgesamt in der konkreten lokalen Realität, in den Be­ziehungen, die Menschen an einem Wohnort haben oder suchen, und im Auftrag aus der Taufe, den Anteil am Priestersein/​Königsein/​Pro­phetsein zu verwirklichen und den Menschen im sozialen Umfeld damit zu dienen. So realisiert sich das Kirchenbild des Zweiten Vatikanischen Konzils.

Grundvollzüge und Haltungen

VOlK-Gemeinden leben die kirchlichen Grundvollzüge (leiturgia, mar­tyria, diakonia) aus der Verbundenheit mit Christus (mysterium), im Eins-Sein mit ihm, untereinander, mit der ganzen Kirche (koinonia), in der Teilnahme an Trauer und Angst, Freude und Hoffnung der Men­schen am Ort, zu denen sie sich gesandt wissen (missio), im Mühen um ein Wachstum des Glaubens und in der Vielfalt der ihnen geschenkten Charismen.

Dafür sind bestimmte Haltungen notwendig, die den nötigen Blick­wechsel für das konkrete Hinsehen und Handeln in der örtlichen Reali­tät einüben, zugleich aber auch einen Paradigmenwechsel im Blick auf eine neue Gestalt von Pfarrei und Kirche anzeigen. Konkret handelt es sich um:

  • Die Haltung „Vom Mangel zum Vertrauen“:Nicht der Glaube verduns­tet, sondern eine bestimmte und gewohnte Gestalt des Glaubens. Aber eine neue Gestalt ist schon dabei heranzuwachsen. Hier wurde ein Wort des Propheten Jesaja für uns prägend: „Seht her, nun mache ich etwas Neues. Schon kommt es zum Vorschein, merkt ihr es nicht?“ (Jes 43,19).
  • Die Haltung „Von der Versorgung zur geistlichen Begleitung“:Damit Menschen ihre Berufung entdecken und aus ihr leben.
  • Die Haltung „Aus der Taufwürde Verantwortung übernehmen“:Dies ändert die Rolle vom reinen Zuhörer, Teilnehmer, Helfer zum mün­digen Gestalter des eigenen und geteilten Lebens.
  • Die Haltung „Vom Lückenfüllen zum Leben der Charismen“: Die Über­nahme und Verteilung von Aufgaben tritt zurück. Charismen müssen erst entdeckt werden und Menschen brauchen Ermutigung, diese einzubringen. Dabei kann Bisheriges auch enden (Sterbekultur).
  • Die Haltung „Lebendige Kirche ist die kleine Zelle“: Eben dort gelingt geistliches Leben in den persönlichen Vollzügen. Kirche-Sein hängt nicht an Hauptamt, Beauftragten oder Gremien.
  • Die Haltung „Da sein für die Menschen des Ortes“: Wir wollen nicht nur auf die „eigenen Leute“ schauen und ihnen Gutes tun und das Heil verkünden, sondern im Blick auf Bedarfe am Ort (auch von Menschen am Rande) verwirklicht sich diakonisches Handeln der Kirche.
  • Die Haltung „Ökumenischer Ansatz“:Wo immer es möglich ist, wollen wir ökumenisch arbeiten.

Konkretionen

Jedes VOlK-Projekt wird natürlich unterstützt und begleitet. So enga­gieren sich im Fachbereich Pastoral der Referent für Pastoral in Pfar­reien und der Referent für pastorale Schwerpunkte im Bistum, die Gemeindeberatung, Pfarrer und die Gemeindereferent/​innen, die zugleich auch VOlK-Begleiter/​innen sind. Sie reflektieren mit den jeweiligen Teams die konkreten Entwicklungen und unterstützen vor Ort Projekte. Auch die Qualifizierung von Laien in neuen pastoralen Feldern wird hier mitgestaltet. In diesem Kontext wurde eine Fortbil­dungsreihe für (komplette) Pastoralteams, die sich auf neue Wege begeben, unter dem Titel „Verantwortung hat viele Gesichter“ initiiert.

Das VOlK-Projekt lebt in Verbundenheit mit Pfarrei und Bistum, geht dabei einen geistlichen Weg und geschieht grundsätzlich im Team. Diese VOlK-Teams geben der Kirche am Ort ein Gesicht und motivieren zum geistlichen Leben (in Kleinheit). Sie sind Anwalt der kirchlichen Grundvollzüge und haben einen wachen Blick für Bedarfe der Menschen am Ort (vor allem in der kommunalen Gemeinde). Dies fördert auch die Charismen der Teamer. Dort, wo Priester ausfallen, übernimmt aber kein Laie die vakante Klerikerfunktion, um nicht der Gefahr eines „Neoklerikalismus“ zu verfallen. Vielmehr machen VOlK-Teams nicht alles selbst, sondern rufen Menschen am Ort mit ihren Charismen in den Dienst, ohne bei all dem die Grenzen des Möglichen aus dem Blick zu verlieren.

Wie bereits beschrieben, waren konkrete Erfahrungen einer Not oft der Anlass eines VOlK-Projekts, auch wenn VOlK keine „Notlösung“, son­dern ein Beitrag zur Entwicklung einer künftigen Gestalt von Kirche ist. Diese Erfahrungen waren z. B. „Lücken“ nach dem Ende der hauptamt­lichen Präsenz der pastoralen Mitarbeiter vor Ort wie der Wegfall von regelmäßigen Eucharistie- oder Wortgottesdienstfeiern. In der Sorge, dass „ihre Kirche“ geschlossen werden und Angebote im Gemeinde­leben entfallen könnten, suchten Betroffene neue Wege und entdeckten so Schritt für Schritt vielfältige neue Ansätze im Gemeindeleben:

  • Charismen: Um eigene Ideen und mögliche Verwirklichung angefragt, meldeten sich plötzlich „U‑Boot-Christen“ für die VOlK-Aufgabe. In enstehenden Teams wurden Aufgaben nach Charismen und Kairos aufgegriffen. Zusätzlich wurden auch am Ort Menschen mit Bega­bungen angesprochen, die mit Stolz konkrete Dienste übernahmen.
  • (Geistliche) Rituale und feste Orte geben Halt: Damit das liturgische Leben am Ort lebendig erhalten werden kann, wuchs das Verständ­nis, dass Christus auch im Wort präsent ist, und damit auch die Be­deutung der Wortgottesdienstfeiern. So pflegen die Gemeindemit­glieder heute auch bei liturgischen Feiern, die von Hauptamtlichen verantwortet werden, im Anschluss „ihre“ Gebetstradition.
  • Zeugen für den Glauben sein:Bei Kirchenführungen, Ausstellungen, Schülertagen erzählen VOlK-Teamer von ihrem Glaubensleben und ihrer Verbindung zu Kirche. Beispielsweise finden nun nach ersten Kontakten zur kommunalen Grundschule thematische Schülertage in der Kirche für komplette Jahrgänge statt. Ein festes Element ist dabei die Segnung der Kinder durch VOlK-Teamer.
  • Räume öffnen: Eine Stadt lädt zu diversen „kirchlichen“ Anlässen ein. Der Gastgeber für einen Veranstaltungsort ist vermehrt die VOlK-Ge­meinde und öffnet dafür auch ihren Kirchenraum, z. B. für das Mar­tinsfest, den Martinimarkt, das Mittelalterspektakel und das Ernte­dankfest. Trotz des Mehraufwands (Aufräumen, Reinigen etc.) erlebt das Team den Mehrwert ihrer Gastgeberrolle.
  • Einübung einer entsprechenden Haltung: Dafür wurde z. B. ein Ritus für das „Wort Gottes“ etabliert.
  • Feiern einer selbst verantworteten Liturgie: Es braucht verlässliche Orte für Eucharistie und tägliche Gebetszeiten.
  • Besuchsdienst und Sterbebegleitung: Der Besuchsdienst wagte zuneh­mend auch, sich in der Begleitung von Sterbenden zu engagieren. Dafür wurde in einer Pfarrei ein Ritual „Sterbesegen“ entwickelt. Aus dieser Erfahrung heraus fanden sich auch Christ/​innen, die sich für die Leitung von Beerdigungsdiensten zur Verfügung stellten.
  • Andere Orte von Kirche in den Blick nehmen: Nachdem an einem Ort die Christmette entfallen war, wird seitdem im dortigen Pflegeheim am Nachmittag ein Krippenspiel gefeiert, das nicht nur bei nicht-mobilen Menschen großes Interesse und Anklang findet.